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06 – Ein Eremit

Utensilien | 11

Ich wachte auf und presste mich an ihn.
––„Bitte, bitte“, sagte er, „lass mir ein kleines bisschen Luft!“
––Widerwillig verringerte ich den Druck meiner Arme ein wenig.
––„Du brauchst übrigens keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich habe den Aids-Test gerade nochmal gemacht.“
––Ich hatte keine Angst, ich hatte daran gar nicht gedacht.

Wir standen auf. Er machte Frühstück.
––„Was war das für eine Verabredung, die du gestern Abend hattest?“, fragte ich.
––„Ich habe sie abgesagt.“
––Wir tranken Kaffee und aßen Toast.
––„Es ist schon nach zehn“, sagte er. „Ich werde heute bis sieben oder acht fahren müssen.“
––Ich nickte. „Hast du einen Schlüssel, den du mir dalassen kannst, dann könnte ich vielleicht etwas zu essen besorgen und überhaupt mal vor die Tür gehen.“
––Er stand auf und brachte mir ein Schlüsselbund. „Der ist für die Haustür, der ist für hier oben.“ Er beugte sich zu mir und küsste mich.
––Ich stand während des Kusses auf und umschlang ihn mit meinen Armen.
––„Es war schön mit dir“, sagte er.
––Ich küsste ihn noch einmal ins Gesicht, und er ging.

Was anfangen an einem Tag ohne ihn? Wie es überstehen, das Fehlen seiner Gegenwart, seiner Nähe wenigstens? Und doch: Wie erfüllt von ihm! Die Luft, die seinen Atem kennt, der Boden, den seine Füße berührt haben. Das Bett, vor allem das Bett, auf dem er, auf dem wir gelegen haben.
––Ich strich mit den Fingern über das Laken. Meine Zunge war in seinem Ohr gewesen. Sie hatte in seine Nasenlöcher getastet, keine Stelle seines Körpers, den meine Hände nicht gefühlt hätten. Ein nicht enden wollender Rausch, der doch nur Sehnsucht war, nicht Erfüllung.
––Ich ging ins Badezimmer, um mir die Hände zu waschen. Honig vom Frühstück, Honig der Nacht. Ob alle Schwulen so schöne Bäder haben? Es standen viel mehr Tiegel, Flaschen und Töpfe herum als bei meinen Eltern. Alles sah reich und gepflegt aus. Aber nicht ordentlich. Da würde ich auch noch Beschäftigung haben für den Tag. Mein Blick fiel auf den Wäschekorb. Er war hoch und rund. Es überkam mich so heiß, dass ich zu zittern begann. Ich zerrte den Wäschekorb unter dem Waschbecken hervor und schleppte ihn ins Zimmer. Dort stülpte ich ihn um und sortierte in fiebriger Hast. Die Hemden für sich, die Socken für sich, die Slips für sich. Alles andere raffte ich zusammen und warf es zurück in den Korb. Dann kauerte ich mich nieder. Ich fing mit den Hemden an. Ich strich sie über mein Gesicht, ich fuhr mit den Lippen über den Kragen, und dann kamen die Achselhöhlen dran. Ich drückte meine Nase in die Stelle, in der Hoffnung, seinen Schweiß zu riechen, ich leckte mit der Zunge darüber, ich stopfte sie mir in den Mund, Hemd für Hemd. Dann die Socken. Ich drückte sie mir so tief in den Hals, bis ich würgen musste und kaute auf ihnen herum. Als Letztes die Slips. Gierig suchte ich nach Urinflecken. Ich presste meine Nase in den Stoff, ich stülpte sie mir über den Kopf, ich fuhr mit meiner Zunge die Nähte entlang, und dann zum Schluss nahm ich sie ganz in den Mund, jeden Einzelnen. So wollte ich weiterleben. Seine Unterhose am Gaumen, zwischen den Zähnen, jeden Tropfen, jede Faser, die seine Haut berührt hatte, aussaugen, mir einverleiben. – Er muss seine Slips länger tragen, wochenlang. Und dann muss er sie mir in den Mund stopfen. Er selbst muss es tun. – Ich ächzte und stöhnte. Mein Schwanz rieb hart gegen meine Jeans. Nur nicht kommen! Mein ganzer Saft ist für ihn. Nichts ist für mich. Essen verdirbt den Appetit.

Ich weiß nicht, wann ich wieder zur Besinnung kam. Irgendwann. Ich war verwirrt, aber nicht beschämt. So ruhig wie möglich räumte ich die Wäsche zurück in den Korb und ordnete die Flaschen im Badezimmer. Dann brachte ich die Küche in Ordnung und kaufte etwas zu essen ein für den Abend, in einem Lebensmittelgeschäft zwei Ecken weiter. Ich kam mir fremd vor auf der Straße, als sei ich plötzlich in die Mongolei verschlagen worden, und ich war froh, als ich wieder in der Wohnung war.

Ich ging in die Kammer, um meinen Rucksack auszupacken. Vielleicht hatten die Sachen in dem Schrank Platz. Er war verschlossen, aber der Schlüssel steckte. Ich öffnete.
––Ein Vorgefühl kommender Lüste und Schmerzen. Da lagen Ketten und Handschellen. Masken und Kleidung aus schwarzem Leder.
––Ich sah Peitschen und ein schwarzes Gummituch. Erschrocken machte ich den Schrank wieder zu. – Ist es das, was er mag?
––Ein würgendes Gefühl packte mich. Es waren Hass, Ekel und Eifersucht.
––Ich heulte stundenlang vor Enttäuschung und Verzweiflung. Was hatte er alles schon getan, woran ich keinen Anteil gehabt hatte? Ich wollte alles von ihm, alles. Auch das Verächtlichste und Gemeinste – das gerade.

Wenn es keine Liebe gab und keine Zärtlichkeit, dann sollte es der brutalste Sex sein. Das war etwas, woran man sich halten konnte. Fleisch und Blut. Unser Fleisch, unser Blut. O Gott, hilf mir! Christus. Welche Religion ist das? Deine? Meine? Unsere?

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Estrada Anton (Mann), Red Moccasin (Unterhemd)
, 7th Son Studio (Unterhose), Craft Yard (Socke), Christian Mueller (2, Hintergrund) | ADragan (Peitsche), Mickael Guyot (Seil), IhorL (Handschellen)


Hanno Rinke Rundbrief

33 Kommentare zu “Utensilien | 11

  1. Uff, da sieht man also gleich wieder was für seltsame Ideen die Religion den Menschen einpflanzt. Ziemlich erschreckendes Beispiel würde ich sagen.

    1. Ich glaube aber schon, dass Johannes ein besonderer Fall ist. Das kann man so ja nicht einfach auf ‚die Religion‘ übertragen.

      1. Verallgemeinerungen sind ja selten aussagekräftig. Aber dass die Religion einen in so einem Maße beeinflusst, das erscheint mir ebenfalls nicht die Regel zu sein.

  2. Dass man solche Utensilien zuhause im Schrank liegen hat muss übrigens nicht heißen, dass man NUR auf diese Art Befriedigung findet.

      1. Das wäre jedenfalls ziemlich langweilig. Aber Lederpeitsche muss deswegen auch nicht unbedingt sein.

      2. Jeden Tag Lederpeitsche käme mir genauso übertrieben vor wir jeden Tag Kaviar. Ich persönlich habe es so gehalten: Kaviar Silvester – Lederpeitsche nie.

      3. Wer diese äußeren oder künstlichen Reize braucht, dem fehlt einfach innerlich die Abwechslung.

      4. Hmm, das heisst nur Langeweiler sind SMler? Das scheint mir reichlich unwahrscheinlich.

      5. Es bleiben aber eben auch einfach nur ‚Utensilien‘. Was man nachher damit anstellt, oder eben nicht, das bleibt einem ja immer selbst überlassen.

  3. Vielleicht ist der Junge auch noch gar nicht zur Besinnung gekommen. Es scheint sein Handeln ist immer noch von Schmetterlingen im Bauch oder anderen verwirrenden Gefühlen in der Hose bestimmt.

    1. Es macht auch nicht den Anschein als ob er innerhalb der nächsten Kapitel zur Besinnung kommen würde. Es scheint ja eher als würde er sich mehr und mehr in dieser Begegnung verlieren.

      1. Das ist beides allein schon gruselig. Jedenfalls wenn man sich soweit verliert, dass man sich selbst nicht mehr wiederfindet.

  4. Ich bin ja immer noch überrascht, dass die beiden länger als für einen kurzen gemeinsamen Augenblick zusammen geblieben sind…

      1. Auf die ausstehenden Konfrontationen bin ich gespannt. Momentan ist mir Benedikt nämlich deutlich sympathischer als der wirre Junge.

      2. Also, dass jemand nicht ganz zwischen Religion und Lust unterscheiden kann bzw. nicht in der Lage ist beides voneinander zu trennen … normal würde ich jetzt nicht unbedingt sagen.

  5. Was für ein Glück, dass 2021 Aids kein so großes Thema mehr ist, wie damals. Mittlerweile wird ja gar davon gesprochen, dass das Virus bis 2030 komplett ausgerottet sein könnte. So stand es zumindest neulich in den Schlagzeilen.

    1. 2030 ist ja offizielles UN-Ziel. Aber bisher hat man so weit ich weiss die entscheidenden Zwischenziele noch verfehlt. Dass die Forschung riesige Schritte gemacht hat, stimmt aber natürlich. Lebensangst muss man heute kaum noch haben.

      1. Dummheit und Leichtsinn sind selten gute Ratgeber. Aber Angst sollte beim Sex ja eigentlich doch keine Rolle spielen.

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