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06 – Ein Eremit

Berichterstattung | 17

Schön ist es, am Morgen früh aufzuwachen, um fünf Uhr schon, hell und klar im Kopf, und hinauszutreten vor die Tür. Ganz allein auf der Straße entlangzugehen, die zu den Feldern führt, an Holzzäunen und Dahlien vorbei auf Kopfsteinpflaster. Den Tau in den Wiesen glitzern zu sehen. Die Erde atmen, den Klee. Heu, zusammengeharkt zu hochgewölbten Haufen, die Lerche weit im leuchtenden Himmel. Das Surren der Insekten, all die lebendigen Klänge der Bäume, Büsche und Tiere, bevor die Menschen sie mit ihrem Lärm niederwalzen. All die bitteren und süßen Gerüche, bevor die Sonne sie ausdörrt und die Benzinmotoren sie zutünchen. Sandboden unter den Füßen, den kameradschaftlichen Wind im Nacken wie eine aufmunternde Hand und den Blick auf jener Linie ruhend, die die Hügelkette abgrenzt von der Ewigkeit.

Aber schön ist es auch, spät nachts nach Hause zu kommen,
der Boden wogt, die Füße schweben nebenher.
Der Blick nach oben, in den sternerfüllten Himmel,
macht trunkner noch, ein Jubel hebt die Arme.
Ganz still ist es.
Das Mondlicht schimmert seidig,
und endlos könnte man durch stumme Straßen tanzen,
bis Müdigkeit den Überschwang in Schlaf einwiegt.
Am Morgen wacht man auf, der Kopf ist etwas schwer,
das Zimmer hell, und draußen ist es hoher Tag.
Geschäftigkeit, seit Stunden schon. Geschirrgeklapper.
Die Arbeit ist in vollem Gange – nur man selbst ist frei.

Wäre diese Liebe lebbar gewesen? – Nein. Wäre sie möglich gewesen? – Sie war möglich. Und da war etwas, das weder er noch ich je mit einem anderen Menschen hätte teilen können. Hätte es einen besseren Zeitpunkt für uns geben können? Früher – später? Hätte unsere Liebe Erfüllung finden können, und wenn ja, wann? – Niemals – und auch dann nicht. Das bedeutet: immer und ewig und in jedem Augenblick.

Natürlich gab es Freispruch. Was heißt ‚natürlich‘?
––Als das Urteil verkündet wurde, bin ich vor Angst und Aufregung fast außer mir gewesen.
––Nach den Wochen im Krankenhaus hatte man mir eine mögliche Untersuchungshaft erspart, es bestand ja auch keine Verdunklungsgefahr. Und dann kam also der Freispruch. – Was für eine Erleichterung!
––Ich hätte es unmöglich überlebt, im Gefängnis zu sitzen, eingesperrt in eine Zelle. Allein die Vorstellung lässt mich schaudern. Schließlich bin ich ein freier Mensch. Das Bewusstsein, nicht wegzukönnen, ist für mich unerträglich.
––Das Mitgefühl aller war mir sicher.
––Die Zeitungen hatten sich gegenseitig überboten. Nie werde ich die Schlagzeilen vergessen:

‚SEX-OPFER ENTKOMMT SEINEM PEINIGER‘

‚VOM LUST-SKLAVEN MIT KETTEN ERWÜRGT!‘

Die altmodisch-nüchternste Version lautete:

‚Der arbeitslose Auszubildende Johannes G. (18) befand sich auf einer ausgedehnten Reise mit Freunden. Am 11. Juli verloren sie sich während der Loveparade aus den Augen. Als er am Abend den Taxifahrer Benedikt von Kalckreuth (41) traf, bot dieser ihm ein Quartier für die Nacht an. Arglos tappe der junge Mann in die Falle, und damit begann für ihn ein wochenlanges Martyrium. Von Kalckreuth überwältigte G., legte ihn in Ketten und sperrte ihn in eine Kammer seiner Wohnung, die er zum Folterverlies umgebaut hatte. Dort musste sein Opfer wie ein Tier aus dem Napf fressen. Erst nach Wochen gelang es G., sich zu befreien, indem er mit letzter Kraft seinem Peiniger die Kette, mit der seine Hände gefesselt waren, um den Hals legte und zudrückte.
––Als man G. entdeckte, befand er sich in einem unbeschreiblichen Zustand: Sein Körper war mit Prellungen und Peitschenstriemen übersät. Seine Haut war verkrustet von Schmutz, Blut und Kot. Bei von Kalckreuth konnte nur noch der Tod festgestellt werden. Zeugenaussagen zufolge war er einschlägig bekannt in Homosexuellen-Kreisen. Er galt dort als Sadist und Einzelgänger. Bevor er Taxifahrer wurde, hatte er einen gut dotierten Beruf aufgegeben, um, wie er sagte, unabhängig zu sein.
––Die Hausbewohner haben übereinstimmend ausgesagt, dass sie nie etwas Verdächtiges bemerkt hätten. Angesichts von G.s Zustand eine schier unglaubliche Tatsache, die erneut die Misere des anonymen Wohnens deutlich macht, doch wird vermutet, dass von Kalckreuth sein Opfer die meiste Zeit über geknebelt hielt. Spuren in G.s Mund sprechen dafür.‘

Reporter kamen bis Schmalkalden. Am nächsten Tag neben einem Foto von weit aufgerissenen Augen die Schlagzeile ‚Eine Mutter klagt an!‘ und die von ihr später bestrittene Aussage, dass man Benedikt von Kalckreuth dasselbe wie ihrem geschundenen Sohn hätte antun sollen, bevor dieses Monstrum sterben durfte. Kein Zeuge aus dem Heimwerker-Geschäft. Der Ledermann, den ich eines Abends bei ihm gesehen hatte, gab auch keinen Laut. Er wird sich hüten. Ein paar Freunde, die ‚ihm das nicht zugetraut‘ hätten. Ein paar Kollegen, die ‚seltsame Veränderungen in der letzten Zeit an ihm bemerkt‘ hätten.

Ich? – Ein armer Junge, der es zu Hause nach der Wende mit einem strengen, arbeitslosen Vater nicht leicht gehabt hatte. Jemand, von dem man hofft, dass ihm das Leben eine zweite Chance bieten würde. – Wo war denn die erste?

Natürlich gab es Freispruch. – Was ist natürlich? Wofür wird man verurteilt? Wofür wird man bedauert, wofür wird man freigesprochen, und was zählt das?

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Kamenetskiy Konstantin (Mann von hinten), Christian Mueller (2, Hintergrund), shepherdsatellite (Dahlie) | Oliver Hlavaty Photo (Schmalkalden)

Hanno Rinke Rundbrief

33 Kommentare zu “Berichterstattung | 17

  1. Ich bin fast in gleichem Maße überrascht und erschüttert wie nach dem Mordkapitel. Den Freispruch hat er ja keineswegs verdient.

    1. Es ist fast ein wenig Schade, dass er so leicht davonzukommen scheint. Auch innerlich macht es ja den Anschein, dass er das Erlebnis bereits zum großen Teil hinter sich gelassen hat.

      1. Gute Frage. Am Ende schien er schon sehr dem Wahnsinn nahe. Trotzdem war er aber von Beginn an der Initiator des Geschehens.

      2. Naja, er schreibt zum Ende dieses Kapitels ja in einem Ton, der vermuten lässt, dass ihm sehr wohl bewusst ist, was da passiert.

  2. Erschreckend aber irgendwie auch nicht überraschend. So ähnlich könnte das ohne Frage auch außerhalb der Fiktion passieren.

    1. Hmm, ich bin ja nicht so sicher ob man das wirklich als Liebe bezeichnen sollte. Angekettet in der Kammer … Mord …

      1. Sowas kann man von außen immer schlecht beurteilen. Aber ohne Frage ist diese Beziehung ja völlig aus dem Ruder gelaufen.

      2. Das Ausmaß und die Auswirkungen dieser Begegnung werden wir nun wohl in den kommenden Kapiteln noch etwas besser nachvollziehen können.

    1. Ob er in eine Gefängniszelle gehört – hmmmm – vielleicht eher in eine Anstalt. Da würde man ihn halt auch vor sich selbst schützen.

  3. Ein armer Junge ist Johannes bestimmt nicht. Er tut mir jedenfalls nicht leid. Auch nach diesen letzten Entwicklungen nicht. Ob er wirklich psychisch gestört ist wird man als Leser schwer beurteilen können, aber das macht ja auch ein wenig den Reiz der Geschichte aus.

    1. Das er kein ‚armer Junge‘ ist, weiß er selber. Das merkt man daran, wie er die Bezeichnung widergibt. Ob er trotz allem Erfüllung gefunden hat, das ist eine ganz andere Frage.

      1. Warum sollte uns das nach all dem interessieren? Damit meine ich nicht den Fortgang der Erzählung, sondern ganz speziell die Frage ob Johannes sein Glück gefunden hat.

    1. So etwas steht eben in den Schmalkalder Nachrichten. Da muss eben jemand aus der Nachbarschaft oder der Szene interviewt werden und mit „Informationen“ aus erster Hand dienen. Verlassen sollte man sich auf solche Quellen nicht unbedingt. Nicht nur Johannes ist ein unzuverlässiger Erzähler.

  4. Natürlich gab es Freispruch. Der arme 18-jährige Junge, der gerade erst von Zuhause losgezogen ist, kann ja unmöglich an so schockierenden Ereignissen teilgehabt haben.

      1. Wie der Schmalkaldener Regionalteil in der Thüringer Allgemeinen das betitelt hätte kann ich nicht sagen. Aber je nach Blatt ist ja auch die erzählte Story wichtiger als die Wahrheit.

      2. Das gilt mit Abstrichen sicherlich sogar für die meisten Nachrichtenagenturen.

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