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06 – Ein Eremit

Sitzenbleiben | 07

Benedikt sagte nichts, und so redete ich weiter: „Als ich neun Jahre alt war, waren meine Eltern mit mir in den Ferien in Polen. Das letzte Jahr der DDR, aber das wusste man damals noch nicht. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht zu einem Augustiner-Kloster. Das war ein Eindruck – unvergesslich! Der Bau und die Mönche und vor allem die Lage, versteckt mitten in den Bergen. Oberhalb des Klosters, noch ein ganzes Stück aufwärts, lag eine Einsiedelei. Ich fragte: ‚Was ist eine Einsiedelei?‘, und meine Mutter erklärte mir, da hat früher ein Mann gelebt, ganz allein, um Gott zu dienen. Die Mönche hätten ihm sein Essen raufgebracht, aber Einsiedler leben ganz bescheiden, sie beten und fasten. Ich war total fasziniert. Irgendwie war es, klingt komisch, aber irgendwie war es, als ob ich da meine, ich weiß nicht, meine … Bestimmung finden könnte. Ich wollte unbedingt die Einsiedelei sehen. Aber meinem Vater taten die Füße weh und wir mussten umkehren. Ich fing an, fürchterlich zu weinen. Mein Vater hat sich deswegen schrecklich geschämt vor den anderen Leuten, und er hat mir dauernd gesagt, dass ein so großer Junge nicht mehr heult und dass schon alle über mich lachen. Dabei hat kein Mensch gelacht, nicht mal er.
Zu Weihnachten bekam ich dann ein Bild geschenkt, ein ziemlich kitschiges Bild von einem Einsiedler, der in seiner Klause sitzt mit gefalteten Händen, und durch die Tannen fällt ein Sonnenstrahl auf ihn. Das Bild hab’ ich geliebt. Es hing über meinem Bett, jeden Morgen und jeden Abend hab’ ich es angestarrt. Und wenn ich die ständigen Zurechtweisungen meines Vaters nicht aushalten konnte oder die gnadenlose Munterkeit meiner Mutter, dann hab’ ich gedacht: ‚So ein Einsiedler möchte ich sein, weg von allem, in der Einsamkeit, die Mönche bringen mir etwas zu essen, sonst nur Schweigen und Wälder und Gott.‘ Und weil man Einsiedler nicht werden kann, weil das kein zukunftssicherer Beruf ist, hat meine Mutter daraus Pfarrer gemacht. Ich habe mir einreden lassen, dass das meinen Wünschen am nächsten kommt. Dabei ist das Quatsch. Na ja, ist ja auch nichts geworden.“
––Benedikt trank einen Schluck Bier.
––Ich trank auch einen Schluck Bier.
––„Ein bisschen kann ich dich verstehen“, sagte er, „jedenfalls, was die Unabhängigkeit betrifft. Gläubig bin ich nicht, obwohl ich aus Bayern komme, und die Einsamkeit liebe ich auch nicht. Aber ich hatte auch nie einen Grund, vor meinen Eltern davonzulaufen. Es gibt eine Fernsehansagerin und einen Maler mit meinem Namen, aber ich bin nie dahintergekommen, wie wir miteinander verwandt sind. Na ja, jede Familie braucht ihr schwarzes Schaf, und da hab’ ich mich eben geopfert und ‚hier‘ geschrien. Ich hatte in München einen ganz anderen Beruf, aber irgendwann hab’ ich mir gesagt: ‚Wie kommst du eigentlich dazu, in deinen besten Jahren, zwischen dreißig und fünfzig, nach einer Pfeife zu tanzen, die nicht deine ist? Bist du wie die, die sich nicht trauen, sich selbst zu entdecken, oder hast du den Mut zur Unabhängigkeit? Was ist wichtiger – Zeit oder Geld?‘ – Ich fand, Zeit. Also ging ich nach Berlin, ich kaufte mir den Wagen, und ich hab’ angefangen, Taxe zu fahren. Mal vierzehn Stunden am Tag, mal vier. Mal von morgens um fünf bis abends, mal die ganze Nacht bis morgens. Ich teil’ mir das ein, ich selbst. Und keiner redet mir da rein.“
––Ich nickte. Ich fand ihn stark und seine Nähe beruhigend.
––„Aber genau genommen ist das nicht weniger verrückt als dein Einsiedler. Wer Geld hat, kriegt die Zeit frei Haus geliefert. Hätte ich nach meinem Betriebswirtschaftsstudium diesen Beruf in der Industrie weitergemacht, dann hätte ich genug Geld, um mir eine Putzfrau zu leisten und jeden Tag ins Restaurant zu gehen; so vergeude ich meine Zeit mit Putzen und Kochen. Auf der anderen Seite: Wenn ich wirklich erfolgreich sein wollte, müsste ich so hart arbeiten, dass mir für nichts anderes Zeit bliebe. Wie du ’s drehst und wendest: Unterm Strich wirst du genau das, was du werden solltest.“
––„Wolltest“, verbesserte ich ihn. Ich dachte, er hätte sich versprochen, falls ich überhaupt etwas dachte.
––Er lachte. Sein Lachen war so anders. So lacht man nicht über einen Witz oder eine Tollpatschigkeit – so lacht man über eine plötzliche Einsicht. Müsste ich ihn nicht langsam allein lassen? Aber ich blieb sitzen.
––„Wer von uns beiden ist denn hier der Gläubige und wer ist der Ketzer?“, sagte er.
––Das war keine Frage für mich, damals noch nicht, und so bügelte ich mein Vorschnellen mit einem Lächeln aus, mehr fiel mir nicht ein.
––„Und was hast du sonst so gemacht, ‚in Thüringen‘?“, fragte er. „Hast du Fußball gespielt?“
––„Jeder Junge hat Fußball gespielt“, antwortete ich naseweis, „ob er wollte oder nicht.“
––„Also, ich hab’ Fußball immer schon gehasst“, sagte er vergnügt. „Ich war froh, als die Deutschen gegen Kroatien null zu drei verloren hatten, vorige Woche. Von da an hab’ ich abends wieder bessere Touren gekriegt.“
––Ich fand, nun musste ich auch etwas preisgeben. „Ich hab’ lieber Musik gehört, oft klassische. Meine Mutter war gerührt, mein Vater fand es lächerlich. Ich hab’ die Wahnsinnsarie aus ‚Lucia di Lammermoor‘ auswendig gesungen – bis zum Stimmbruch und ohne Text.“
––Er lachte wieder nicht. Ich hatte gehofft, ich würde ihn zum Lachen bringen, und ich war froh, dass er es nicht tat. „Nein“, sagte ich, „ich war kein wilder Junge. Mein Bruder und ich waren schrecklich artig, so wie mein Vater uns das ohne Schläge, aber mit absurden Strafen eingebläut hatte. Wenn wir bei Verwandten zu Besuch waren, dann sagte meine Tante: ‚Mein Gott, Jungs, nun tobt und schreit doch mal, es ist ja nicht mit anzusehen, wie brav ihr seid!‘ Und dann sagte sie zu meinem Vater: ‚Georg, ich glaube, du machst einen großen Fehler.‘ – ‚Denkst du vielleicht, ich möchte solche West-Gören haben wie du?‘, fragte mein Vater seelenruhig. Seine Schwester schüttelte den Kopf, und meine Mutter brachte sofort etwas Positives: über ihren Betrieb, über das Wetter oder über den Pflaumenkuchen. Damit war die Unterhaltung beendet. Denn keiner konnte ihr widersprechen: Ihr Betrieb war einer von denen, die die Privatisierung nach der Wende überlebt haben; das Wetter ließ sich nicht leugnen und der Pflaumenkuchen schmeckte auch wie immer. Ob sich Tante Christa durch ihre Laschheit West-Kinder einhandelte und mein Vater Ost-Kinder züchtete, wurde nicht weiter diskutiert. Mein Vater benutzt ‚West-‘ als Vorsilbe wie andere ‚Scheiß-‘ benutzen: ‚West-Fernsehen‘, ‚West-Regierung‘, nur wenn es regnete, musste er ‚Scheiß-Wetter‘ sagen, aber das kommt ja auch meist von Westen.“
––„Hast du Bilder von dir mit?“
––„Ja.“
––„Ich würd’ gern mal was sehen.“
––„Jetzt?“
––„Ja.“
––Ich ging und holte den Zeichenblock aus meinem Rucksack.
––Er sah sich die Bilder aufmerksam an. „Ich kann’s nicht beurteilen“, sagte er, „aber ich finde, du hast Talent. Noch keinen persönlichen Stil, natürlich nicht, aber ich würde dran weiterarbeiten. Malst du in Farbe?“
––„Selten. Ich hab’ außer in der Schule nie die Möglichkeit gehabt.“
––Jetzt lächelte er doch. Vor ihm lag die Skizze vom Einsiedler vor seiner Grotte.
––„Der alte Traum“, sagte er. „Immer noch?“
––„Ich weiß nicht. Ein bisschen vielleicht.“
––„Dann bist du ja in der Kammer ideal untergebracht. – So, und nun gehen wir schlafen. Ich will morgen früh um sieben anfangen, weil ich abends was vorhabe. – Du kannst eine Zahnbürste von mir kriegen. Ich hab’ noch eine unbenutzte.“
––„Ich hab’ selber eine“, sagte ich, vielleicht eine Spur pikiert, denn er grinste und antwortete: „Ach so? Ich les’ immer in Statistiken, dass nur jeder Dritte eine Zahnbürste hat, und ich dachte, ich hätte zum ersten Mal einen Zweiten getroffen.“ Er gab mir einen versöhnlichen Knuff gegen die Schulter, zum Zeichen, dass es nicht bissig gemeint war. Und ich bin jetzt, nachträglich, der Meinung, dass diese ganz unsinnliche Berührung, freundschaftlich nichtssagend, etwas in mir ausgelöst und wachgerüttelt hat, womit ich seither leben muss.

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Suzanne Tucker (Junge), AnotherPerfectDay (Hand), 
Christian Mueller (2, Hintergrund) | 
Rostislav_Sedlacek (Zahnbürsten)


Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “Sitzenbleiben | 07

  1. So ein Leben als Einsiedler … das ist gleichermaßen bewundernswert wie traurig. Ich muss immer denken, dass man sein Leben da einfach verpasst.

    1. Nicht jeder hat die gleichen Erwartungen ans Leben. Wer als Einsiedler seine Erfüllung findet, dem geht es doch besser als unzufriedenen Menschen in der Großstadt.

      1. Überhaupt nicht selbstverständlich. Zumindest hadern ja immer wieder eine Menge Menschen mit genau dieser Problematik.

    2. Gerade als Kind kann ich verstehen, dass so ein Lebensentwurf beeindrucken kann. Ich war in jungen Jahren generell auch von der Kirche fasziniert. Diese ganzen Riten und Bräuche haben mich verwirrt, aber auch begeistert. Es hat eine Weile gebraucht bis ich festgestellt habe, dass das alles nicht das Richtige für mich ist.

      1. Da gehen Selbsteinschätzung und Realität allerdings öfters mal auseinander.

  2. West-Gören, Ost-Gören. Zum großen Teil haben sich diese Vorurteile ja zum Glück erledigt. Die jüngeren Generationen kennen so eine Unterscheidung jedenfalls kaum noch.

    1. Vorurteile gibt es ja immer. Auch 2021. Aber wer die DDR nicht mehr selbst erlebt hat, der kann natürlich auch solch eine Trennung nicht mehr nachvollziehen.

      1. In Zukunft macht man die Unterscheidung dann vielleicht zwischen den Staaten, die noch zur EU gehören, und denen, die sich abgetrennt haben.

      2. Also noch gibt es in keinem dieser Ostländer eine Diktatur. In Großbritannien übrigens auch nicht. Der Vergleich hinkt also schon ein wenig.

  3. Ich habe mich auch vor Jahren selbständig gemacht und es seitdem nie bereut. Aber ich kenne auch genügend Beispiele, denen das zu viel Verantwortung und Unsicherheit ist. Nicht jeder kommt mit so viel Freiheit klar.

    1. Natürlich. Da kommt eben wieder einmal der Charakter ins Spiel. Und nicht zuletzt die Arbeitsbedingungen. Wer seinen Traumjob gefunden hat und sich wohl fühlt, der muss ja auch keine Freiberufler werden.

      1. Schwierig ist es, wenn man nicht sicher ist, ob es der Traumjob ist. Ich habe so lange darüber nachgedacht, bis er es nicht mehr war.

      2. Ah das ist interessant. Bei mir hat sich im Laufe der Jahre deutlich verändert was ich als Traumjob ansehe. Aber das gehört ja auch dazu. Solange man im Moment glücklich ist, ist ja schon viel gewonnen.

      3. Während der Corona-Pause, als ich deutlich weniger arbeiten musste, habe ich festgestellt, dass ich meinen Beruf zwar wirklich gerne mache, ihn aber auch nicht unbedingt vermissen würde. Das war tatsächlich auch eine befreiende Einsicht.

      4. Klingt gut. Nur was macht man mit der Einsicht, wenn man Geld verdienen muss um die Familie zu ernähren?

      5. Immerhin weiss man dann, dass man nicht durchdrehen wird sobald man in Rente geschickt wird. Einigen passiert so etwas ja.

      1. So ist es wohl. Deshalb ist für den einen ja auch das Leben als Eremit befreiend und erfüllend, für den anderen einengend und frustrierend.

      2. Der Eremit scheint bisher eher nur eine fix Idee des Jungen zu sein. Ich glaube (noch) nicht, dass es ihn letztendlich wirklich in die Einsamkeit ziehen wird.

      3. Ich warte schon darauf, dass John einen Zusammenbruch in irgend einer Art und Weise erfährt. Schließlich scheint noch einiges passieren zu müssen, damit wir ihn in dem Zustand wieder finden, in dem er in Kapitel 1 steckte.

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