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0603
WACHS!  —   1. Berlin-Reise / 1998

#1.14 | Essen gehen

Als wir wieder in der Stadtmitte waren, gab es noch genug Zeit, um sich für den Abend auszuruhen. Da sollte ein Essen mit meiner Cousine Marina, ihrem Mann Florian und Dorothee stattfinden. Guntram war das sehr recht gewesen. „Ein Aufwaschen“, sagte er, aber Irene hatte erhebliche Bedenken geäußert. – „Na, was kann die Marina der Dorothee sagen, was sie nicht schon von Pali weiß?“, hatte Guntram Irene beschwichtigt. Erst am nächsten Tag fiel ihr ein, dass ja auch Marina etwas von Dorothee lernen könnte; aber da war es schon zu spät, denn da hatte ich die Einladungen bereits ausgesprochen. Und zwar hatte ich das ‚Four Seasons‘ vorgeschlagen, weil es nahe für uns und gediegen ist – voreilig, wie sich herausstellte, denn auf unserem Weg vom beanstandeten Musical hin zum beliebten ‚Trentasei‘ waren wir gestern Abend am Speisesaal des ‚Four Seasons‘ vorbeigekommen. Irene hatte durch die Gardine geguckt und es störte sie, dass man von draußen durch die Gardine gucken konnte. „Nein, da will ich nicht hin“, entschied sie spontan. Außerdem war es ihr zu plüschig.

Am Vorabend hatten wir Guntram zehn Minuten lang sitzen gelassen und waren vom ‚Operncafé‘ hinübergegangen zum Palais am Festungsgraben, in dessen erstem Stock sich das Künstlerlokal ‚Möwe‘ befindet. Obwohl positiv auffiel, dass Guntram und Irene schon 1948, wenn auch unzufrieden, dort gewesen waren, missfielen Irene die Räumlichkeiten und die Treppe. Das war aber kein Problem. Erstens gab es einen Fahrstuhl und zweitens eine sehr schöne und elegante Terrasse mit Markise. Nach längerer Beratschlagung entschieden wir uns dann aber doch für den ‚Modellhut‘, den wir alle nicht kannten, von dem aber Dorothee gesagt hatte, dass das Essen sehr gut sei. Ich ließ es zehnmal klingeln, es nahm keiner ab. Sommerpause, vermutete ich, doch Dorothee sagte am nächsten Tag: „Sicher eingegangen. Die gehen hier alle ein.“ Ich bestellte zwar einen Tisch auf der Terrasse in der ‚Möwe‘, aber unsere Gäste doch sicherheitshalber in meine Suite, damit im Laufe des Tages noch Änderungswünsche entgegengenommen werden konnten, ohne dass gleich alle verständigt werden mussten. Natürlich waren alle drei sehr pünktlich, Dorothee war ganz glücklich, Irene war mit ihrer Frisur unzufrieden, und ich schenkte meinen zu viel gekauften Aldi-Wein aus. Dann fuhren Guntram, Florian und Marina zusammen und Irene, Dorothee und ich in meinem Wagen. Die Strecke zurückzulegen dauerte drei Minuten, die Parkplatzsuche eine Viertelstunde.

Als Irene, Dorothee und ich im Restaurant eintrafen, saßen die anderen drei mitten in dem hässlichen Raum, weil es Guntram draußen zu kalt gewesen war. Irene und ich gingen vor die Tür, wo ein Tisch wunderschön für uns gedeckt war. „Hier hätte ich gerne gesessen“, sagte Irene wehmütig. Dann gingen wir zu den anderen. Als wir unsere Servietten entfaltet hatten, stellte Guntram fest, dass er im Zug saß. Wir wechselten deshalb an einen Tisch an der Wand. Dort wiederum konnte Irene den Zug nicht ertragen. Marinas Angebot, die Plätze zu tauschen, mochte Irene aus Hochherzigkeit nicht annehmen, aber Marina versicherte ihr, dass sie kleiner sei als meine Mutter und deshalb von der hohen Rückenlehne geschützt würde. Damit konnten wir dann zur Essensauswahl und zu den Tischgesprächen kommen.
Dorothee überraschte dadurch, dass sie sich die meiste Zeit mit Irene unterhielt und sich bei dieser Gelegenheit in Meran einlud: „Ich würd’ euch so gern mal wieder besuchen!“ Marina erklärte Guntram unumwunden, dass sie die Hindenburg-Familie erträglicher fand als die Rinkes, was Guntram so nicht stehen lassen mochte, obwohl sie sich ausdrücklich auf die Heribert1-Sippe bezog. So verging der Abend wie im Flug.
Als wir aufbrachen, verschwand Dorothee auf die Toilette und kam nicht wieder. Nach zehn Minuten ging Irene zur Damentoilette und rief: „Dorothee.“ Dann ging ich und rief: „Dorothee.“ Da wollte Marina nicht zurückstehen und rief auch noch mal ins Klo, während Florian und Guntram schon unten warteten.
Schließlich kam Dorothee von den Linden her. Sie war uns über die Hintertreppe entwischt und hatte beim Wagen gewartet. Um so überraschender, dass sie Florians Angebot, sie nach Hause zu bringen, ablehnte. „Ich fahr’ mit dem Bus. Ich fahr’ immer mit dem Bus.“ – Diesmal nicht, ich nötigte sie ins Auto, und sie sagte: „Vielen Dank! Es war sehr schön.“
Schon vor sechsundzwanzig Jahren hatte mein damaliger Chef gesagt: „Sie kennt nur Firma und Künstler, sie wird später mal niemanden mehr haben.“ – „Schrecklich“, hatten die anderen kopfschüttelnd zugestimmt.
Na ja, und jetzt hat sie – unter anderen – mich.

Who is who (Akkordeon)

1 – Heribert

[ˈhɛʁibɛʁt]

Heribert – ein jüngerer Bruder meines Großvaters. Mit dessen Linie werden wir es im zweiten Teil von ‚Wachs!‘ zu tun bekommen.

Titelgrafik mit Material von Shutterstock: SuperMagic (Steinplatte)

Hanno Rinke Rundbrief

37 Kommentare zu “#1.14 | Essen gehen

  1. Firma und Künstler muss ja nicht heißen, dass man später noch alleiner ist als es ohnehin unausweichlich der Fall ist. Firma und Künstler können ja zu Freunden werden. Es heißt ja nicht automatisch, dass man keine engeren Kontakte hat.

      1. Ja da bietet es sich ja immer an den Anderen klein zu reden oder schlecht zu machen.

      2. Das ist immer traurig, wenn Menschen andere klein machen müssen um selbst ein wenig größer zu wirken. Nicht?

  2. Ich habe jetzt schon so oft gehört, dass Aldi tatsächlich gute Weine hat. Ist das aus Ihrer Sicht tatsächlich so? Bisher hat mich noch keiner überzeugt.

      1. Ich habe allerdings auch im Alltag noch nie bei Aldi gekauft. Mir war immer das Risiko zu groß am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufzuwachen. Aber das mag zugegebener MAßen Vorurteil sein.

      2. Kopfschmerzen macht, glaube ich, nicht schlechter, sondern süßer Wein. Den trinke ich nicht und bin auch nach reichlichem Alkohol-Genuss nicht verkatert. Die Leberwerte sind etwas anderes …

      3. Man hat mir mal erklärt, dass ein besonders hoher Anteil an schwefliger Säure für die Kopfschmerzen verantwortlich ist. Ob dieser dann entsprechend in süßeren Weinen auftritt kann ich aber auch nicht sagen.

      1. Das ist ja bei den meisten Unterhaltungen so. Interessante Gesprächspartner machen aus jeder kleinen Begebenheit eine tolle Geschichte.

  3. Na aber nach dem ganzen Restaurant-hin-und-her interessiert mich nun: was gab es denn letztlich überhaupt zu essen?

    1. Es scheint jedenfalls nicht in besonderer Erinnerung geblieben oder einer detaillierteren Erwähnung wert gewesen zu sein. Auch das ist doch eine Aussage.

  4. Es gibt immer noch viele Orte, die ich bei meinen Berlinbesuch völlig ausgelassen habe. Das Adlon hat mich z.B. nie wirklich gelockt.

    1. Ich war auch noch nie auf dem Fernsehturm. Aber seitdem ich hergezogen bin mache ich auch kaum solche touristischen Ausflüge. Höchstens mal, wenn jemand zu Besuch kommt und die Stadt noch nicht kennt.

      1. Es macht doch auch viel mehr Spaß gemeinsam ins Leben einzutauchen als sich auf die Hotspots zu konzentrieren.

      2. Naja, eine Mischung ist schon nett. Schließlich gibt es für viele Orte ja einen guten Grund warum sie sich zu Touristenattraktionen entwickelt haben. Geschichte muss ja nicht immer langweilig sein.

    1. Man sollte schon davon ausgehen, dass ab und an ein paar Künstler einkehren. Ansonsten würde man es einfach Lokal nennen.

    1. Hahaha! Schon unglaublich, dass das eine eigentlich sehr ernst gemeinte Episode der amerikanischen Politik gewesen ist. Man kann über so etwas ja wirklich nur staunen.

      1. Oder sich fürchten! Mich erschreckt es ehrlich gesagt nämlich, dass um die 50% der Amerikaner denken, dass solch eine Truppe an Clowns ihr Land regieren kann. Eines der mächtigsten Länder der Welt!

      2. Eine Wiederwahl Trumps 2024 scheint ja gar nicht so unmöglich zu sein. Schon eine absurde Zeit, in der wir leben.

      3. Momentan sehe ich nur zwei Szenarien. Putin bleibt bis zum Ende hart und zieht den Westen in einen dritten Weltkrieg oder es gibt ein Attentat oder ähnliches und er verschwindet. Dass sich einfach wieder alles beruhigt kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

      4. Putin braucht zumindest oberflächlich einen Grund um diesen Krieg zu beenden. Er kann nicht einfach seine Truppen abziehen und seinem Volk erklären, dass die Aktion ein Reinfall war.

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