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0402
WACHS!  —   1. Berlin-Reise / 1998

#1.01 | Ein Wechsel

Nach all den vielen Personen, die ich mir bloß ausgedacht habe, komme ich jetzt mal wieder auf einen realen Menschen: mich. Dabei beginne ich gleich ganz vorne, wie üblich.
Auf meinem Geburtsschein von 1946 steht ‚Schmargendorf‘, und auf meinem Abiturzeugnis von 1965 stand es genauso: ‚Schmargendorf‘. Nichts als ‚Schmargendorf‘! Ich war entrüstet und unternahm wie üblich – nichts: nichts gegen die zum Teil unnachvollziehbaren Zensuren – gegen die schmeichelhaften sowieso nicht – und nichts gegen die Verknappung meiner Geburtsstadt auf den Sitz des Bezirksamtes. Dabei habe ich mich aus einer Reihe von Gründen niemals unter dem Begriff ‚Deutscher‘ abgehakt, wohl aber als Berliner gefühlt. Wer im Länderspiel gewann, war mir egal, aber wie in Berlin abgerissen, gebaut und gelebt wurde: Es war mir wichtig. Das zerstörte, geteilte, umzingelte, trotzige, kämpferische, komische, überkandidelte, geschmacklose Berlin galt mir als gespenstisches Abbild und als leuchtendes Ideal – Ost wie West. Beides stand für beides: hell und dunkel – klar und verschwommen. Meine marmornen Empfindungen ließen sich nicht auf den aussageschwachen Ortsteil ‚Schmargendorf‘ reduzieren, dessen Symbolwert vor solch denkmalgeschützten Begriffen wie ‚Kreuzberg‘ oder ‚Mitte‘ zu Schutt zerfällt. Außerdem ist die Angabe schlichtweg falsch. Zur Welt gekommen bin ich, kurz nachdem der zuständige Arzt gegen acht Uhr abends die Geduld verlor: Er verpasste meiner Mutter eine krampflösende Spritze. Mein Vater behauptete, ihren Schrei noch im zwei Stockwerke tiefer gelegenen Wartezimmer gehört zu haben. Dieser Vorgang trug sich im Klinikum Dahlem zu, was ja bereits weit weniger ländlich klingt als ‚Schmargendorf‘.

Da war ich also. Hätte ich damals schon gewusst, dass ich sterben werde, wäre ich vermutlich sehr erleichtert gewesen – zumindest hätte ich mich wohl schneller mit dem Leben abgefunden. Denn dass ich nicht geboren werden wollte, stand ja nun fest. Noch dreißig, vierzig Jahre später, wenn ich von meinem Büro an der Alster aus zum Flughafen musste, fuhren manche Taxefahrer an Hamburgs Zentralfriedhof Ohlsdorf vorbei, und – meinen Flug, meine Aufgabe, mein Seinmüssen vor Augen – blinzelte ich oftmals zu den Gräbern hinüber: immer so ein bisschen neidisch. Ach, die Toten … unbeeinflussbar, wie sie sind; Einflüssen ausgesetzt, wie ich war, immer war, jeder Lebende immer ist. Zweifel, Bedenken, die Ratlosigkeit, welches meiner Selbste soll ich mitnehmen auf die Reise? Der Anzug, der überall passt, ist nirgendwo ganz richtig. Die ewige Ruhe … Der ewige Friede. Das ewige Kofferpacken. Damals.

Inzwischen reise ich kaum noch. Meistens sitze ich zu Hause … und schreibe. Immer habe ich geschrieben. Aber auch gelebt. Worüber hätte ich sonst schreiben sollen? Über Hirngespinste? Stillstand ist nicht vorgesehen. Entweder wir bleiben stehen, während die Zeit über uns hinwegtröpfelt, oder wir wachsen weiter, mit ihr. Blühen, welken. Ausgesucht haben wir uns das nicht. Aber so ist es nun mal. Wir müssen eingreifen und entscheiden: Selbst dann, wenn wir erkennen, dass unsere Zukunft in der Aufarbeitung der Vergangenheit besteht.

Diese Einsicht vor Augen habe ich jetzt zwei Briefe zu ein und demselben Thema herausgesucht. Die beiden tagebuchartigen Aufzeichnungen (ursprünglich fast länger als mein wahres Leben) möchte ich als Nächstes in meinen Blog stellen. Nach den vielen Erzählungen über erfundene Personen habe ich einfach das Bedürfnis, Sie, die Sie mir zuhören und zulesen, wieder mit ein bisschen Wirklichkeit zu unterhalten: Geschichte, Zeitgeschichte, meine Geschichte – Sie kennen das ja! Gleichzeitig möchte ich meiner bewundernswerten, unerträglichen Freundin Dorothee ein Denkmal setzen. Sie hat es verdient! All ihre Verächter und Bewunderer sind inzwischen – wie sie selbst – tot oder so schlecht wie. Ach, die haben sicher ganz ähnlich empfunden wie ich! Aber niemand von denen schrieb besser und traute sich mehr, als ich das tue. Also mach’ ich es!

Haupttitelgrafik mit Material von: Marcus Lenk/Unsplash (Häuser, hinten mittig und links), C Dustin/Unsplash (Wolke) und Shutterstock: ANDRIY B (Buch), Jan Martin Will (Baum), Wondervisuals (Haus, hinten links), Anibal Trejo (Fernsehturm), gomolach (Kerzenflamme), Marti Bug Catcher (Brandenburger Tor) | Titelgrafik: SOMMAI (Teller)

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “#1.01 | Ein Wechsel

    1. Ich beneide Menschen, die ihr Erlebtes so festhalten und ordnen können, immer ein wenig. Schreiben war nie meins. Dafür lese ich umso lieber. Schließlich geht nichts über Geschichten. Wahre genauso wie die ausgedachten.

      1. Wahrscheinlich neigt man deshalb auch so oft dazu selbst bei der Wahrheit immer ein bisschen Ausgedachtes unterzumischen. Als Gewürz quasi.

  1. Ah wunderbar! Ich hatte gehofft, dass der nächste Post wieder einmal etwas persönlich erlebtes sein würde. Genau der richtige Moment für solch eine Abwechslung.

    1. Auf diese Briefe freue ich mich auch. Es gab ja schon ein paar solcher Exemplare im Blog und die waren immer sehr unterhaltsam.

  2. Dabei ist doch der Moment in dem einem so richtig bewusst wird, dass man sterben wird, dass die Eltern und der eigene Partner sterben werden, recht hart zu verkraften.

      1. Die Angst vor dem Tod meiner Eltern hatte ich schon mit fünf.
        Salopp gesagt: als es viele Jahrzehnte später dazu kam, war ich einverstanden.

      2. Ich fürchte mich eher davor, dass ein Teil meiner Eltern am Ende allein und hilflos im Haus leben wird … bzw. wie ich das verhindern kann, obwohl ich einige 100km entfernt wohne.

      1. Ich bemühe mich ja, in meinen Erzählungen im Rahmen des Vorstellbaren zu bleiben. Dagegen freue ich mich immer, wenn ich für mein Tagebuch etwas Unvorstellbares erlebe.

      2. Manchmal ist die Realität ja sogar unglaubwürdiger als das was man sich ausdenkt…

  3. Das sagen sie völlig richtig: stehen bleiben oder weiter wachsen. Die Wahl sollte doch eigentlich recht naheliegend sein.

    1. Im Grunde ist die Wahl einfach. Aber im Alter verschiebt sich das schon auch ein wenig. Man bleibt dann zwischendurch öfters mal stehen wenn es die Welt zu eilig hat.

      1. Solange man nicht komplett still steht und abschaltet, ist doch auch jedes Tempo legitim. Wie schnell man sich fortbewegt sollte jeder für sich selbst entscheiden können.

      2. So läuft das zumindest wenn der Kopf fitter bleibt als die Füße es tun. Diejenigen bei denen das nicht klappt tun mir immer schrecklich leid.

    1. Das Gleiche gilt wohl auch für Hanno Rinke. Jedenfalls setzt ja nicht jeder seinen Freunden ein literarisches Denkmal.

      1. Wer Denkmäler schaffen will, tut das in dem Medium, das ihm liegt. Bei mir sind es Wort und Film. Therese von Brunsvik fand Beethovens Sonanten-Widmung sicher genauso schmeichelhaft wie Dora Maar ihre sehr besondere Darstellung durch Picasso.

  4. Mit meinem Geburtsort identifiziere ich mich auch überhaupt nicht. Aber was soll man tun? Wenn diese Info für irgend jemand nützlich ist, dann sollen sie es halt wissen.

    1. In meinem Pass steht Bremm.Obwohl ich dort nicht länger als ein halbes Lebensjahr gelebt habe, habe ich mir noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht.

      1. Ich liebe meinen Geburtsort Berlin. Das Standesamt Schmargendorf eher nicht. Mein Vater hat sich seines Geburtsortes Wurzen immer etwas geschämt. Er war dort nur seine ersten beiden Jahre und hat wesentlich länger als ich in Berlin gelebt.

      2. Es kommt bestimmt auch ein wenig darauf an, welche Erinnerungen man mit seinem Geburtsort verbindet. Da ist der Name oder die Größe der Stadt manchmal gar nicht das Entscheidende.

      1. Man merkt ohne jede Frage, dass in diesem Blog viel Arbeit und Herzblut liegt. Gelungen!

    1. Es ist immer wieder beeindruckend wir sehr sich dieser Blog von anderen abhebt. Qualitativ ist das ja wirklich kaum zu vergleichen.

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