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Sprünge von Türmen  —   3. Kapitel: DER UNTÄTER

Schmelzen wie Schnee | #7

Dicht neben uns warf jemand ein Glas um. Es gab Geschrei und Gelächter. Marion stand mit ihrem Tanzpartner in einer Ecke und nickte zu seinen Worten verständnisvoll mit dem Kopf.
––„Also der Tod beschäftigt dich nicht“, sagte ich, „und das Laster?“
––„Ach, das Laster!“ Aimee war wieder ganz bei der Sache. „Früher habe ich mich über jede Kleinigkeit entrüstet. ‚Sünde‘, das war für mich unappetitlich, klebrig, schmutzig. Heute ekle ich mich vor nichts mehr. Es gibt nur gewisse Dinge, die mir keinen Spaß machen. Außerdem lässt sich seelischer Schmutz genauso gut abwaschen wie körperlicher. Nur während man für äußeren Dreck warmes Wasser braucht, muss man für inneren kaltes Wasser haben.“ Sie lachte. „Wenn ich mir so richtig verwahrlost vorkomme, dann stelle ich mich unter die kalte Dusche, und mein seelisches Gleichgewicht ist wiederhergestellt.“
––„Du hast es gut“, sagte ich. „Ich fühle mich nie verwahrlost. Ich kann also auch nichts abwaschen.“
––„Ja, das ist schlecht“, ihre Stimme bekam eine dunklere Klangfarbe. „Unschuld macht nur überheblich, aber nicht glücklich. Du musst dir erst mal ein paar Narben geholt haben, dann vergeht dir auch die Schwärmerei für den Tod. Wenn dein Leben erst ein paar Kratzer hat, dann willst du es nicht mehr hergeben. Schon für Kinder ist die abgewetzteste Puppe die schönste.“
––„Ich schwärme nicht für den Tod“, sagte ich. Ich wollte sie abwehren.
––„Es klang aber so“, antwortete sie.
––Ein junger Mann beugte sich zu ihr, um sie zum Tanzen aufzufordern.
––Sie lächelte. ‚Gewinnend‘ heißt das wohl, und in ihrem Blick lag dieselbe warme Vertraulichkeit, die sie auch mir gleich gezeigt hatte.
––„Nein, jetzt nicht, Ulli! Später.“ Der einschmeichelnde Tonfall ihrer Stimme war sicher nicht echter als ihre Wimpern, aber es war angenehm, neben ihr zu sitzen und ihr zuzuhören. „Was reizt dich so am Tod?“, fragte Aimee mich sanft.
––„Du bestehst offenbar darauf, dass ich den Tod reizvoll finde“, sagte ich.
––„Und? Stimmt das nicht?“, bohrte sie weiter.
––„Ich möchte dich etwas anderes fragen: Würde dich das Leben reizen, wenn es den Tod nicht gäbe?“
––„Ja natürlich! Ich denke doch kaum an den Tod. Ich genieße mein Leben, weil es abwechslungsreich und interessant ist, nicht, weil es vorbeigeht.“
––„Du kennst aber seine Begrenzung; auch wenn du nicht ständig daran denkst, ist sie dir doch immer bewusst.“
––„Ach wo, das spielt für mich gar keine Rolle.“
––„Aber es muss dich doch interessieren, was danach kommt!“, sagte ich. „Es muss dich doch fesseln, was mit dir passiert, wenn das alles hier vorbei ist! Ich habe schon jetzt kaum noch Lust, mich daran zu beteiligen. Es stößt mich ab! Dieser ganze Kreislauf von Verführen, Verführtwerden, Verführenwollen und Verführenlassen. Dieses Flirten mit den eigenen Fähigkeiten und Schwächen finde ich ganz einfach langweilig. Wenn ich irgendein großes Talent hätte, etwas, das mich ausfüllt, wofür es sich lohnte zu leben, zu arbeiten und sich zu verwirklichen, aber ich muss mich auch noch mit meiner eigenen Unzulänglichkeit abfinden. Nicht mal Ideale habe ich, für die ich je nach Bedarf leben oder sterben könnte. Denn hinter jedem Ideal sehe ich die verzerrenden Fratzen von Dünkel, Borniertheit, Intoleranz und Unzulänglichkeit. Es gibt nur ein Ziel, für das es sich lohnt, das Leben einzusetzen: den Tod. Hier erwarte ich kaum noch etwas, das mich begeistern könnte. – So warte ich auf einen Neubeginn – oder das Ende.“

„Mein Gott! Ein Philosoph. Und ein angeekelter noch dazu. Existenzialismus war gestern, heute ist Hedonismus angesagt.“
––Ich schwieg.
––Sie versuchte einzulenken: „Du willst dich also auch begeistern lassen, nur es gelingt dir nicht“, sagte Aimee. „Aber das kommt manchmal ganz plötzlich, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet. Nur: Ich fürchte, das wird dich im Augenblick wenig trösten.“ Sie seufzte. „Wir sind uns, glaube ich, ziemlich ähnlich, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Wir würden uns gut ergänzen.“ Sie blieb ernst. „Schade, dass du nicht mein Typ bist. Aber wenn man nicht miteinander schlafen kann, ist es doch nur Quälerei! Dann lässt man es besser gleich.“
––„Und dein Chef?“, fragte ich.
––„Das ist ein Arbeitsverhältnis, keine Freundschaft.“ Sie blieb sachlich.
––Aus irgendeinem Grund überlegte ich krampfhaft, wie trügerisch wohl die augenscheinlichen Ausmaße ihres Brustumfanges sein mochten. Dabei muss ich sie etwas zu eindringlich angestarrt haben, denn sie stand plötzlich auf.
––„Ist das da hinten deine Freundin?“, frage sie und wies mit dem Kopf in Marions Richtung.
––Ich nickte.
––„Sie ist reizend“, sagte Aimee, „nur – sie passt überhaupt nicht zu dir.“
––„Wer würde denn zu mir passen?“, fragte ich.
––Aimee sah mich einen Augenblick lang abschätzend an. „Dir kann keiner helfen“, sagte sie. „Das musst du schon selber schaffen.“ Dann schlängelte sie sich verbindlich lächelnd zwischen den Tanzenden hindurch zur Tür.

Gleich darauf kam Marion zu mir zurück.
––„Hast du noch immer nichts getrunken?“, fragte sie erstaunt. „Hier, nimm mein Glas!“ Sie setzte sich dicht neben mich, und ich spürte, wie wohl mir ihre Nähe nach wie vor tat. Bowle – ausgelaugt und zu süß. Ich trank das Glas trotzdem leer.
––An den Wänden schwammen Schatten auf und ab. Jemand öffnete ein Fenster. Der Luftzug ließ die Kerzen flackern. Draußen regnete es.
––„Hat sie dir gefallen?“, fragte Marion.
––„Interessant“, antwortete ich so gleichgültig wie möglich. „Kennst du sie?“
––„Natürlich!“ Marion lachte. „Aimee kannst du doch überall finden! Sie ist so eins von diesen Playgirls.“
––„Dann wundert es mich, dass sie heute Abend ausgerechnet hier ist“, sagte ich, „hier gibt es doch nichts zu spielen.“
––„Sie ist mit Helga in dieselbe Klasse gegangen“, erklärte Marion. „Ich kenne sie auch schon von früher.“
––„Sie schien dich aber nicht zu kennen.“
––„Das ist bei ihr alles Berechnung! Von der könnte ich dir Sachen erzählen …“
––„Die du selber gern machen würdest, wenn du nicht zu feige wärst“, sagte ich.
––„Was ist denn los mit dir?“ Marion sah mich erstaunt an. „Bist du immer noch schlecht gelaunt? Dann geh ich lieber zu Wolfgang zurück. Der war sehr nett zu mir.“

Eine andere sprach mich an.
––War heute irgendetwas besonders verführerisch an mir? Das Eau de Toilette oder die Schweißlosigkeit? Wer in Ruhe gelassen werden will, ist eine Fundgrube für Seelensucher.
––„Du bist traurig, und ich bin betrunken“, sagte sie.
––„Sieht man das?“, fragte ich mechanisch.
––„Na sicher sieht man das. Ich schwanke doch nur noch.“
––„Und warum bist du betrunken?“
––„Weil du traurig bist.“
––„Ich bin nicht – traurig.“
––„Dann bin ich nüchtern.“
––„Bist du allein hier?“
––„Kannst du malen?“
––„Nein, wieso?“
––„Mein Freund ist Maler. Wenn er high ist, malt er ganz toll.“
––„Und wenn er down ist?“
––„Dann tut er was dagegen.“
––„Das ist vernünftig. Das sollte ich auch tun.“
––„Morgen Abend um acht im Gneisenau-Park. Da hab’ ich was für dich.“
––„Was denn?“
––„Kommst du?“
––„Ich bin nicht in Stimmung.“
––„Nein? Warum nicht?“
––„Was willst du? Das Leben oder den Tod?“
––„Beides. Aber nacheinander, du Friedhofsfreak!“
––„Claudia, komm! Du musst nach Hause!“ Helga wurde energisch. „Du weißt doch, dass du nichts verträgst.“
––„Das Leben und den Tod. Nacheinander.“ Sie ließ sich wegzerren. „Aber morgen Abend um acht kommst du. Du hast es versprochen!“
––„Nichts habe ich versprochen.“
––„Ich warte trotzdem: auf das Leben. Und auf den Tod natürlich.“
––Helga brachte sie zur Tür. Ein stämmiger Typ packte sie am Arm.
––„Das ist nicht mein Maler“, rief Claudia mir zu, „das ist mein Pfleger!“
––„Sie ist sonst nicht so“, sagte Helga. „Sie hat Kummer.“
––„Wer nicht?“, sagte ich überflüssigerweise. Fing jetzt wieder die Langeweile in mir an?
––Helga legte Tamla-Motown auf: ‚Hot, Hot, Hot‘.
––Marion kam. „Der Seelentröster vom Dienst?“
––Das war wirklich keine witzige Bemerkung. „Ach, hör auf!“, sagte ich und zerbiss eine Salzstange. „Lass uns lieber tanzen!“
‚Stop! In the Name of Love‘.
––Wir bahnten uns einen Weg durch die Paare. Ein freier Platz war schwer zu finden. Ich suchte auch keinen. Jetzt in der Disco. Sich wegstrampeln. Ein wildes Baby. Ganz am Anfang sein.
––„Claudia hab’ ich nur ein Mal getroffen“, schrie Marion.
––Warum wollte sie überhaupt reden bei dem Lärm?
––„Aber komisch, dass du Aimee nicht kennst. Hast du noch nie Aktaufnahmen von ihr gesehen?“
––„Nun hör endlich auf!“, sagte ich und ging von der Tanzfläche. Es klang wohl heftiger, als ich wollte.
––Sie kam hinterher. „Bitte!“ Marion zuckte die Achseln. „Wenn du so begeistert bist von ihr, dann geh doch hin zu ihr! Bei Aimee kannst du heute bestimmt noch landen!“
––„Nein“, sagte ich, „sie hat mich nicht gewollt!“

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nora_n_0_ra (Porträt Mann), Kateryna Tsygankova (Schwimmer), Davizro Photography (Daumen runter), Dean Drobot (Frau mit Champagnerglas), bellena (Café), Look Studio (Frau links), Seprimor (Augen), Hihitetlin (Drink)

33 Kommentare zu “Schmelzen wie Schnee | #7

  1. Existenzialismus war gestern, heute ist Hedonismus angesagt. Der Satz stammt definitiv aus einer Zeit vor Corona 😉

  2. Wer im Leben keine Begeisterung mehr erwartet, der hat es unbestreitbar schwer. Ob da nach dem Tod bessere Zeiten warten, naja darauf sollte man sich ganz bestimmt auch nicht verlassen.

    1. Man bekommt bei der Unterhaltung zwischen den beiden ja eh das Gefühl, dass da hauptsächlich geflirtet und geschäkert wird. So richtig macht da niemand den Eindruck als ob der Tod wirklich als so reizvoll angesehen wird.

      1. Der Tod ist etwas, das wir nie richtig verstehen werden können. Da kann man noch solange forschen. Ich glaube, dass wir gerade deshalb so fasziniert davon sind.

  3. Ein Ideal macht doch fast nur Sinn wenn gleichzeitig Unzulänglichkeiten vorhanden sind. Von wo nach wo sollte man sonst streben?!

    1. Die einen gehen zum Tanzen in den Club, die anderen zum Socializen. So ist das nunmal.. jeder hat andere Vorlieben und Prioritäten.

  4. Der Vergleich mit den Kratzern trifft es vielleicht nicht ganz genau. Aber man lernt das Leben möglicherweise doch noch einmal anders wertschätzen, wenn man mit Verlust konfrontiert wird.

    1. Um die Endlichkeit des Leben am eigenen Leibe zu erfahren, ist es hilfreich, wenn das Hirn nach dem einschneidenen Erlebnis noch funktioniert. Im Sarg hat man doch meist ein Brett vor dem Kopf.

      1. Am eigenen Leibe heisst hier vielleicht auch im übertragenen Sinne Familie, Liebe, Freunde. Sich selbst kann man zwar auch verlieren, aber wahrscheinlich geht es in dem Argument doch um Verlust und Endlichkeit im Umfeld.

      2. Was soll an einem Leben schon interessant sein wenn nicht einmal weiss wie es endet.

      1. Traurig und lustig ist sehr selten, habe ich aber auch schon erlebt. Hat mir eigentlich ganz gut gefallen.

    1. 1968 war das. Rudi Dutschke wurde angeschossen, Martin Luther King und Robert Kennedy wurden ermordet, Daniel Craig wurde geboren. Senta Berger und Heinz Rühmann bekamen ‚den‘ Bambi. Tamla Motown: Marvin Gaye „In The Groove“. Er wurde 1984 von seinem Vater erschossen. Good old times.

  5. Die Idee, dass sich seelischer Dreck genauso einfach wegwaschen lässt wie körperlicher, ist zwar verlockend aber aus meiner eigenen Erfahrung leider nicht annähernd wahr. Man schrubbt an den seelischen Stellen doch weitaus länger als man für eine ordinäre Dusche braucht.

    1. Seelischer Dreck ist ja noch einmal etwas anderes als seelische Wunden. Die brauchen richtig lange. Aber ich würde Klaus Lambert zustimmen und damit Aimee widersprechen. Auch seelischer Dreck kann manchmal sehr sehr widerspentig sein.

    2. Umso ineressanter, sich solche – unglaugwürdigen – Ansichten anzuhören. Hier dienen sie zur Beschreibung derer, die sie aussprechen. Wir schreiben 1968. Da hört man von den Zeitgeschichtlern heute nur anderes. Aber dies hier ist Original. Verschweigen ist auch eine Form von Fake.

      1. Klar, aber es ist natürlich auch immer interessant solch eine Erzählung im heutigen Licht zu lesen…

  6. Marion. Ich habe mich schon manchmal gefragt, warum einem die Nähe eines bestimmten Menschen scheinbar grundlos gut zu tun scheint.

    1. Manche nennen es Aura. Weniger spirituell: das Auftreten eines Menschen macht neugierig, stößt ab oder lässt gleichgültig. Aussehen, Bewegungen, Sprache. Das ist es wohl.

      1. Und es ist doch immer besonders spannend, wenn jemand solch eine „Aura“ oder wie auch immer man es nennen mag besitzt, dass davon gleich reihenweise Menschen angezogen werden. Im Extremen gilt das ja z.B. für eine ganze Schar von Kult-Leadern und deren Anhänger. Ich habe während der Social-Distancing-Zeit eine ganze Reihe von Dokumentation geschaut (Wild Wild Country, Holy Hell, Prophet’s Prey, Bikram: Yoga, Guru, Predator)… und gerade diese „Aura“, die diese Protagonisten haben, fasziniert mich ungemein.

      2. Solche Anziehung ist ja überaus subjektiv. Was den einen anzieht, stößt den anderen ab.

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