1. Berlin-Reise / 1998

In Berlin bin ich geboren, eingeschult und ausgebildet worden. Dort habe ich mich beim Film beworben, meine Siemens-Lehre begonnen und Schallplattenaufnahmen gemacht. In Berlin suchte ich kurze Abenteuer und fand meine große Liebe. Das alles lag hinter mir, als ich mich Ende des vorigen Jahrhunderts wochenlang auf das wiedervereinte Berlin einließ – und vor mir lag eine neue Stadt.

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#1.15 | Fontane, Kaserne, Mansarde

Sowohl Dorothee als auch Marina hatten mit mir nach Neuruppin fahren wollen, die Fontanestadt am See. Ich hatte die Aufforderung ausgeschlagen, mit dem Hinweis darauf, dass Neuruppin ja auf meinem Rückweg läge und ich die Stätte dann mit meinen Eltern gemeinsam besichtigen könnte.

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#1.14 | Essen gehen

Als wir wieder in der Stadtmitte waren, gab es noch genug Zeit, um sich für den Abend auszuruhen. Da sollte ein Essen mit meiner Cousine Marina, ihrem Mann Florian und Dorothee stattfinden. Guntram war das sehr recht gewesen. „Ein Aufwaschen“, sagte er, aber Irene hatte erhebliche Bedenken geäußert.

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#1.13 | Mittendrin und außerhalb

Mittwoch: Lankwitz. – Die Kindheitslocation meines Vaters ist noch schlimmer gebeutelt als meine eigene. Der Park, in dem er mit seinen Brüdern und Freunden gespielt hat, blüht nach wie vor, aber die Häuser sind alle weg und durch erbärmliche Wohnsilos ersetzt worden. Immerhin, die Proportionen stimmen noch ...

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#1.12 | Ein schönes Geschenk

Michael rief heute an und fragte, ob wir uns treffen sollten. Bei Michael heißt das immer: Kulturprogramm. Er ergänzte auch gleich, in die Neue Nationalgalerie dürften wir aber nicht gehen, denn da ginge Jürgen hin, und der wolle mich immer noch nicht sehen. – Neben der Kalbs- und der Geflügel-, der groben und feinen gibt es noch die beleidigte Leberwurst, und die find ich besonders wenig schmackhaft.

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#1.11 | Reden und wissen, worüber

Nachdem Dorothee die Beköstigung ihrer Pariser Freundin plus Anhang mit Bravour gemeistert hatte, galt die nächste Einladung ihren ehemaligen Kollegen von den Festwochen und ihrer Französisch-Lehrerin. Ich hatte die Freude, wieder mit gebeten zu sein.

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#1.10 | Auf der Straße und auf Besuch

Wie alle preußischen Feldherren, so weiß auch Dorothee, dass Angriff die beste Verteidigung ist: Als das letzte Bild filmischer Böklin-Entwürdigung verflimmert war und die Beleuchtung zuschlug, rief sie gleich aus: „Hochinteressant! Ich fand das hochinteressant.“ Ich stimmte Dorothee durch Kopfnicken zu: Ja, sie fand es hochinteressant. Allerdings kann ich mich auch nicht daran erinnern, dass Dorothee jemals über irgendetwas zwischen Lessing und Ligeti gesagt hätte, dass es langweilig sei.

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#1.09 | Ein Maler auf der Leinwand

Dorothee hat meine Versessenheit auf Zusammenhänge nicht bloß verinnerlicht, sondern auch veräußerlicht. Kein Handwerker, kein Sterbender, kein Evakuierungsleiter hat den Mut, mich vor zehn Uhr morgens anzurufen, schon gar nicht meine Eltern. Wenn es also vor neun Uhr in der Früh’ bei mir klingelt und ich sollte wach und gar noch in Abnehmlaune sein, dann greife ich nach dem Telefonhörer und sage freundlich: „Guten Morgen, Dorothee.“

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#1.08 | Monumente hautnah

Mein nächstes Brecht-Erlebnis vereinte mich wieder mit Dorothee. Ich hatte mir am Sonntag durch emsiges Tippen ein kleines Nickerchen wohl, wenn auch spät, verdient. So war es nicht zu früh, als ich fünf vor fünf wieder aufwachte.

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#1.07 | Kultur und so

Das eigentliche Berlin-Erlebnis besteht darin, auf den Fahrstuhlknopf zu drücken, acht Sekunden abwärtszufahren, einen acht Meter langen Gang zu überwinden und durch eine Tür zu treten. Dann bin ich in Berlin. Geld krieg’ ich gleich im nächsten Eingang, eins weiter ist der Bäcker, auf dessen Tüten steht, wie toll seine Brote und Kuchen seien.

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#1.06 | Prominenz

Ich war zu früh an der Deutschen Oper an der Bismarckstraße, die drei Minuten später eintreffende Dorothee bloß überpünktlich. Endlose Schlangen vor der Kasse. „Siehst du“, sagte Dorothee, „war doch gut, dass ich schon gestern hier war.“ Dann begann Dorothee sofort mit dem Feilschen um das Eintrittsgeld.

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#1.05 | Volle Gläser

Von Dorothee zurück zum Alexanderplatz. Der ‚Kaufhof‘ dort (früher ‚CENTRUM Warenhaus‘) ist eine Sechzigerjahre-Perle: fensterlos, mit einer Art blaublechernem Fischgrätmuster aus Aluminium. Aber innen ist er ganz manierlich, und er bot all das, was mir bei Lafayette zu teuer gewesen war.

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#1.04 | Eingewöhnung

Der Gendarmenmarkt war eine Enttäuschung: ‚darm‘ drückte es am besten aus, aber auch – verkürzt – ‚arm‘ kam hin. Ein Open-Air-Festival fand statt, die mühevoll restaurierten Gebäude waren von Tribünen verdeckt, und alle, die das Geld nicht ausgeben wollten, um dort zu sitzen, konnten sich den Lärm auch auf den Treppenstufen der umliegenden Häuser anhören und unbekümmert ihre Hinterlassenschaft an zerknüllten Papieren, abgenagten Knochen und eingeknickten Pappbechern der Müllabfuhr überlassen.

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#1.03 | Rote und grüne Punkte

Ich fuhr noch tiefer in den Osten hinein, zur ‚Müggelseeperle‘. Meine Neugier war allerdings rasch gestillt. Natürlich hatte ich ein Schlösschen mit Seeterrasse erwartet, wie ich das vom Zürcher See her gewohnt bin. Stattdessen thronte ein verwitterter Betonklotz mit bösartigen kleinen Luken zwischen den Kiefern: Das war die ‚Perle‘,

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#1.02 | Rind im Mund

Es ist der 1. Juli 1998 und nicht zu fassen: Ich sitze in einem ‚Block House‘, Hamburgs prominentester Steakhauskette. Ich sitze hier, allein mit meinen Rechenkästchen. Ich schreibe sie voll, wie immer, Seite für Seite. Zum ersten Mal allein im ‚Block House‘. Sonst waren wir doch immer zu zweit, zu viert, zu sechst, seit fast dreißig Jahren.

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#1.01 | Ein Wechsel

Nach all den vielen Personen, die ich mir bloß ausgedacht habe, komme ich jetzt mal wieder auf einen realen Menschen: mich. Dabei beginne ich gleich ganz vorne, wie üblich. Auf meinem Geburtsschein von 1946 steht ‚Schmargendorf‘, und auf meinem Abiturzeugnis von 1965 stand es genauso: ‚Schmargendorf‘. Nichts als ‚Schmargendorf‘!

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Haben Sie Freude an meiner Vergangenheitsbewältigung? Dann gefällt Ihnen womöglich auch, was mich in der Gegenwart beschäftigt. Zu der äußere ich mich sonntags. Am Sonntagabend stehen immer drei neue Beiträge von mir im Netz. Dieses literarische Kleeblatt kröne ich gern mit Aktuellem. Meinen Neubrief können Sie abonnieren. Er nennt sich: ‚Newsletter‘.


Hanno Rinke

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