Ich wachte auf. Ruhig. Ich horchte in mich. Eine Ruhe, der ich misstraute, denn es gab keinen Grund für sie. Wenn die Rastlosigkeit vorher einen Grund gehabt hatte, dann war er nicht beseitigt. Doch das war jetzt unwichtig. Ich konnte atmen, ich konnte mich strecken. Ich konnte in die Kastanie blinzeln und mich zur Seite drehen, um in der Ferne spielende Kinder und Hunde zu beobachten. In noch weiterer Ferne konnte ich die Straße erkennen, an den Fahrzeugen, die sich zwischen den Bäumen hindurchschoben; die Weite dämpfte ihre Schnelligkeit und ihren Lärm. – Ich atmete tief durch.
Dem Leben wiedergeschenkt und mir das Leben wiedergeschenkt, nicht unbedroht, aber erträglich. Wieder da: Berlin, Sonnabend, der elfte Juli, nachmittags. Der Himmel hatte sich bezogen, es war kühler geworden. Ich stand auf, klopfte mir Hemd und Hose ab und kreuzte die Grünfläche. Ein bisschen wirr im Kopf von Alkohol und Hunger.
Ich kaufte mir eine einfache Pizza ohne Firlefanz und spülte das trockene Zeug mit Cola runter. Dann ging ich los, ein Nackter, der im Winter in die Brandung springt. Ich lief, bis ich den Massenstrom in Richtung Brandenburger Tor erreicht hatte. Dass die große Parade schon vorbei war, störte mich nicht. Dann hatte ich eben den Umzug verpennt. Na und? Das habe ich als Neunjähriger beim DDR-Jubiläum schon genauso gemacht, natürlich nicht auf der Tribüne mit den Stützen der (damaligen) Gesellschaft, sondern vor dem Fernsehapparat mit meinen ergriffenen Eltern.
Es gab ja auch hier, ‚Unter den Linden‘ in der Mitte von ‚Stadtmitte‘, noch genug, um sich ausgeschlossen zu fühlen: das unaufhörliche Trillern der kleinen Pfeifen in besessenen Mündern, winzige, bösartige Urwaldvögel allüberall, die aus messerscharfen Kehlen ihre feindseligen Laute in die Luft schnellten, mal regellos, mal verdichtet zu dem aufkäschernden Rhythmus: dab-dab-dadada-dab. Immer wieder: dab-dab-dadada-dab, dab-dab-dadada-dab, eine Walze, die alles platt macht. Auf den Bänken des Mittelstreifens, rechts und links, schliefen schon ein paar Erschöpfte unter abgeblühten Linden gegen das Gellen an. Dunkle Voodoo-Trommeln mischten sich unter die peitschenden Trillerpfeifen, um im Verborgeneren Lüste zu wecken. Auf je zehn Raver kam ein Verkäufer: Dosen, gestapelt, aus Kartons gerissen, gierig ausgesogen und zerbeult in den Rinnstein geworfen.
Uniformmützen, Orden, heroischer Ramsch aus vergangenen Tagen, Handschellen, Schmuck, Eis – alles zu kaufen, Geld gegen Spaß. Gelb, rot, schwarz: die Haare. Gelb, rot, schwarz: die Gesichter. Alles ist Ulk, alles ist wahr – alles ist alles.
‚One World – One Future‘ – das optimistische Motto dieses Tages. Der 11. Juli 1998. Berlin ist die angesagteste Stadt der Welt, heute. Berlin ist befreit, endlich. Loveparade – das Gegenteil von Erster-Mai-Parade: kein verordneter, disziplinierter Jubel, sondern gestattete, gestaltete Ausgelassenheit. Berlin ist im Aufbau, der Potsdamer Platz ist bald fertig, Berlin ist Party, Berlin ist Leben. ‚Wir glauben an die Gleichheit von uns allen. Die Zukunft: Sie liegt uns zu Füßen unter unserem Festwagen und sie schwebt über uns am Himmel. Wir machen etwas aus ihr und wir machen etwas aus uns. Logisch!‘ Das dachten sie wohl, falls sie dachten. Was würde aus solcher Zuversicht im neuen Jahrtausend wohl werden?
Auf je tausend Ausgelassene kam ein Pflichtbewusster, der sich von all dem Fun nicht davon abhalten ließ, das Notwendigste über Handy abzuwickeln: „Hallo, hörst du mich? Ich bin auf der Loveparade. Geile Stimmung hier, echt. Sag mal, kannst du mir vielleicht … Was? Ich versteh’ dich nicht. Ich ruf noch mal an.“
Vor dem Hotel ‚Adlon‘ eine Absperrung. Im Eingang stämmige Männer mit grauen Gesichtern und weinroten Bindern. Sie müssen Hausgäste verbindlich durchlassen und Volk aggressionslos abweisen. Das gelingt am besten mit einem Gesichtsausdruck, nüchtern wie ein Computerausdruck.
Drahtgezäun um die Beete am Pariser Platz, damit die Fleißigen Lieschen nicht von den Müßigen Gängern zertrampelt werden. Ein krachfarbener Menschenbach fließt träge in seinem Bett, wälzt sich durch das Brandenburger Tor, am Ufer winken Laugenbrezeln, Grillwürste rösten wie ausgepellte Schwänze auf den Grillanlagen, ausgepellte Schwänze pinkeln in die Grünanlagen. Dab-dab-dadada-dab. Dieser bohrende Rhythmus. Gefangen im Sound und im Gesträuch des Tiergartens. Überall Barrieren. Ein Gefängnishof, bedrohlich bewacht; nicht wieder Panik hochsteigen lassen! Ich winde mich aus der grünen Sackgasse zurück auf die Straße des 17. Juni. Das sowjetische Ehrenmal in Marihuanaschwaden und Qualm aus verkochtem Fett. Der Soldat auf dem Sockel macht dazu ein Gesicht wie ein entleerter Aschenbecher.
Tanzen. Mittanzen? Sich rhythmisch bewegen, die Menschen sind die Melodie, die Bässe sind die Knute. Plateausohlen auf Konfetti. Eine kleine Demo: ‚Dem Pessimismus eine Chance‘ auf weißem Spruchband – lustig. Wer nicht jung ist, sieht alt aus. Ich bin jung. Also?
Sie sitzen auf dem Dach des Klo-Wagens und hämmern mit den Hacken gegen das Blech: dab-dab-dadada-dab, DAB-DAB-DADADA-DAB. Grölen ist Glück. Feiern ist Fressen, Bewegung ist Stillstand: Ruckeln auf dem Fleck. Sextanz, Tanzsex. Haarfarbe trieft durch bemalte Gesichter. Alles, was nicht echt ist, zerläuft in gepiercten Fratzen. Techno im Kopf, Ring im Kinn. Ringe in Lippen, Nasen, Ohren. Ring aus Eis um meinen Kopf. Loveparade, Kostümparade. Parade der anderen. Wertfrei, gesinnungsfrei – frei! Der Tiergarten ist die Welt, sonst nichts. In Bosnien herrscht Krieg, in Äthiopien auch. Seit Mittwoch hat Ungarn einen Neuen: Viktor Orbán. Wen interessiert das? Heute ist Samstag, wir feiern. Harmlose Spukgestalten, die mir wehtun: Ich gehöre nicht zu euch, ich teile nicht mit euch. – Warum nicht?
Noch eben war ich nicht von euch zu unterscheiden
und bin es auch im Spiegel nach wie vor noch nicht.
Und doch – ein Typ teilt an die Typen bunte Zettel aus,
mir gibt er keinen. Ich gehöre nicht dazu.
Ich bin kein Typ, und mein Typ bin ich lange schon nicht mehr.
Ich zwinge mich nicht länger. Ich verschwinde.
Das Geld würde für die Rückfahrkarte reichen: Schmalkalden in Thüringen. Das besorgte Gesicht meiner Mutter, das triumphierende meines Vaters. Das Geld würde auch für genügend Stoff reichen, um die Nacht zu überstehen, aber das wollte ich nicht. Sicher ist es besser, beim Fixen zu krepieren, als überhaupt nicht gelebt zu haben. Selbst wenn man an die Endphase denkt: irgendwo im Klo verrecken. Aber vorher Träume und Einsichten, Zustände, von denen sich kein Mensch einen Begriff machen kann. Diese paar Erlebnisse sind alles wert und wiegen alles auf, was nachher kommt. Das pure Übermaß: höchste Befriedigung – tödliches Elend. War das nicht eine lebenswerte Mischung? Lebenswerter als alles, was sonst an mich heranschwappte? Ecstasy. Rausch aus dem Reagenzglas. Wenn schon! Der Kopf ist doch sowieso ein durchgeknalltes biochemisches Labor. Aber vielleicht ging es auch anders. Nur wie?
Das Zeichnen führte zu nichts, außer zu Bildern. Das Leben führte zu nichts, außer zum Altwerden. Die wenigen Mädchen, mit denen ich geschlafen hatte, hatten mir nicht viel bedeutet, oder zumindest hatte es mir nicht viel bedeutet, mit ihnen zu schlafen. Wichsen war schöner.
Sich die Wildnis vorstellen: Cowboys auf Pferden, Schwarze zwischen Lianen oder allein in unwegsamem Dickicht, eine Höhle, abgeschieden, niemandem verantwortlich als Gott.
Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Viorel Sima (Mann von hinten), Pavel Litvinsky (Flaggen) | vchal (feiernde Menge)
Vielleicht muss das sogar heißen: niemandem verantwortlich, nicht mal Gott.
Das macht Sinn wenn man Atheist ist. Aber so wie ich das bisher verstehe, wäre das nicht sonderlich hilfreich für den Fortgang dieser Erzählung.
Und der Icherzähler ist offenbar gläubig.
1998 und Berlin war die angesagteste Stadt der Welt. Wie sieht das eigentlich heute unter den Jugendlichen aus? Man hört ja immer wieder, dass andere Städte ablösen sollen. So richtig überzeugend funktioniert hat das bisher aber nicht, oder?
Das ist doch sowieso super subjektiv. Da wird jeder eine andere Meinung und sicher auch seine eigenen Vorlieben haben.
Ist doch auch gut so. Sonst gäbe es noch größere Wohnungsnot als es eh schon der Fall ist.
London, Paris, New York, Amsterdam – wo ich die schönsten Erlebnisse mit den nettesten Menschen habe, da ist der Mittelpunkt meiner Welt, und sei es in Husum.
So ähnlich hätte ich das wahrscheinlich auch formuliert. Es liegt ja wirklich hauptsächlich an den Menschen und Erlebnissen, die man mit einer Stadt verbindet. Natürlich ist NYC spannender als Duisburg. Aber meine Lieblingsstädte sind trotzdem immer mit vielen Geschichten verbunden.
Ob es für Duisburg bei genügend positiven Erlebnissen trotzdem mal zur Lieblingsstadt reicht? Hahaha
Für jemanden aus Pjöngjang?
Ich musste kurz staunen, dass Orbán schon seit 1998 an der Macht ist. Da kann ja nicht mal Angela Merkel mithalten.
Er hatte allerdings von 2002 bis 2010 Amtspause
Und er ist seither sehr viel weniger erträglich.
So richtig viel Gegenwehr bekommt er ja auch nicht. Oder zumindest würde ich mir die Reaktion der EU öfters mal weitaus härter wünschen.
Die EU ist ja auch zahm gegenüber Polen: die Werte verraten und Milliarden kassieren wird schmollend geduldet.
Das wird sich nach diesem Gerichtsurteil ja wohlmöglich bald ändern. Richtig wäre das bestimmt.
Und dann gibt es nach dem Brexit gleich noch den Polexit? Na super.
Nein. Die Polen wollen bleiben. Und rausschmeißen kann man sie nicht.
Wollen sie das wirklich? Also die polnische Regierung, nicht unbedingt die Mehrheit der Einwohner?
Kostümparade, hahaha! So kann man das nennen. Am Ende unterscheiden sich Loveparade, Karnevalsumzug und CSD ja noch nur in ihren Kostümen und in der Musik. Das Prinzip ist ja letztlich doch immer dasselbe.
Nun ja, Spaß wollen sie wohl alle haben. Aber die Art und Weise ist wohl schon verschieden.
Früher war das so. Heute ist das doch alles ein ähnlicher Klamauk.
Hmmm, meine Eltern sind riesige Karnevalsfans, aber auf der Loveparade könnte ich sie mir trotzdem nicht vorstellen.
Ich habe meine Mutter 1982 mitgenommen auf den Christopher Street Day vor Ort in New York. Das anschließende Essen im Blue Train hat ihr besser gefallen. Seit 2018 ist der Zug geschlossen.
Manchmal muss man sich einfach damit abfinden, dass das Leben zu nichts führt. Dann kann man recht entspannt sein Ding durchziehen.
Das ist im Alter leichter als in der Jugend, die nicht als besonders entspannter Lebensabschnitt gilt.
Der Druck auf die Jugend wird ja auch immer größer. Man. muss sich schon als Jugendlicher möglichst gut verkaufen. Durch die sozialen Medien wird dann zusätzlich vorgegaukelt wie perfekt alles ist. Und irgendwann kommt es zum großen Zusammenbruch.
Dass das Leben zu nichts führt ist ja auch eine ziemlich deprimierende Perspektive für einen jungen Menschen…
Das Leben führ immer zu etwas. Zum Tod sowieso. Schön, sich, kurz bevor man Leiche ist, noch sagen zu können: Ich hab was draus gemacht!
Zum Glück muss man ja nicht unbedingt sein eigener Typ sein.
Nicht in sexueller Hinsicht. Aber man sollte sich grundsätzlich schon leiden können. Sonst wird es auch schwierig.
Wenn der Masochist seinen Nächsten liebt wie sich selbst, möchte man vielleicht lieber der Übernächste sein.
Hahahaha
Es gibt ja zum Glück noch einige Abstufungen zwischen „beim Fixen zu krepieren“ und „überhaupt nicht gelebt zu haben“.
Klar. Nur kommt es eben darauf an, wie nah man bei der Endauswertung beim jeweiligen Extrem landet.
In der Jugend sind solche Gedankenspiele wichtig. Sie helfen beim Ausloten der Abstufungen für die zukünftige Lebensweise.
Es braucht eben ab und zu auch den Populismus (oder anders gesagt solche Extreme). Das hilft ja nicht nur in der Jugend. Es verdeutlicht die Positionen und man kann sich von dort in die gewählte Richtung bewegen.