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06 – Ein Eremit

Nach dem Essen | 10

Wir hatten gegessen.
––Er hatte mich beobachtet, schon ein bisschen belustigt, aber nicht überrascht. Er wusste ja, dass ich tagelang nichts Richtiges bekommen hatte. „Sieh dich vor“, sagte er grinsend, „Essen verdirbt den Appetit.“
––„Und Hungern verdirbt den Charakter“, antwortete ich. „Meine Großeltern haben immer erzählt, wie sie im Krieg …“ Ich brach ab. Er hatte bloß einen Scherz gemacht, und ich biss mich daran fest wie eine Zecke.
––„Na, Ossi“, sagte er, und zum ersten Mal klang dieses Unwort wie ein Kosename.
––„Na, Wessi“, pingpongte ich zurück. „Ich … Ich habe Sehnsucht nach dir gehabt. Ich habe immer noch Sehnsucht nach dir.“
––Er lächelte sehr wenig. Sein Blick war verwundbar und verwundend. Ganz entfernt ahnte ich, was mir bevorstand, und noch entfernter freute ich mich darauf.
––„Es war das erste Mal für dich, nicht?“
––„Ja.“
––„Es wäre mir lieber gewesen, es wäre nicht passiert. Oder zumindest nicht mit mir. Ich bin schrecklich verklemmt mit Jungfrauen. Das ist so gar nicht meine Linie.“
––„Ich war verklemmt, nicht du. Ich habe die ganze Nacht und den ganzen Tag gebraucht, um zu wissen, dass ich es will.“
––„Das finde ich nicht lange, das finde ich sehr schnell, wenn du vorher nie darüber nachgedacht hast.“
––„Ich habe versucht, mich anzupassen, irgendwo. Aber meistens habe ich an Gott gedacht. Ich wollte doch Einsiedler werden. Da braucht man keinen Mann und keine Frau.“
––„Aber hast du nie … Ich meine, woran hast du denn beim Wichsen gedacht?“
––„An Gott.“
––„Was? An Gott?“
––„Ja, ich habe gedacht, das ist meine Art, ihm zu dienen. Ein freudiges Gebet meines Körpers. Eine Lobpreisung.“
––„So kann man das natürlich auch sehen.“ Er zuckte die Achseln. „Und wie hast du dir Gott vorgestellt?“
––Ich zögerte. „Ein bisschen so wie dich.“
––Benedikt lachte auf. „Es wird ja immer schlimmer. Jetzt bin ich schon der liebe Gott für dich. Na ja, vom Altersunterschied zwischen uns beiden kommt’s ja beinah hin.“
––Ich stand auf, ging zu ihm und nahm seinen Kopf in meine Hände. „Du bist nicht wie Gott. Gott ist wie du. Du bist nicht der allgemeine Gott oben im Himmel, sondern meiner hier.“
––„Ein bisschen weniger würde mir auch schon reichen“, sagte Benedikt verwirrt. „Mit der Vaterfigur hatte ich mich schon fast abgefunden, obwohl ich mich auch dazu überhaupt nicht eigne. Ich hasse es, angebetet zu werden.“
––Ich kniete vor ihm nieder und berührte seine Oberschenkel mit den Lippen. Dann, ohne dass ich es gewollt hätte, sank mein Kopf tiefer und ich begann, seine Schuhe zu küssen – eine eigentümliche Vorstellung, die mich erregte.
––Zuerst saß nur sein Körper steif im Stuhl, erschrocken, gelähmt, aber kurz darauf merkte ich an meinen Fingerkuppen, die über seine Hose strichen, wie sein Schwanz dieselbe Haltung einnahm.
––„Komm mit!“, sagte er und führte mich in sein Schlafzimmer.
––Wir zogen uns gegenseitig aus, sehr behutsam, unter Küssen und Umarmungen, Knopf für Knopf, Reißverschluss für Reißverschluss. Die Socken und dann den Slip. Loveparade. Wir legten uns aufs Bett. Wir erforschten unsere Körper, unsere Gesichter.
––Nach einer Weile stand er auf und ging ins Bad.
––Ich hörte Wasser rauschen. ‚Onaniert er?‘, dachte ich. Eine unsinnige Vorstellung. Er macht sich sauber für mich. Ich liebe alles an ihm, auch seinen Dreck. Ich habe Angst vor ihm, vor dem, was er wollen und tun wird. Aber ich habe ebenso viel Angst vor dem, was ich wollen und tun werde. Es ist eine wollüstige Angst, keine, die man sich wegwünscht. Vielleicht ist dies der schönste Augenblick: jetzt, während ich auf ihn warte und den Schrecken herbeisehne, dass er wieder neben mir liegen wird. Es wäre schön, einfach nur nebeneinanderzuliegen, aber es ist nicht möglich – ihm nicht und mir erst recht nicht. Der Wunsch nach Ruhe kommt der Ruhe am nächsten. Es ist die näheste Ruhe, die vorstellbar ist.
––Er stand in der Tür, einen kurzen Moment lang, bevor er sich wieder aufs Bett legte, zu mir.
––Ich war seinem Körper hilflos ausgeliefert. Ich fasste ihn an, aber ich konnte ihn nicht fassen. Mir fehlten noch alle Worte, um diese Sprache zu sprechen.
––Er schien das zu merken. „Willst du mich ficken?“, fragte er.
––Eine unerhörte Frage, die ich nur mit einem erschrockenen Gluckser und einem knappen Kopfnicken beantwortete. Auf jede andere Frage hätte ich genauso reagiert.
––Er drehte sich zur Seite.
––Ich schob meinen Schwanz zwischen seine Arschbacken und drückte mit dem Becken gegen die vermutete Öffnung.
––„Sei vorsichtig!“, schrie er.
––Irgendwie würgte ich mich hinein und ruckelte stockend hin und her. Es war ein erschreckendes, aber nicht unangenehmes Gefühl.
––Nach einer Weile schob er mich weg und drehte sich um. „Pass mal auf“, sagte er, „so geht das nicht. Du bist ein netter Junge, aber wenn du willst, dass wir zusammen ins Bett gehen, dann musst du dich schon ein bisschen auf mich einstellen. Dieser mechanische Sex, das liegt mir überhaupt nicht. Dein zögerndes Streicheln, dein Rumgenuckel an meinem Schwanz, und dass du mir dann den Spund ungehobelt reinrammst, als ob ich ein Bierfass wäre – du musst doch was fühlen! Lass dich gehen! Sei nicht so verkrampft! Was macht dich denn geil?“
––Was für eine Frage! „Du machst mich geil.“
––„Dann zeig mir das auch!“
––Ich war etwas ratlos. Natürlich hatte er recht: Ich war verkrampft. Ich hatte Angst, etwas verkehrt zu machen und machte deshalb alles verkehrt.
––Er hatte ein Fläschchen aus der Nachttischschublade geholt und ein paar Tropfen von der Flüssigkeit auf ein Papiertaschentuch geschüttet. Er nahm mich in den Arm und sagte: „Atme tief ein, aber erschrick nicht!“
––Es war ein stechender, pharmazeutischer Geruch.
––Erst spürte ich gar nichts, und dann plötzlich war sein Körper überall. Alles war sein Körper, und jede Stelle seines Körpers war an jeder Stelle meines Körpers. Meine Zunge umschlang ihn, mein Mund saugte ihn ein, ich sah ihn, roch ihn, schmeckte ihn. Er flutete in meinen Muskeln, pulste in meinen Adern, pochte in meinem Herzschlag. Ein paar Minuten oder Stunden später ließ die unmittelbare Wirkung nach, aber meine Hände, mein Gesicht, mein Schwanz hörten nicht auf.
––Er saß jetzt auf mir, sein Schwanz ragte hoch über meiner Brust, mein Schwanz war in ihm und vollführte wunderbare, kreisende Bewegungen. „Macht dich das geil?“, fragte er.
––„Ja“, presste ich heraus.
––„Sag: ‚Es macht mich geil‘!“
––„Es macht mich geil.“
––„Sag es nochmal!“
––„Es macht mich geil.“
––„Sag es immer wieder!“
––„Es macht mich geil, oh, es macht mich so geil“, ich wimmerte und röchelte.
––Er beugte sich tief herunter und küsste mich. „Siehst du“, sagte er, „so ist es gut. So haben wir beide etwas davon. Soll ich dich jetzt ficken?“ Er stieg von mir und drehte mich mit sanftem Druck auf den Rücken. Eine weiche, glitschige Emulsion zwischen meinen Backen, er massierte. Seine Finger, wo noch nie fremde Finger gewesen waren. Und dann etwas Härteres, Mächtigeres als sein Finger.
––Ich stöhnte auf.
––Er hielt mir das Papiertaschentuch unter die Nase.
––Der Raum drehte ab, nur noch sein Schwanz in mir blieb übrig von der Welt, ein rasendes Gefühl, ein wildes Aufbäumen – ein schmerzhaftes.
––„Tut es dir weh?“
––„Ein bisschen.“
––„Du hast noch Scheiße im Arsch“, sagte er. „Die muss raus. Komm mit!“
––Wir gingen zusammen ins Badezimmer.
––Er schraubte den Kopf der Handdusche ab und prüfte die Temperatur des Wassers. Dann führte er mir vorsichtig den Schlauch ein.
––Erst war es ein warmes Kribbeln, ganz wohlig, aber dann fühlte ich mich plötzlich vollgepumpt.
––Er zog den Schlauch wieder heraus. „Drück!“, sagte er.
––Mit dem Wasser schossen Brocken und Klumpen aus meinem Arsch in die Badewanne. Ich beobachtete verlegen, wie die Brühe abfloss.
––„Da ist doch nichts bei“, sagte er. „Wenn man miteinander bumst, kann man das auch ertragen. Die Scheiße muss nun mal raus.“ Er gab mir einen Kuss und führte mir den Schlauch nochmal ein. Dreimal wiederholte er die Prozedur.
––Dann war ich leer. Wir gingen zurück ins Bett.
––Er drehte mich auf die Seite, wieder spürte ich die kühle Creme und seine Hände und dann, ganz langsam in mich gleitend, immer tiefer seinen Schwanz. Er steckte mir seine Finger in den Mund.
––Seine Brusthaare klebten nass an meinem Rücken. Eine endlose, selige Vereinigung auf unserem Floß im Meer des Wahnsinns.
––Als wir ruhig, erschöpft und glücklich nebeneinanderlagen, wurde es schon hell. Ich war zu ergriffen, um zu schlafen. Von oben waren Schritte zu hören, von der Seite entfernte Musik. Draußen fuhren die Autos vorbei: Tag.
––„Hörst du“, sagte ich, „die Welt dreht sich um uns.“ Und dann schlief ich doch ein, sein Mannsglied in der Hand.

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Body Stock (rechter Arm), S Photos (küssende Männer), Christian Mueller (2, Hintergrund) | studiovin (Wäscheberg links), Igor Stepovik (Wäscheberg rechts)

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “Nach dem Essen | 10

  1. Der eigene Gott hier auf Erden … der Junge übertreibt hier zwar ein wenig, aber vielleicht ist das trotzdem besser als jemand im Himmel anzubeten.

    1. Man sollte seinen Partner sicher nicht vergöttern. Das geht auf Dauer nie gut. Wenn man sich wieder an das mittlerweile schon öfters genannte Kapitel Eins erinnert, dann ahnt man ja auch schon, dass auch hier kein gutes Ende bevorsteht.

      1. Ich fand die Stelle, wo er die Schuhe Benedikts küsst, auch recht verwirrend. Johannes sieht in ihm ja fast so etwas wie den sexuellen Messiahs. Das geht ohne Frage über eine ’normale‘ Anziehung hinaus und sicherlich auch einen Schritt zu weit.

      1. Ich glaube nicht, dass Sex in dem Fall sellt. Man hatte ja große Hoffnung, dass Franziskus ein wenig von veralteten Vorstellungen abrückt. War leider nichts.

      2. Der Grad zwischen Erneuerung und Verleugnung ist schmal. Wahrscheinlich ist die katholische Kirche richtig so, wie sie ist, nur ich und viele mit mir kommen nicht mehr für ihre Botschaft infrage. Wenn ich an keinen mich ständig beobachtenen Gott glaube, brauche ich weder seinen Segen zu erbitten noch seinen Fluch zu fürchten.

      3. Kirche kann im Optimalfall Halt und Orientierung geben. Dass man Menschen vergrault, weil man nicht von gestrigen gesellschaftlichen Vorstellungen lassen kann, das kann doch nicht die Lösung sein.

      1. Das wird wohl so gewesen sein. Allerdings heißt das ja nicht unbedingt etwas. So einen Selbstschutz suchen sich z.B. ja auch homosexuelle Priester, die ihre Sexualität unterdrücken. Da wird dann deutlich länger mit dem eigenen Ekel gekämpft.

  2. So detailliert hätte ich das alles gar nicht wissen müssen. Aber ich finde es ja eigentlich auch ganz gut, dass die beiden doch noch zueinander gefunden haben.

  3. Einen Tag und eine Nacht nachzudenken um sich über seine tiefsten Sehnsüchte klarzuwerden, das erscheint mir wirklich nicht sonderlich lange.

    1. Das glaube ich im Alter von 18 Jahren auch nicht unbedingt. Aber der Schritt sich diesem fremden Taxifahrer hinzugeben, die erste schule Erfahrung zu machen, auch das ist ein großer Schritt. Aber oft ‚ergeben‘ sich solche Sachen dann letztendlich doch ohne große Planung. Die Vorarbeit macht man ja meistens trotzdem über Jahre…

      1. Das kommt wohl darauf an, wie man das definiert. Körperlich scheint es doch so…

  4. Der Ausspruch „Sei nicht so verkrampft“ scheint mir keine besonders gute Methode zu sein um einen verkrampften Menschen weniger verkrampft zu machen.

    1. Stimmt. Benedikt schein aber ansonsten durchaus aufmerksam und sensibel zu sein. Sonst wäre es sicher nicht soweit gekommen wie es bisher der Fall ist.

      1. Es scheint die beiden ja etwas zusammengeführt zu haben. Man kann das Schicksal oder Zufall nennen.

      2. Zum Glück. Wäre ja noch schöner wenn wir wirklich alles selbst erleben müssten.

      1. Ein ebenso unnötiger Ausspruch, nicht? Als ob jemand absichtlich angespannt wollen würde.

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