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06 – Ein Eremit

Bahnhof Zoo | 04

Ich fuhr vom Bahnhof Tiergarten zurück zum Zoo, schwarz – wie immer. Das Schließfach öffnen? Das Kapitel schließen? – Noch nicht. Ich strich in der Bahnhofsgegend herum. Die Türsteher der Porno-Bars sprachen mich nicht an. Die Nutten ließen mich in Ruhe. Ich sah nicht ausbeutbar aus, ich war es auch nicht.
Es war halb acht. Der Himmel hatte sich noch einmal verfinstert. Wolken hingen tief wie Tränensäcke über grauen Häusern. Die Neonlichter begannen, gegen den Tag anzuleuchten. Gewittrige Feuchtigkeit machte die Mücken und die Männer wild. Der Strich wartete geduldig auf Kundschaft. Sie würde schon noch kommen. Mit kess verschreckten Blicken und schmierigem Feixen. Es durfte nur nicht zu regnen anfangen.
Aber es fing zu regnen an – und wie! Ich flüchtete in eine Kellerkneipe und bestellte mir ein Bier. Draußen knallte das Unwetter nieder. Ich blieb ungefähr bis zehn und brütete vor mich hin. Keiner kümmerte sich um mich. Keiner redete ein Wort mit mir. Ich trank meine drei Bier und suchte nach Ausreden, um aufgeben zu dürfen. Das besorgte Gesicht meiner Mutter, das triumphierende meines Vaters. Die Lehre, die Zukunft. Schmalkalden. Nichts lockte mich. Und trotzdem war ich nicht unglücklich. Zwar hatte ich noch einen Anflug von Angst, dass die unbegründbaren Zustände vom Vormittag zurückkommen könnten, aber eine genauso unbegründbare Zuversicht versetzte mich in gehobene Stimmung. Irgendwie würde es weitergehen. Das war doch ganz spannend. Nichts war bestimmt. Mit ein bisschen Mut müsste sich noch ein anderer Weg gehen lassen als der absehbarste.
In mir steckt Fieber und in mir steckt – trotz allem noch – Gottvertrauen und Hoffnung. Warum sollte all das sterben, wenn nicht ich selbst es abtötete? Also finde ich mich ab mit solchen Anwandlungen wie heute Morgen. Das mag der Preis sein für Einsichten, die ich noch bekommen werde. Antennen fangen auf, was Sender ausstrahlen: Alarm oder Musik – oder etwas, dab-dab-dadada-dab, was den Code enthält, der mich öffnet. Für diese Nacht werde ich in den CVJM gehen und morgen werde ich versuchen, einen brauchbaren Plan zu entwickeln. So locker in den Tag hinein zu leben, das liegt mir offenbar weniger, als ich es mir ausgemalt hatte. War eine gute Erfahrung, aber – es reicht. Es muss reichen. Ich zahlte, ich ging auf die Straße.
Pfützen und ein paar abgefallene Blätter. Schon? Das bunte Neon schwamm dumpf auf dem Asphalt. Halb gezogen, halb getrieben ging ich zum Bahnhof, um meinen Rucksack aus dem Schließfach zu holen. Ich zitterte. Es hatte sich abgekühlt, aber das war nicht der Grund für mein Zittern. Sie galoppierten wieder auf in mir, die drei apokalyptischen Reiter: Hunger, Hast und Hilflosigkeit. Leise noch, bisher. Kontrollierbar, doch die verderbliche, verderbende Schmuggelware lag schlecht versteckt in meinem Gepäck. Mein Gesicht schien mir der Wegweiser für jeden, der nach Verbotenem forschte. Hilflosigkeit; vielleicht lernt man, sie zu überwinden. Hast; sie ist ein peinigender Motor. Doch der Hunger ist es, der den Tod bringt.
Wann würde ich wohl zur Ruhe kommen? – Niemals und auch dann nicht. Verheißung und Verhängnis zugleich. Unersättlichkeit bedeutet: Dieser Hunger wird nie und durch nichts gestillt. Nie! Das Versprechen des ewigen Lebens.
Es ist gut, wie es ist, weil nichts gebessert würde, wenn es anders wäre.

Die Halle war jetzt weniger geschäftig als am Morgen. Ein paar Türken standen zusammen. Reisende mit Koffern liefen zu den Ausgängen und Bahnsteigen. Die wenigen Anbieter zogen ihre Kreise, langsam, aber nicht planlos. Die noch wenigeren Kaufwilligen folgten und versuchten die Kontaktaufnahme. Ein gewohnter Anblick.
Ich blieb unschlüssig stehen. Irgendetwas lähmte mich und ließ mich zögern. Erschöpfung? – Eher Erwartung. Ich ging von einem Ende der Halle zum anderen, ich sah Schlagzeilen und Bücher: ‚Fußball-Weltmeisterschaft in Frankreich‘ – Niederlande gegen Kroatien. ‚Reisen durch Deutschland‘. Da wäre mein eigener Beitrag wohl weniger gefragt. Ich sah auf die Auslagen des Kiosks mit Reiseproviant. Apfelsinen, Salami, Nussschokolade. Bei meinen Eltern hatten solche Güter früher vermutlich Habgier entfacht, bei mir reichte es heute nicht mal mehr zur Neugier. Nugat. Nachtluft und Nugat. Ich hätte alles gegessen, aber es war schon spät, die Stände hatten geschlossen, und ich war ebenso bereit, auf alles zu verzichten.

Zum CVJM würde ich auch noch zwanzig Minuten brauchen. Was lief ich hier herum und irritierte den Strichern ihre Kundschaft? Ich sah, dass ein Mann mich beobachtete. Er war dunkel, um die vierzig, schlank oder ich glaube, man nennt das ‚drahtig‘; er trug die Haare kurz, sehr kurz, ein blau-rot-kariertes Hemd, eine dunkelblaue Cordhose und eine schwarze Lederjacke, offen, alles an ihm war offen. Er stand am Eingang, ganz ruhig, er sah aus, als ob er wartete, auf etwas oder jemanden.
Ich sah ihm einen Augenblick lang zu, wie er mich musterte. Da kam ein Grinsen in sein Gesicht. Er machte ein paar Schritte auf mich zu. Ich wollte ausweichen, aber nicht fliehen. Also drehte ich mich so langsam wie möglich um und vertiefte mich wieder in die Schlagzeilen. Ich spürte, dass er neben mir stand. Aber dann dachte ich, dass ich mir das nur einbilde und sah mich um – ihm mitten ins Gesicht. Ich zuckte wohl leicht zusammen, denn er sagte: „Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Er zeigte auf die Zeitungen: „Ich dachte nur, ich könnte vielleicht auch noch was vom Tag lernen, bevor er zu Ende geht.“
Ich lächelte, nickte ihm zu und ging weiter, ganz gelassen. Ohne darauf zu achten, ob er mir folgt, lief ich zu den Schließfächern und holte meinen Rucksack heraus. Er war mir nicht gefolgt. Gott sei Dank; ein Problem weniger! Aber als ich wieder in die Halle kam, sah ich ihn: Er stand immer noch genau da, wo wir uns begegnet waren. Es war, als ob das ewige Schicksal meine Flüchtelei achselzuckend hingenommen hätte – tthh, die Jugend! – und geduldig abwartete, sich zu erfüllen. Na ja, so geduldig nun auch wieder nicht: Es fing gerade wieder an zu regnen, zu gießen, zu schütten. Ich sah es und ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, hin zum Ausgang. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich das tat, wäre mir noch natürlicher erschienen, wenn ich mir dabei nicht die ganze Zeit über vorgekommen wäre wie Alida Valli auf dem Wiener Zentralfriedhof in der Schlusssequenz von ‚Der dritte Mann‘. Der Regen prasselte auf das Pflaster. Bis ich beim Christlichen Verein Junger Menschen war, würde ich völlig durchnässt sein. Einen Augenblick lang stand ich ratlos. Aber es half nichts. Hier konnte ich nicht bleiben.
––„Wo willst du denn hin?“ Er stand plötzlich wieder neben mir. Dass er mich duzte, ärgerte mich, obwohl ich seit Wochen nichts anderes gewohnt war.
––„Ich will wohin, wo ich schlafen kann“, antwortete ‚Alida Valli‘, ein wenig aus der Rolle fallend.
––„Im Regen?“
––„Wenn’s ginge im Trockenen. – Aber es geht wohl nicht.“
––„Ich hab’ eine Taxe.“
––„Ich hab’ kein Geld dafür.“
––„Ich fahr’ dich so.“
––„Warum?“
––„Weil es das Schönste auf der Welt ist. Und weil ich zu viel Benzin im Tank habe.“ Er grinste wieder.
––Seine Überlegenheit ärgerte mich, sehr sogar. Aber dass er da war, ärgerte mich nicht. Das war keiner von den Partei- oder Schlafgenossen, kein Gefährte, kein Erziehungsberechtigter, keine Respektsperson, aber ein Erwachsener. Kein Anbieter, vielleicht ein Käufer.
––„Danke, aber ich glaube, ich lauf’ lieber.“
––„Bei dem Wetter?“ Er zuckte die Achseln, wie es vorhin das Schicksal getan hatte. „Wie du willst.“
––„Sie denken vielleicht, ich bin … also, ich bin keiner von den Jungen hier.“ Schlau kam ich mir nicht vor. Ich war hier und ich war ein Junge.
––„Ich bin auch keiner von den Freiern hier, obwohl ich es nicht schlimm fände. Ich habe gerade eine Stammkundin zum Zug gebracht, eine alte Dame, die ihren Koffer nicht selber tragen kann, und Gepäckträger sind ja wieder mal nicht da. – Du siehst, ich bin hier, um Geld zu verdienen, nicht, um es auszugeben.“

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: 
All kind of people (Mann), Random435 (Biere), Christian Mueller (2, Hintergrund) | ArtOfPhotos (Männer)

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “Bahnhof Zoo | 04

      1. Die Frage ist ja dann eher was in dem Schließfach stecken mag. Aber auch das braucht vielleicht Geduld.

      2. Haha, ich wollte schon sagen … manchmal muss man sich ja nur bis zum übernächsten Abschnitt gedulden 😉

  1. ‚Gott’vertrauen und Hoffnung wird doch meistens durch andere abgetötet. Nicht so sehr durch das eigene Zutun…

    1. Na klar. Alles was sich im Inneren abspielt wird ja auch von äußeren Dingen beeinflusst. Das ist doch keine Frage.

      1. Da kommt es dann aber auch darauf an, was man von einer Antwort erwartet. Soll sie gleichzeitig auch Lösung und Lebensanleitung sein, oder ist man schon mit Erklärungen zufrieden.

    1. Hahaha. Ja das wäre in der Tat eine schlagfertige Söder-Antwort. Außerdem kann er sich so in 4 Jahren als großer Retter aufstellen lassen.

      1. Das wird er so und so. Darum sorgt die CSU ja momentan auch schon dafür, dass Laschet und seine CDU als Verlierer dastehen.

      1. Ich war ehrlich gesagt sehr überrascht, dass es am Ende doch so knapp geworden ist. Man sollte ja meinen, dass noch weitaus weniger Menschen für so einen schlechten Kandidaten stimmen würden.

      2. Da wurde nicht der nette, unauffällige Mensch gewählt, sondern die konservative Partei, in sie sich inhaltlich jeder hineindenken kann, wozu er Lust hat, wenn es nicht allzu aufmüpfig ist.

      3. …und natürlich diejenige, die einem individuell gesehen vollere Taschen verspricht.

      4. Es ist ja altbekannt, dass die Kandidaten nur einen minimalen Unterschied machen. Die Menschen wählen zum Großteil eh die gleiche Partei. Da braucht es schon jemanden wie Laschet um mehr Wähler als erwartet zu verjagen.

      5. Baerbock war ja auch nicht unbedingt ein Magnet. Zumindest nicht nach den ganzen Fehlern und Skandälchen.

      6. Dass die Grünen einen so unbeholfenen Wahlkampf gemacht haben, hat mich auch überrascht. Man hätte erwartet, dass sie nach all den Jahren besser vorbereitet wären.

    1. Das kommt wohl ganz auf den Taxifahrer an. Die Chance, dass man eine Gratisfahrt ganz ohne Nebengedanken geschenkt bekommt ist da relativ gering.

      1. Gleichgesinnte Menschen zu treffen ist ja immer befriedigend. Ganz egal um welche Gedanken es da genau geht. Aber ein überraschender Flirt macht natürlich besonders Spaß.

  2. Der überlegen Taxifahrer und der hin-und her-gerissene Junge erinnern mich an die Konstellation im Beelzebub. Die Dynamik zwischen den beiden scheint aber bereits eine völlig andere zu sein.

    1. Bei ‚Niemals und auch dann nicht‘ stehen zwischen den beiden Männern aus ‚Beelezebub‘ und denen aus dem ‚Eremiten‘ die beiden Frauen aus der ‚Hostie‘. Aber ja: die Dynamik ist sehr anders.

    2. Der drahtige Fremde scheint auf den ersten Blick (beim ersten Lesen) recht sympathisch zu sein. Vielleicht ist er ja ein kleiner Anker für den rastlosen jungen Mann.

      1. Wahrscheinlich ist er das nur für einen kurzen Augenblick. Aber auch das kann ja viel wert sein.

  3. uMit den beiden Zuständen unbegründete Angst und unbegründete Zuversicht könnte man das halbe Leben zusammfassen.

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