Als ich aufwachte, war es hell und sehr ruhig. Ich sprang von der Matratze und sah in alle Räume.
In der Küche lag ein Zettel:
Johannes, ich musste los. Kaffee steht auf dem Tisch. Nimm dir, was du brauchst. Ich bin gegen sechs Uhr abends zurück, wäre schön, dich dann noch einmal zu sehen. Benedikt
Ich ging ins Bad. Ob ich seinen Rasierapparat benutzen durfte? Mein Gesicht sah ziemlich verwildert aus. Aber vielleicht mochte er das gerade. Erschreckend – hübsch. Ich sah in den Spiegel. Es war doch völlig gleichgültig, ob er das mochte. Ich wusch mir das Gesicht mit kaltem Wasser und rasierte mich nicht. Dann ging ich in die Küche, machte mir Kaffee und aß ein Brot, nur mit Butter. Eigentlich hatte ich ziemlichen Hunger, aber ich wollte ihn nicht ausnutzen, was ich sowohl ehrenwert als auch spießig von mir fand. Ich könnte mir nachher etwas kaufen. Wie würde ich den Tag verbringen? Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun. Ich sah auf das Wetter. Es war grau und windig. Ich hatte keinen Schlüssel. Den ganzen Tag hierbleiben konnte ich nicht. Aber ohne sich zu verabschieden, einfach weglaufen, das war auch nicht anständig. Ich könnte einen Brief schreiben: Hoffentlich sehen wir uns irgendwann mal wieder. – Wie man das so schreibt, auch wenn es nicht stimmt. Ich wollte ihn lieber nicht wiedersehen. Also war die Idee mit dem Brief gar nicht schlecht. Tür zuknallen und weg! Wohin? Erst mal weg. Alles hier erinnerte mich an meine Schande. Er wird sich auch alles Mögliche gedacht haben. Aber was geht es mich an, was er sich denkt?! Ich werde ihn nie wiedersehen.
––Er hat geschrieben, er möchte mich wiedersehen. Das war Floskel. Noch einmal hat er sogar betont.
––Ich will ihn nicht wiedersehen. Aber er war gut zu mir. Ich glaube, ich muss heute Abend zurückkommen. Meinen Rucksack kann ich ja hierlassen, dann brauche ich ihn nicht zu schleppen. Wenn er allerdings später kommt und ich ihn nicht erwische, dann sind alle meine Sachen hier und ich habe überhaupt nichts für die Nacht. Er hat gesagt, er hat heute Abend eine Verabredung. Ich würde ihn nur stören, wenn ich bliebe. Es war ja auch gar nicht die Rede davon, dass ich bleibe.
––Meine Gedanken purzelten durcheinander.
––Das Beste würde sein, ich würde den Rucksack mitnehmen, dann habe ich ihn bei mir, wenn ich etwas brauche. Gegen sechs werde ich zurückkommen und auf ihn warten, falls er noch nicht da ist. Ich werde sagen: „Das war wirklich toll von dir.‘ Ich spüre jetzt schon, wie mir die Worte im Hals stecken bleiben. Ich werde ihm die Hand schütteln oder so was und gehen. Warum soll ich dafür eigentlich noch mal zurückkommen? Finde ich den Weg überhaupt? Mit dem Rucksack, mit dem Bus. Alles so umständlich. Ich werde ihn anrufen. Genau. Vom Bahnhof Zoo aus werde ich ihn anrufen: Ich bin es, Johannes. Ich wollte mich nur noch mal bedanken und verabschieden. – Wo bist du? – Am Bahnhof Zoo. – Ach! Wohin fährst du denn? – Ich weiß es nicht. Und wenn er dann sagt: „Willst du nicht herkommen?“, dann werde ich Ja sagen, dann werde ich einfach nicht anders können. Wenn er das aber nicht sagt …
––Der besorgte Blick meiner Mutter, der triumphierende meines Vaters. Schmalkalden.
––Oh, lieber Gott, hilf mir doch! Mein Kopf war so leer. Der ganze Tag lag vor mir, und ich musste doch irgendetwas tun. Aber was? Ich wusste nur, dass ich von hier wegwollte. Ich ging aus der Küche ins Zimmer, sah auf die Bücherwand und dachte an die fünf Sonderausgaben, die die Bibliothek meiner Eltern ausmachten. Ich sah auf die Blumen, auf die Jalousetten, deren Lamellen den Blick auf einen schmächtigen Ahorn und das gegenüberliegende Haus freigaben. Ich sah auf die CDs, die Gläser.
Ehrlich mit sich sein, war das nicht das Mindeste, was ich von mir verlangen konnte, wenn ich schon sonst nichts erreicht hatte in diesen sieben Wochen? Ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte, was aus mir werden sollte. Ich wusste nur, dass ich von hier nicht wegwollte. Ich atmete tief durch. Bis zum Abend würde ich also bleiben. Er hatte es mir ja angeboten. Er hatte geschrieben, dass er sich freuen würde, mich noch zu sehen, wenn er zurückkommt. Einmal noch. Ich konnte in seinen Büchern lesen, seine CDs hören, seinen Blumen frisches Wasser geben, vorsichtig ein bisschen aufräumen, Staub wischen. Das spart ihm kein Geld, aber Zeit. Nur weggehen konnte ich nicht, ohne Schlüssel. Aber ich würde mich schon nicht langweilen und ich würde nicht mal hundertfach schreiben müssen: Ich soll beim Gute-Nacht-Kuss fremden Männern nicht die Zunge in den Mund stecken.
Als es sechs wurde, konnte ich mich immer weniger auf das Buch konzentrieren, das ich mir rausgesucht hatte: ‚Die Kartause von Parma‘.
––Schritte im Treppenhaus lösten in mir jedes Mal eine Spannung aus, über die ich mich beunruhigte. Ich wartete auf das Geräusch des Schlüssels, der sich im Schloss dreht. Aber es kam nicht. Die Schritte gingen vorbei.
––Von oben und von unten hörte man Wasser rauschen. Von der Seite tönte die geschulte Stimme eines Fernsehsprechers. Die Worte konnte ich nicht verstehen, aber der Klang bedrängte mich. Manchmal sprang ich auf und sah aus dem Fenster. Aber ich zwang mich, das nicht häufiger als einmal in fünf Minuten zu tun. Das Beste wäre, ich schriebe doch einen kurzen Zettel, nähme meinen Rucksack und würde verschwinden. Diese Unruhe, die ganz anders ist als die Ruhelosigkeit von gestern, aber ich misstraue ihr genauso sehr, denn meine Ungeduld hat so erschreckend wenig damit zu tun, dass ich hier endlich wegwill.
Es klingelte.
––Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Wenn es nun jemand anderes ist: ein Besucher; seine geschiedene Frau mit Kind; seine adeligen Eltern vom Lande? – Alles Quatsch. Er wird es sein. Ich werde aufmachen und sagen: Ich bin dageblieben, um mich zu verabschieden und noch mal wegen gestern Abend zu entschuldigen. Du hattest völlig recht. Das ist wirklich nicht meine Richtung. Ich hätte auf dich hören sollen. Es war ziemlich schlimm für mich. Für dich sicher auch. Verzeih mir!
––Es klingelte wieder.
––Ich öffnete.
––Da stand er, in jeder Hand eine Plastiktüte, blasse Haut, schwarzes Haar mit erstem Weiß, graublaue Augen, ein Blick, forsch und lustig, und er sagte: „Es ist etwas später geworden. Ganz zum Schluss hatte ich noch eine Fahrt zum Flughafen Schönefeld.“
––Ich fiel ihm einfach um den Hals, ich schlang meine Arme um seinen Nacken und legte den Kopf auf seine Schulter.
––Die Wohnungstür stand offen, das Licht im Hausflur brannte und er hielt die Tüten in der Hand.
Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Antonio Guillem (sitzender Mann), Jirakan (Uhr), Christian Mueller (2, Hintergrund) | VGstockstudio (Mann mit Einkaufstüten)
Dieser Moment, wo er Benedikt um den Hals fällt, der hat mich richtig berührt.
Ich hatte wohl mit einer anderen Reaktion des Jungen gerechnet…
Er selbst auch.
Man merkt richtig, wie er hin und her gerissen ist. Soll er das alles nun eklig und abstoßend finden oder gefällt es ihm doch.
Darauf wird es wahrscheinlich so schnell keine befriedigende Antwort geben. So etwas löst man ja nicht von gleich auf jetzt.
Manche brauchen ihr ganzes Leben dazu. Verdrießlicher ist dann meist das, was man unterlassen hat, als das, was man getan hat.
Schlimm. Wenn man am Ende denkt, dass man zu viel verpasst hat … das muss schon schlimm sein.
Da hilft nur eins: man darf nicht bis ganz am Ende warten um sein Fazit zu ziehen.
Ich hätte gedacht, dass er Reißaus nimmt und sich einfach auf den Weg zum Bahnhof macht. Dieses Mal liege ich mit meinem Gefühl wohl immer ein wenig daneben.
Kapitel Nummer 1 lässt ja darauf schließen, dass das zumindest über kurz oder lang passieren wird. Ein Happy End wird es bestimmt nicht geben.
Dabei würde man es sich fast wünschen.
Fast? Wünscht man sich nicht immer ein Happy End?
Im Leben wohl schon. In der Literatur nicht unbedingt 😉
In der Literatur muss man es ja auch nicht selber ausbaden.
Schon interessant, wie sich beide einreden, dass sie kein Interesse aneinander haben. Benedikt im letzten Teil, nun Johannes in diesem.
Sie loten es wohl eher aus, als dass sie es sich einreden.
Der Titel hat mich amüsiert. Ein Entschluss. Das war ja für dieses Kapitel eindeutig eine falsche Fährte.
Naja, er ist ja immerhin nicht abgereist.
Manchmal ist keine eindeutige Entscheidung zu treffen auch schon eine Entscheidung. Der Drang aus der Wohnung abzuhauen war jedenfalls nicht groß genug um ein zweites Treffen zu umgehen.
Die Entscheidung als Titel sagt aus, dass sie im Raum steht, nicht, dass sie getroffen wird.
Der liebe Gott hilft bei so etwas ja leider selten. Da muss schon die eigene Entscheidungsfreudigkeit herhalten.
Irgendwo her muss man aber seine Referenzen ziehen um die Entscheidung / den Entschluss in die eine oder andere Richtung zu fällen. Je nachdem wie man sein Leben lebt kann da auch die Religion ausschlaggebende Anstöße geben.
Das kann schon sein. Aber wenn es um die eigenen Gefühle geht, dann sollte man vielleicht mehr auf seinen Bauch als auf den lieben Gott hören. Nun gut, es muss jeder selbst wissen.
Wenn der liebe Gott aber nun im Bauch sitzt?
Oh, gruselige Vorstellung.
Sitzt der nicht meistens im Kopf? Vielleicht noch im Herzen?
Dort, wo man sich die immaterielle Eingebung vorstellt, dort ist sie: vom Hacken bis zum Nacken, mal geht sie einem an die Nieren, mal nicht aus dem Kopf.
Gute-Nacht-Küsse unter fremden Männern sind ja nicht unbedingt verbreitet. Da macht die Zunge auch keinen großen Unterschied mehr.
Bei der Übertragung von Keimen doch.
Hahaha. Das mag sein. Aber wer unter Mysophobie leidet, der vermeidet Gute-Nacht-Küsse am besten eh voll und ganz.
2021 kann man den Nachtkuss im Zweifel ja mit Mund-Nasen-Schutz durchführen 😉
Jeden Abend Maskenball.
Sozusagen. Es soll ja Menschen geben, die zumindest das Flirten mit Maske gerade sehr genießen. Augen pur. Es wäre aber trotzdem langsam Zeit für etwas weniger Corona im Leben.
Mein heutiges Rundschreiben bezieht dazu um 18.00 Uhr – wie gewohnt ausgewogen – Stellung …
Wer ungeimpft ist und trotzdem weiter über Beschränkungen meckert, dem kann man einfach nicht helfen.