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Sprünge von Türmen  —   3. Kapitel: DER UNTÄTER

Schmelzen wie Schnee | #5

Die folgende Zeit hatte nur eine Überschrift, nur einen Namen: Marion!
––Die planlosen Spaziergänge im Grün sonnendurchfieberter Buchenwälder, die wiegenden Schatten auf Sandwegen an struppigen Wiesen entlang, der verschleiernde Dunst über der Pendelbewegung des Bootes. Das Glas Wein auf dem blendenden Tischtuch, an dem der Wind zerrte, das flatternde Haar, die einfühlsame Bewegung im Tanz, die Filme, Worte, Kerzen, Küsse – das alles war Marion, und dazu noch das Gefühl, geliebt zu werden und die Hoffnung zu lieben.
––Was war geschehen? Was hatte dieses Gesicht, diese Stimme, dieses Wesen in mir ausgelöst? Was hatte der Gleichgültigkeit allen Dingen gegenüber ihren schmerzenden Dorn genommen? War es ihre ganz persönliche Eigenart gewesen oder nur die Anfälligkeit meines damaligen Zustandes? Persönlichkeit oder Gelegenheit?
––Vielleicht hätte es in dieser Situation auch jede andere sein können, die mich aus dem Käfig meiner bisherigen Bindungen befreit hätte. Doch wer außer ihr hätte das geschafft? Und worin bestand die Befreiung? In einer neuen Einstellung, einer neuen Umgebung oder einfach in einem neuen Lebensgefühl, also einer unberechenbaren Stimmung, die jäh wieder umschwenken konnte?
––Ein lebhaftes Interesse in seiner negativen Form nennen wir ‚Neugier‘, in seiner positiven Form heißt es ‚Verliebtsein‘. Das ist natürlich übertrieben, aber trotzdem sind die Grenzen zwischen bloßem Forschungsdrang und wirklicher Anteilnahme gar nicht leicht zu ziehen.
Was wird aus Verliebtheit, wenn die oberflächliche Neugier gestillt ist, aber man ist nicht träge genug, darüber hinwegzusehen? Liebe oder Leere!

Ich saß in demselben Café, in dem wir uns kennengelernt hatten, doch diesmal drinnen. Ein scharfer Wind verstreute die Wolken unordentlich am Himmel. Von Zeit zu Zeit ging ein Regenschauer nieder, und manchmal stießen ein paar kalte Sonnenstrahlen herab in die hart glänzenden Pfützen. Kellner versuchten, so gut es ging, Würde und Eile miteinander zu verbinden, während sie unmäßig aufgedunsene Tortenstücke wie Kronjuwelen in die Luft hielten. Hin und wieder scharrten sie auch abgegessene, schmierig bunte Teller zusammen und fegten Krümel vom Tisch. Die Luft war stickig vom Lärm sinnloser Worte, von klappernder Geschäftigkeit, süßlichem Parfüm und von Zigarrenrauch, den manche Menschen für behaglich halten.
––Ich empfand die graue, aufgequollene Hässlichkeit der Leute als bedrückend und – zu meinem Erstaunen – als furchteinflößend. Ich fühlte mich unsicher in ihrer Gegenwart, so als wäre ich ihnen Rechenschaft schuldig, ohne sprechen zu können. Ich war ein Eindringling in ihrer sahnig-süßen, kaffeedurchtränkten Welt. Ihnen gehörte der Betriebsausflug, das Fernsehprogramm, die Sorge um die nächste Rate, wie Sprossen einer Leiter, an der man sich hoch- oder zumindest entlanghangelt. Ihre Gemeinsamkeit war wie eine Bedrohung gegen mich. Ich hatte keinen Anteil und durfte keinen haben.

„Warum starrt ihr mich an? Warum tuschelt ihr? Warum lacht ihr über mich? Ich habe euch nichts getan. Ich nehme euch nichts übel, nicht eure Gedankenlosigkeit, nicht eure Stumpfheit, nicht eure gnadenlose Beschränktheit, nichts! Also lasst eure feindseligen Blicke! Vielleicht bin ich etwas anders angezogen als ihr, vielleicht ist mein Gesichtsausdruck ein anderer, doch warum merkt ihr das gleich? Ihr seid doch sonst so dumm! Warum spürt ihr mich überall auf und erkennt mich? Warum lehnt ihr mich ab mit eurem dünkelhaften Klassenbewusstsein, jawohl Klassenbewusstsein! Oder, was noch schlimmer ist, warum geht ihr über mich hinweg, wenn ihr seht, dass ich da bin. Ihr meint, ich fände niemanden, der mit mir zusammen sein will? Das ist nicht wahr! Ich warte hier auf meine Freundin. Sie muss gleich kommen. Warum ist sie nicht schon da? Der Kursus ist um fünf zu Ende. Herr Ober, noch ein Bier bitte! Alkohol betäubt nachmittags so angenehm. Nein, der Stuhl ist nicht frei! Ich erwarte noch jemanden. Lasst mich in Ruhe! Ich liebe euch nicht. Ich hasse euch nicht. Ich will nichts mit euch zu tun haben. Ihr seid mir gleichgültig. Ich bin unangepasst, ein Außenseiter. Ich weiß das, und ihr wisst das. Vielleicht entwickle ich einmal eine Sozialtheorie und werde berühmt. Das wäre eine schöne Kompensation. Vielleicht kann es die Gesellschaft, in die ich hineingehöre, sogar geben. Wenn ich mich nur nicht so unerträglich fühlte! Das ist ganz unbegründet. Sie können mir gar nichts tun. Was können sie mir tun? Als Äußerstes? Sie könnten über mich herfallen und mich zertrampeln. Na und? Habe ich Angst vor den Schmerzen oder vor dem Tod? Fürchte ich den Tod? Nein! Hier habe ich alles kennengelernt. Hier reizt mich nichts mehr. Der Tod, das wäre eine neue Dimension. Oder fürchte ich mich doch? Ich möchte Marion mitnehmen. Ich möchte es mit ihr gemeinsam erleben. Aber wenn es dann nichts mehr zu erleben gibt? Ich will ja gar nicht sterben. Das ist alles nicht wahr. Ich denke das alles gar nicht. Ich denke nur, dass ich es denke. Mein Gott, ich werde verrückt!“
––„Na, du siehst ja ziemlich unglücklich aus.“
––„Marion!“
––„Ich seh’s schon. Die Leute hier. Du hältst sie wieder mal nicht aus.“
––Ich sah mich um.
––Die Menschen sprachen und lachten miteinander. Sie saßen zufrieden vor ihren Kuchenstücken oder ihrem halb vollen Glas.
––„Was willst du von ihnen?“, fragte ich. „Sie sind doch ganz gemütlich!“
––Marion zuckte die Achseln und setzte sich neben mich.
––„Wie war dein Vortrag?“, fragte ich.
––„Es ging alles ganz glatt. Kein Mensch hat Zwischenfragen gestellt. Oh, ich habe übrigens Sabine getroffen. Wenn du Lust hast, sollen wir heute Abend vorbeikommen.“
––Ich nickte. „Ja, gut!“
––„Du hast mir noch nie einen von deinen Freunden vorgestellt“, sagte Marion, als hätte sie schon lange darüber nachgedacht.
––„Sie sind unwichtig. Es gibt sie gar nicht. Es gibt sie nicht mehr. Seit ich dich kenne, sind sie noch unwichtiger als vorher. Ich habe seit Wochen niemanden mehr gesehen.“
––Sie schwieg und sah auf das Tischtuch.
––Ich berührte ihren Arm. „Wenn du da bist, fühle ich mich so sicher, dass ich dich gar nicht mehr brauche.“
––Sie lächelte ein wenig. „Wann beginnt dein Semester?“
––„Nächste Woche. – Freust du dich auf den Tod?“
––Sie sah kurz auf, dann senkte sie den Kopf wieder und seufzte. Ihre erschöpfte Resignation reizte mich.
––Ich wollte sie nicht quälen, bestimmt nicht, aber ich musste etwas sagen, ihren Widerspruch erregen. „Der Tod ist doch etwas Wunderbares! Dadurch, dass er so rätselhaft ist, lässt er das Leben unbegrenzt erscheinen. Eine Schranke, aber kein Ende. Ein Geheimnis, wenigstens ein Geheimnis, das niemals gelüftet werden kann. Allen ist es bewusst, und alle geht es an. Das Leben wird erst durch den Tod sinnvoll. Fast lohnt es sich wirklich, durchzuhalten, um die Spannung auszukosten. Aber allmählich wird man ungeduldig. Man fragt sich: Was steckt wohl dahinter? Ist dieses Leben nur ein Vorspiel? Dann sollte man endlich zum Hauptteil übergehen! Oder ist nach diesem Leben alles vorbei? Dann lohnt sich der Aufwand nicht, weiterzuatmen. Ich verstehe nicht, warum sich nicht ganze Völker ausrotten, wenn sie unterdrückt werden, in Hunger und Elend leben. Warum kommen viel häufiger Menschen im Überfluss auf diese Idee – so wie ich! Ist das bisschen Sicherheit und Luxus, das ich besitze, wirklich so reizvoll, dass es die, die das auch haben wollen, am Leben hält? Oder ist der Selbsterhaltungstrieb bloß Ehrgeiz und Machthunger, diese idiotische Hoffnung, alles das zu erreichen, was unerreichbar ist? Aber vielleicht sind die meisten Menschen tatsächlich zufrieden damit, ein Kalenderblatt nach dem anderen abzureißen und die Summe der Blätter ‚Leben‘ zu nennen!“
––Marion sah mich an, aber nur oberflächlich, als betrachtete sie meine Haut. „Du redest und du denkst zu viel. Du analysierst alles und zerstörst es dadurch!“
––„Ich weiß! Aber was soll ich tun? Ich weiß es ja selber, aber was soll ich denn machen? Man kann sich die Ohren zuhalten, man kann sich etwas vor die Augen kleben, aber man kann doch nichts tun, um sich am Denken zu hindern!“
––Wieder zuckte Marion die Achseln. In ihrem Blick lag Ratlosigkeit und etwas, das ich als Abneigung deutete.
––Ich wünschte mir so heftig, fort zu sein, mit so krampfhafter, verzweifelter Sehnsucht, dass ich den Schmerz in jedem Muskel spürte.
––Doch äußerlich geschah nichts. Kein Zögern, kein Innehalten, kein Ausbrechen. Nur Tortenberge und Geschwätz.
––Ich trank mein Bier aus und zahlte.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nora_n_0_ra (Porträt Mann), Kateryna Tsygankova (Schwimmer), Davizro Photography (Daumen runter), Dean Drobot (Frau mit Champagnerglas), bellena (Café), Look Studio (Frau links)

28 Kommentare zu “Schmelzen wie Schnee | #5

  1. „Freust du dich auf den Tod“ ist natürlich eine ganz schreckliche Frage. Da wäre ich wahrscheinlich sprachlos gewesen.

    1. Andererseits will man doch auch nicht andauernd Gespräche führen wo man sowohl Fragen wie Antworten in und auswendig kennt. Ich finde es ja eigentlich immer erfrischend, wenn man mit so einer Art Frage überrascht wird.

      1. Ich glaube, dass meine Großmutter sich auf den Tod gefreut hat. Schon an ihrem letzten Geburtstag bat sie in eleganter Umgebung darum, darauf zu trinken, dass sie den nächsten Geburtstag nicht mehr erleben muss – Champagner! Bei Alten und Todkranken ist das verständlich, bei Depressiven auch. Christian sagt es aber als Provokation.

      2. Klar, irgendwann ist man soweit im Leben fortgeschritten, dass der Tod fast schon wieder Erlösung ist. Da muss man aber natürlich wirklich ein hohes Alter erreicht haben oder sehr schwer krank sein.

      3. Bei meiner Großmutter war das ähnlich. Ich würde zwar nicht unbedingt sagen, dass sie sich darauf gefreut hat, aber sie hat den Tod sicherlich herbeigesehnt. Irgendwann hatte sie einfach nicht mehr die Lust und die Kraft weiter zu leben.

  2. Also grundsätzlich kann man Menschen ja selten sagen was sie tun oder nicht tun sollen, aber jemandem zu sagen, dass er zu viel denkt ist ungefähr genauso nützlich wie zu sagen „reg dich nicht auf“ oder „entspann dich doch mal“.

    1. Recht hat Marion wohl. Aber Sie ebenso, Frau Bernauer. Jemand wird nicht weniger nachdenken und analysieren wenn man ihm sagt „du denkst zu viel“.

      1. Klar, trotzdem denke ich immer, das solche Aussagen ziemlich unnütz sind.

      2. Manchmal sagt man Dinge ja auch eher für sich selbst, als zwangsläufig um sein Gegenüber zu beeinflussen. Bzw. auch wenn dieses „Du denkst zuviel“ keine direkte Veränderung herbeiführt, ist das Aussprechen möglicherweise als mittel-/langfristige Info hilfreich.

  3. Das Gefühl geliebt zu werden und die Hoffnung zu lieben – genau in dieser Reihenfolge würde ich das auch nennen. Es gibt ja wenig Schöneres als selbst verliebt zu sein.

      1. Meistens ist es ja so, dass eine Person immer ein wenig mehr liebt als die andere. Dann ist auf lange Sicht das Drama schon immer auch mit einprogrammiert.

      2. Es gibt ja sogar genügend Beispiele für Goldene Hochzeiten bei denen sich die Ehepartner nicht ausstehen können.

      3. 1960 lag die Scheidungsrate in Deutschland bei 10,66%. 2005 bei 51,92%. Mittlerweile ist die Rate wieder auf 35,79% zurückgegangen. Was das für die Liebe heisst kann jeder selbst entscheiden.

  4. Alkohol betäubt nachmittags wie abends. Aber leider nicht für besonders lange. Deshalb habe ich mir das Trinken schon seit längerer Zeit ziemlich abgewöhnt.

      1. Ich finde es sehr angenehm, dass Alkokol außer beim Komasaufen nicht allzu lange betäubt – oder aufputscht. Ein Leben in ewiger Nüchternheit ist dagegen für mich keine sehr beflügelnde Aussicht.

      2. Ach so ein Gläschen Alkohol mögen wir doch fast alle gerne, nicht wahr? Muss ja nicht gleich eine ganze Flasche Vodka sein. Dann überwiegen die Nebenwirkungen natürlich schon.

  5. Das Leben ist schon ein Mysterium. Denn man entscheidet ja in der Regel eben nicht, es einfach so zu beenden, weil man zum Beispiel in Hunger und Elend lebt.

    1. Ich glaube dieser Überlebenswillen ist uns allen genetisch eingepflanzt. Damit wir irgendwie durch dieses Leben navigieren können ohne zwischendrin aufzugeben.

      1. Erziehung und Umwelt spielen auch eine Rolle. Bei den Samurai war der Seppuku 切腹 ehrenvoll, bei den Christen kam der Selbstmörder erst auf den Schindanger und dann in die Hölle. Weckt Elend Überlebenswillen und Luxus Überdruss? Die Juden von Masada 74 n.Chr., der Depressive an den Gleisen. Lebensmüde und Hoffungslose gab es immer und überall.

      2. Ausnahmen gibts es natürlich immer, aber die Regel stimmt doch trotzdem so, nicht?

      3. Ein Spruch, ich weiß. Manchmal stürzen die Ausnahmen aber auch die Regel. Johanna Kappes war die erste Studentin in Deutschland. 1904 erhielt sie ihre Approbation als Ärztin. Heute studieren erheblich mehr Frauen als Männer Medizin.

      4. Wenn es eine Regel wäre, dass Ausnahmen die Regel bestätigen, dann wäre das also schon wieder die Ausnahme zu dieser Regel 🤯

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