Teilen:

0403
WACHS!  —   1. Berlin-Reise / 1998

#1.13 | Mittendrin und außerhalb

Mittwoch: Lankwitz. – Die Kindheitslocation meines Vaters ist noch schlimmer gebeutelt als meine eigene. Der Park, in dem er mit seinen Brüdern und Freunden gespielt hat, blüht nach wie vor, aber die Häuser sind alle weg und durch erbärmliche Wohnsilos ersetzt worden. Immerhin, die Proportionen stimmen noch: Links der Bahndamm, vorne die Grünanlage, rechts die Kreuzung mit der Bernkastler Straße; und ein turmartiger Bau, genannt ‚die Käseglocke‘, war auch stehen geblieben und lediglich frisch gestrichen. Von dort aus rannten Guntram und seine Brüder eilig zum Essen, wenn seine Mutter Maria heraus auf den Balkon getreten war und den Gong geschlagen hatte.
„Über alles, was ich hier sehe, kann ich mit niemandem mehr sprechen“, klagte Guntram das eine um das andere Mal. Ich erinnerte ihn an seinen Bruder Hasso, und er sagte so, als ob es ihm gerade erst wieder einfiele: „Hasso, ja“, aber denken tat er wohl an viele andere Freunde und Geschäftspartner, die lange schon tot sind.
Am Nachmittag wurde meinen Eltern das Lafayette gezeigt. Die kleine, feine Lebensmittelabteilung gefiel Irene besser als der herausfordernde Protz des KaDeWe, dann wurden sie in einem Velo-Taxi zu den Hackeschen Höfen gebracht. Sie sind Berlins Renommier-Hinterhäuser, und Irene entschied gleich: „Hier möchte ich nicht wohnen“, aber das stand ja auch gar nicht zur Debatte.
Guntram und Irene tranken Bier, ich Wein, dann fing es an zu regnen, wir nahmen unsere Gläser und gingen rein.
Per Taxe fuhren wir zum Theater des Westens. Über die Plätze konnte man sich nicht beklagen – dritte Reihe, Mitte, und das Stück ging so: In einem Waschsalon in Berlin treffen sich alle, die schmutzige Wäsche waschen wollen, aber zu Hause keine eigene Maschine haben, besonders ein adretter junger Mann dunkelster Hautfarbe, der die ganze Zeit Trompete spielt, und ein Kramhändler aus der Nachbarschaft mit gutmütiger Berliner Schnauze. Ein Mädchen aus Bielefeld kommt an, um an der Humboldt-Universität zu studieren, in ihrem Koffer befindet sich bereits Dreckiges aus der Heimat.
Dann überstürzen sich die Ereignisse. Die spießigen Eltern kommen aus Bielefeld in den Waschsalon, der Vater, etepetete und im grauen Anzug, läuft mit einer dort ebenfalls waschenden Prostituierten los, während sich auf selbiger Bühne in getrennter Kulisse die Mutter im Kostüm von dem Kramhändler anmachen lässt. Nun kommen Skinheads und bedrohen den adretten Mann dunkelster Hautfarbe, der Skinheadanführer rennt in das Messer einer Punkerin, und alle schreien: „Der Schwarze war’s!“ Der rennt daraufhin lieber weg. Die junge Bielefelderin kommt und fragt: „Wie konntest du nur?“ – Er sagt: „Stimmt ja gar nicht“, und rennt weiter. Sie bleibt im Widerstreit der Gefühle zurück. Vorhang.

Wie es nach der Pause weiterging, kann ich nicht sagen, weil Guntram und Irene an der Auflösung des Falles nicht sonderlich interessiert waren. Ich wusste, dass das mutmaßliche Happy End erst für dreiundzwanzig Uhr geplant war und organisierte ein Taxi, das uns ins ‚Trentasei‘ fuhr. Kaum hatten wir die Bestellung aufgegeben, als die beiden Herren am Nebentisch – von Irene sofort als Mafiosi durchschaut – sich die Zigarrenkiste kommen ließen und die dicksten auswählten. Als erster blauer Dunst die Luft verqualmte, zogen wir mit Hilfe von drei Kellnern um in die entgegengesetzte Ecke des Raumes. Von da an ging alles gut.

Donnerstag: Kulturprogramm, zweiter Teil – Verschiedenes.
Wir fuhren mit meinem Wagen zum Kulturforum. Viele alte Bilder in der Neuen Nationalgalerie. Erwartungsgemäß wurde Irene nach einer Weile genauso flau, als befände sie sich in der Lebensmittelabteilung des KaDeWe, obwohl es hier nur Schinken gab; von Guntram ganz zu schweigen. Von Zeit zu Zeit sagte Irene: Hier kann man ja Tage zubringen, aber sie war doch ganz froh, als ich sie nach anderthalb Stunden ins ‚Einstein‘ fuhr. Das Wetter war gut, wir saßen im Garten und aßen Österreichisches. – So schön kann Berlin sein.
Danach brachten wir Guntram zu einer Taxe und gingen selbst in die Ausstellung Böcklin – Max Ernst – Chirico. So ab dem elften Gemälde fragte mich Irene nicht mehr nach der Bedeutung der Bilder, sondern danach, wie ich mich verhalten würde, wenn sie gleich in Ohnmacht fiele. Mir fiel es schwer, das abzuschätzen, zumal ich meinerseits damit beschäftigt war, mich aufrecht zu halten. Aber wir standen es doch bis zum Ende durch und verließen die Halle bereichert.

Nach einer Zeit der Rast gingen wir, wieder zu dritt, zum ‚Adlon‘, wo wir in der Halle auf Justus Frantz stießen, der sagte, er habe Sehnsucht nach mir, wir müssten uns bald sehen. Ich bekam zwei Handynummern und einen Händedruck, bevor wir die ‚Linden‘ herunterliefen zum ‚Opern-Café‘. Dort aß Guntram eine Kartoffelsuppe, Irene einen Käsekuchen, ich gar nichts. Ich war noch satt vom Mittag und hatte im Übrigen sechs Durchfälle hinter mir und einen Zigarrenraucher neben mir. Es dunkelte schon, die klassizistischen Fassaden wurden künstlich beleuchtet, die abgebröckelten und verschandelten waren nicht mehr zu sehen – ein erhebender Anblick der deutschen Hauptstadt. Mit Hochgefühl im Herzen und Grummeln im Magen ging ich ins Bett.

Freitag war Ausflugstag. Ich fuhr meine Eltern von Stadtmitte über Kreuzberg, Schöneberg, Friedenau, Steglitz und Lichterfelde zum Wannsee, wo wir gerade rechtzeitig zur großen Fahrt nach Werder eintrafen. Das Wetter schien gut. Der Himmel war ziemlich blau, die Wimpel flatterten. „Es ist windig“, sagte Guntram, als das Schiff in Richtung Kladow aufbrach. „Das ist kein Wind“, sagte Irene, „das ist ein Orkan!“
Dabei hatte ich in einer Aldi-Tüte extra die Hotelkissen mitgebracht, um diese Fahrt noch genussvoller zu gestalten als die vorige. Ich machte – um die Wette mit der plärrenden Stimme vom Tonband – meine Eltern auf die Pfaueninsel, Nikolskoe, Sacrow, die Glienicker Brücke, Schloss Babelsberg, Potsdam und Caputh aufmerksam, aber sie waren doch sehr damit beschäftigt, ihre Hüte festzuhalten. Außerdem störte es Irene, dass die Tonbandstimme so grässlich tendenziös daherkam, weil sie verschwieg, was für ein Sauladen die DDR gewesen war.
Die letzten zwanzig Minuten verbrachten wir im Bauch des Schiffes unter dem Deck, auf dem die ganzen alten Frauen Kaffee tranken und Würstchen aßen. Auf diese Weise wollten wir unsere Glieder für den Fußmarsch in Werder aufwärmen.
Irene sagte die ganze Zeit: „Mein Gott, so gut hätte ich es schon die letzten beiden Stunden haben können!“, was ich etwas unfair fand. Dann mussten wir aussteigen, das heißt, wir wollten aussteigen, denn sonst hätten wir noch mal zweieinhalb Stunden zurückfahren müssen, woran uns nicht gelegen war.
Guntram fand die Wanderung auf dem schadhaften Kopfstein ein wenig beschwerlich, für mich war es denkwürdig, mir vorzustellen, dass Guntram schon vor siebzig Jahren auf demselben Pflaster gelaufen war. Von drei sehr einheimisch aussehenden Frauen ließ ich mir den verschlungenen Weg zu einem Fischlokal weisen, in dessen erstem Stock wir Aufnahme fanden. Als Erstes bestellten wir einen Fischergeist, an dem sich Guntram den Bart versengte, dieser süße Schnaps wird nämlich brennend serviert, was man aber im gleißenden Sonnenlicht nicht sehen konnte. Ich aß frischen Zander, Guntram und Irene meinten, es müsse ‚Aal grün‘ sein, den Guntram wie üblich klagloser wegschluckte als Irene, der er zu weich und zu lasch war.
Wir wollten anschließend an die Mahlzeit mit einer Taxe zum Bahnhof fahren, von dort mit dem Zug nach Potsdam und dann mit der S-Bahn bis Wannsee. Aber als wir erst mal im Auto saßen, wollte ich doch lieber gleich bis Potsdam durchfahren, und als wir in Potsdam waren, fragte Irene: „Wie weit wäre es denn bis Wannsee?“ Guntram schlief.
So kam es, dass die Taxe direkt neben meinem Wagen hielt und ein Fahrradfahrer ‚Scheißvolk‘ schrie, weil er sich durch uns beeinträchtigt fühlte.

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: Anna_Kim (Steinplatte)

Hanno Rinke Rundbrief

35 Kommentare zu “#1.13 | Mittendrin und außerhalb

  1. Es wird alles so beiläufig geschildert, und trotzdem klingt das nach einem aufregenden Leben. Wer trifft denn schon Justus Frantz auf einen kurzen Small Talk in der Lobby?

  2. Was für eine Aufführung! Und all das gab es in Musicalform? Man lehnt sich wahrscheinlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass sie nach der Pause nicht viel verpasst haben.

      1. Das ist wohl richtig. Gerade weil Theater oder hier Musical ja so subjektiv ist.

  3. Man kann Guntram ja verstehen. Wenn einem die Freunde nach und nach wegsterben … es gibt nicht viel Traurigeres.

      1. Da fragt man sich wahrscheinlich irgendwann ob es besser ist als Letzter übrig zu bleiben oder zu gehen bevor man ganz alleine bleibt.

      2. Last Man Standing…
        Man lernt ja meistens schon im Jugendalter / Partyalter, dass es besser ist, nicht der letzte zu sein, der eine Veranstaltung verlässt.

      3. Man will nicht der Letzte sein, aber gehen/sterben will man meistens auch nicht. Vielleicht sorgt Putin ja für den großen Kehraus für alle Beteiligten.

  4. Wird Aal grün eigentlich immer noch serviert? Mir ist das Gericht seit Ewigkeiten nicht mehr auf einer Speisekarte begegnet.

      1. Oh, dass man Aal die Finger lassen sollte, hatte ich gar nicht im Kopf. Das ist ja gut zu wisen. Danke.

      2. Der Aal, den man isst, ist ja meistens schon tot. Hummern werden in urigen Lokalen oft erst auf Verlangen des Gastes geschlachtet.

  5. So eine Bootstour müsste ich auch wieder mal machen. Am liebsten sind mir eigentlich die, die gar keine Lautsprecherdurchsagen machen. Wenn schon, dann muss das ein Reiseführer in live sein.

      1. Spätfrühling. Unter 20° macht das bei Fahrtwind keinen Spaß. Die kalauernden live-Unterhalter sind manchmal schlimmer als die halbwegs seriöse Stimme vom Band.

      2. Ich ignoriere das Band auch lieber als den Alleinunterhalter. Unkomplizierter.

  6. In der Neuen Nationalgalerie kann man wirklich Tage verbringen. Ich habe die Sammlung schon mehrere Male gesehen und muss sagen, dass ich trotzdem immer wieder gerne dort bin.

    1. Mich interessiert ja diese Neugestaltung durch Chipperfield auch sehr. Neugestaltung trifft es vielleicht gar nicht, Rekonstruktion oder Renovierung passt wahrscheinlich besser. Jedenfalls scheint das ja sehr gelungen zu sein.

      1. Außer dem neuen Shop und der Garderobe sieht ja alles wieder aus wie vorher. Nicht, dass das edie Leistung schmälern würde. Ich finde es ja sogar sehr beachtlich, dass so ein renommiertes Architekturbüro einen Job auf sich nimmt, der am Ende gar keine großen sichtbare Änderung am Gebäude mit sich bringt.

      2. Ja, da ist etwas dran. Andererseits finde ich es erstaunlich wie modern die Nationalgalerie auch heute noch aussieht.

  7. Die Hackeschen Höfen sind natürlich ganz hübsch, aber wohnen möchte man da ja wirklich nicht. Da laufen ja jeden Tag massig Touristen durch un machen ihre Fotos.

      1. Stimmt. Wenn ich einen Ort gerne mag, sei es ein Restaurant, eine Galerie, ein Laden, dann hoffe ich immer, dass er nicht gleich in allen Top 10-Listen auftaucht. Dann ist der Charme nämlich schnell dahin.

      2. Das lässt sich eben nicht vermeiden. Geheimtipps bleiben nicht lange geheim.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

zwei × drei =