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06 – Ein Eremit

Taxe fahren | 05

Es goss in Strömen.
Ich lächelte blöde, zumindest glaubte ich das. Aber vielleicht war mein Lächeln so blöde gar nicht.
––„Also, was ist?“, fragte er.
––„Na ja“, sagte ich, „also, das wär’ natürlich unheimlich nett von Ihnen. Ich will zum CVJM. Sehr weit ist es ja nicht. Aber bei dem Regen …“
––„Also los!“, sagte er.
––Wir rannten ein paar Schritte über den Vorplatz zu der Stelle hin, wo er seinen Wagen im Halteverbot abgestellt hatte. Es war wirklich eine Taxe. Ich schnallte mir den Rucksack vom Rücken und warf ihn in den Kofferraum. Dann stieg ich ins Auto. Ich dachte noch: ‚Jetzt mach ich ihm den Sitz nass‘, und verachtete mich ein bisschen dafür, dass ich das dachte. Er fuhr los in Richtung Kurfürstenstraße, zum CVJM.
––„Glaubst du, dass sie dich noch reinlassen um diese Zeit?“
––„Ich hoffe.“
––„Ich kann ja warten, bis ich sehe, dass es klappt.“
––„Danke.“
––„Du kannst auch bei mir übernachten.“
––Was sollte ich sagen? Ich hatte nicht die geringste Lust, beim CVJM zu klingeln, und erst recht nicht, dort zu schlafen. Ich hatte Furcht davor, dass mich Angst und Ruhelosigkeit wieder anfallen könnten, und dann hätte ich lieber einen Menschen in der Nähe gehabt als zehn. Mochte das Schicksal sich auch die Hände reiben, ich würde schon für mich sorgen. Ich hatte Vertrauen zu ihm. Sein Name stand auf dem Schild am Armaturenbrett. Zwischen Vor- und Nachnamen wiesen die drei Buchstaben ‚v‘, ‚o‘ und ‚n‘ darauf hin, dass er adelig war. Er wohnte in Steglitz.
––„Wenn das für Sie nicht zu lästig ist, also dann komm’ ich gern mit.“
––„Aber erwarte nichts Besonderes“, sagte er und bog nach rechts ab. „Ich hab’ nur einen winzigen Raum für dich, mit Matratze auf dem Fußboden.“
––„Vorige Nacht hab’ ich draußen geschlafen. Ich habe keine Ansprüche.“
––Er sah mich an und lächelte. Ich hatte das Gefühl, sein Lächeln bezog sich auf das Wort ‚Ansprüche‘.
––Wir fuhren ein Stück Autobahn. Da kommt man sich mit einem Fremden ungeschützter vor als zwischen Häusern. Aber dann kamen wieder die Häuser, und ich kam mir noch schutzloser vor.
––„Hier ist es“, sagte er.
––Es war ein nichtssagendes Mietshaus. Gelber Klinker mit zu kleinen Fenstern. Das Treppenhaus war schmucklos, wie solche Treppenhäuser eben sind. Es roch nicht nach Essen, sondern nach Reinlichkeit. Das Geländer war rot, hässlich rot, die Stufen waren aus Stein und sauber.
––Wir gingen an grau lackierten Türen mit Namensschildern und Spionen vorbei.
Kinderschuhe standen aufgereiht wie zu Nikolaus. Auf abgewetzten Fußabtretern standen ‚Hallo‘ und ‚Welcome‘. Auf halber Höhe standen einer Gummipflanze die Blätter zu Berge.
––Er nimmt mich doch bloß mit, weil er denkt, er kriegt mich ins Bett. Wozu sonst? Ich scheine so zu wirken, als könnte man mich rumkriegen. Wieso wirke ich so? Ich mach’ das auf keinen Fall, auf gar keinen Fall! Ich werde es ihm sofort sagen, wenn wir drin sind. Sofort. Dann hat er noch genug Zeit, mich rauszuschmeißen. Aber wenn er stattdessen die Tür verriegelt, wenn er plötzlich anfängt … – Ich blieb stehen: „Wissen Sie …“
––„Ja, ich weiß“, sagte er und ging weiter.
––Im vierten Stock rechts blieb er stehen und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ich las denselben Namen wie auf dem Schild im Auto: Benedikt von Kalkreuth.
––„Wie du siehst, heiße ich Benedikt“, sagte er. „Aber du kannst mich auch Herr von Kalkreuth nennen, wenn du dich dann sicherer fühlst.“
––„Ich heiße Johannes“, sagte ich bloß. Mein Herz klopfte vor Erwartung, aber das zählte ja nicht als Antwort. Dass ich von allen ‚John‘ genannt wurde, verschwieg ich sowieso.
„Doll ist es nicht, hier zu wohnen“, sagte er im Reingehen. „Aber ich hab’ mich dran gewöhnt.“
––Irgendetwas an der Wohnung war anders als alles, was ich bisher gesehen hatte. Etwas, das mir auf Anhieb gefiel. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich merkte, was es war: Die Wohnung hatte nichts Biederes, Betuliches. Sie war eher unordentlich als rausgeputzt, aber es war eine angenehme Unordnung. Sie bestand aus Büchern, Zeitschriften, CDs und Gläsern. Es gab keinen Tüll und keine Stoffgardinen, nur Jalousetten. Es gab keine Kronleuchter oder sonstige Deckenbeleuchtung, kein bisschen von dem Zeug, das bei meinen Eltern überall steht und hängt. Keine Schäferin aus Porzellan, keine Tonpferde, keine schmiedeeisernen Armleuchter, keine Puppen, keine Kissen in Sofas und Sesseln, keine geschliffenen Bleikristallvasen, keine strohgeflochtenen Wandbehänge, nichts von all dem Zeug, das bei uns und unseresgleichen so sehr Bestandteil des Zuhauses ist, als sei es mit dem Wohnungsschlüssel mitgeliefert. Nur leere Wände mit ein paar großflächigen Postern unter Glas, wenige Möbel in den beiden ineinander übergehenden Zimmern. Ein einziger Krug mit einem riesigen Büschel Blumen. Eine klare Wohnung, nicht behaglich im thüringischen Sinne, aber auch nicht kahl wie eine Jugendherberge. – ‚Unseresgleichen‘. War er meinesgleichen? – „Toll hast du ’s hier“, sagte ich.
––„Warte mal ab, bis du dein Gemach siehst!“, sagte er und öffnete die Tür.
––Es war wirklich nur eine Kammer. Sie war roh belassen, keine Gardinen oder Jalousetten an dem schmalen Fenster. An der Wand hing, mit Reißzwecken befestigt, die Abbildung einer antiken Statue: ein ausgewachsener, nackter Mann.
––Er merkte, dass ich darauf sah und sagte: „Zeus“.
––Auf dem Steinfußboden lag eine Matratze, in der Ecke stand ein schwarzer Schrank. Das war alles.
––„Ich kann dir das Bett machen“, sagte er.
––„Nein, nicht nötig. Ich hab’ ja meinen Schlafsack.“ Ich stellte den Rucksack ab.
––„Ziemlich trostlos, was?“, sagte er. „Ich bin noch nicht dazu gekommen, mich drum zu kümmern. Viel kann man mit der Bude ja sowieso nicht anfangen. Aber du wirst es ruhig haben. Es geht nach hinten raus. Ich kann dir eine Lampe reinstellen.“
––„Ist nicht nötig“, sagte ich.
––„Natürlich ist es nötig. Wie willst du dich denn sonst zurechtfinden?“
––„Na gut, wenn du meinst.“
––„So, willst du gleich schlafen oder setzen wir uns noch einen Augenblick ins Zimmer?“, fragte er.
––„Ich bin nicht müde.“ – Wieso ergriff ich nicht die letzte Chance, ungeschoren davonzukommen? Habgier oder Neugier?
––„Dann lass uns rübergehen! Was trinkst du? Ich hab’ nur Wodka, Bier und Cola.“
––„Eigentlich möchte ich nichts.“
––„Was heißt ‚eigentlich‘? Trinkst du ein Bier mit? – Ja oder nein?“
––„Ja.“
––„Und einen Wodka dazu?“
––„Ja.“
––„Na also!“
––Ich setzte mich auf einen der quadratischen Hocker und dachte: ‚Nein, danke. Nein, danke. Nein, danke. Zu spät.‘

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Syda Productions (Männer im Auto), Aryan Gosain (Lichter), Christian Mueller (2, Hintergrund) | ViDI Studio (Biere)

Hanno Rinke Rundbrief

31 Kommentare zu “Taxe fahren | 05

    1. Immerhin hat er seine eigene Kammer. Ich hätte eher damit gerechnet, dass das Angebot wäre im Bett des Fahrers zu schlafen.

      1. Das kann nach ein paar Bieren und ein paar Gläsern Wodka ja auch immer noch passieren.

      2. Ich muss zugeben, ich bin noch völlig unsicher was mich in diesem Teil der Erzählung erwartet. Bisher sind mir Benedikt und Johannes allerdings beide sympathisch.

  1. Ich hätte genau das gegenteilige Gefühl wie der Hauptdarsteller. In der Stadt würde ich vielleicht noch zu einem Fremden ins Auto steigen. Aber auf offener Autobahn unterwegs zu sein, da würde ich mich schon unwohler fühlen.

      1. Das stimmt ohne Frage. Ich denke eher, je weiter man von zuhause weg ist, desto unsicherer fühlt man sich. Obwohl das objektiv bestimmt keinen großen Unterschied macht. Aber ich würde auch grundsätzlich nicht einfach bei jemandem einsteigen.

  2. Leere Wände und wenige Möbel finden viele ja ungemütlich. Mir geht es meistens andersherum. Je vollgestellter eine Wohnung ist, desto weniger hat man als Mensch darin Platz.

    1. Da ist zwar etwas dran, aber wenn man das Gefühl bekommt, dass in einer Wohnung niemand lebt oder das alles so steril ist, dass man am besten nichts anfasst, dann mag ich dort auch nicht lange sein.

      1. Der Unterschied zwischen Modernismus und noch nicht eingerichtet ist oft ja auch minimal.

      2. Nackte und trotzdem unordentliche Zimmer erinnern mich am ehesten an billige Hotels. Haha.

      3. Steril klingt das alles nicht. Eher nach einer typischen Studenten-/Singlewohnung. Nur dass unser adliger Taxifahrer dafür eigentlich zu alt ist.

  3. ‚Du kannst mich auch Herr von Kalkreuth nennen, wenn du dich dann sicherer fühlst‘ gehört bereits zu meinen liebsten Sätzen aus dieser Geschichte.

    1. Ich habe bisher auch noch nie einen adligen Taxifahrer getroffen. Ich hoffe man erfährt noch ein wenig mehr über ihn.

      1. Momentan bin ich auch noch nicht davon überzeugt, dass ein reines „von“ schon ausreicht, um ihn als Adligen zu identifizieren. Seine Wohnung passt ja nicht so ganz zu dem Bild.

      2. Der Fahrer meines Vaters hieß Charly von Steinsdörfer. Mein Vater hasste plumpe Vertraulichkeit, aber statt seinen Chauffeur Herr von Steinsdörfer zu nennen, sagte er dann doch lieber ‚Charly‘.

  4. Bisher handelt John / Johannes ja ziemlich gegen seine eigene Intuition an. Ob das auf Dauer gut geht? So wie wir ihn im ersten Kapitel erlebt haben, wohl eher nicht.

      1. Das hätte ich jetzt auch gesagt. Beides kann doch ziemlich unerwartete Folgen haben. Im Guten, wie im Schlechten.

      2. Intuition, also Bauch, mit Gehirn zu vermischen ist meistens ein recht guter Ratgeber…

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