Zehn Jahre später kaufte sich Guntram einen neuen Mercedes und gab mir seinen alten. Nochmal zehn Jahre später, Roland war schon tot, kaufte sich Guntram wieder einen neuen Mercedes und gab mir wieder seinen alten. Mit dem fuhren Silke und ich gerade eines Vormittags über Weimar nach Meran, Guntram war inzwischen ebenfalls tot, als die frisch inspizierte Limousine bei Erfurt stehen blieb und nicht weiterwollte. Der ADAC besorgte einen Abschleppwagen, der uns bei heftigem Regen durch etwas fuhr, das wohl Thüringen war, zur nächsten Mercedes-Zentrale. Dort hieß es: Zylinder kaputt, Ersatz nicht lieferbar. Meine Frage, ob die übrigen Zylinder nicht ausreichten, wurde verneint. Schade, selbst in Ascot dürfen Herren schon barhäuptig den Pferden zuschauen, aber die Pferdestärke gehorcht wohl anderen Gesetzen.
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Gott sei Dank wollte aber ein netter, junger Angestellter, ganz privat, seinen Mercedes loswerden, ein acht Jahre alter Diesel. ‚Diesel‘: das klang mir so nach Fernfahrerkneipe. Doch was spricht dagegen? Bis zum VW-Skandal waren es ja damals noch weitere acht Jahre, und wer bisher mit Anfang sechzig als einzigen Neuwagen einen geschenkten Derby in der Garage hatte, der soll die Klappe halten und froh sein, wenn er seine Unmengen an Koffern und Gerätschaften nicht im Bus nach Italien befördern muss, wo ich das Essen in Fernfahrerkneipen übrigens sehr schätze. Die Prozedur war umständlich genug: mit hübschen roten Nummernschildern, aber ohne Ausweis – der war bei den alten Nummernschildern geblieben – über die wegen Fußball-Europa-Meisterschaft in Österreich kontrollierte Grenze brennerabwärts nach Meran und dort wochenlang hinter dem Rücken der Carabinieri mit den nur zwei Tage gültigen Nummernschildern durch Südtirol, bis eines Morgens, als ich mich längst damit abgefunden hatte, für den Rest meines Lebens identitätslos in Kalabrien unterzutauchen, ein Postbote kam und mir neue Hamburger Nummernschilder und meinen alten Hamburger Ausweis brachte. Den dunkelblauen Gebrauchtwagen hatte ich damals also teuer bezahlt, mehr noch mit Nerven als mit Geld, so dass ich – typische Alterserscheinung – den Nagelneuen etwas überflüssig fand.
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Aber nun unterwegs, bei 32° im Schatten fand ich so einen schnieken Mercedes mit Air-Condition ganz erfreulich, und mir war auch schon klar, dass das Navigationsgerät auf unserer ausgedehnten Reise hilfreich sein würde. Rafał sah am Steuer eines so massigen Wagens märchenhaft aus: wie ein Heuschreck auf einem Kohlkopf. Aber er hatte schon meine Koffer gepackt und geschleppt, er würde uns umsichtig, aber mit der gebotenen Geschwindigkeit durch Europa transportieren. Meinen nun alten Mercedes steuerte Martin hinter uns her. Er hatte die Drohne, Kameras, Stative, Mikrofone, Koffer und als Beifahrer Giuseppe aus Solidarität mit ihm an Bord. So erreichten wir gegen Mittag, allerdings wegen eines Staus nicht ganz in meinem Zeitplan, Berlin, genauer: den Prenzlauer Berg, der für Väter mit Babys vor der Brust und besserverdienende Grüne bekannt ist, die in ihren renovierten Altbauwohnungen die Gentrifizierung des Viertels beklagen.
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Als ersten Halt der Reise hatte ich ‚No Fire No Glory‘ bestimmt. Das ließ sich für jemanden, der mitdenkt, als Motto verstehen: ‚Wo der Einsatz fehlt, ist auch kein Gewinn zu erwarten‘ oder weniger kapitalistisch: ‚Das, wofür du nicht brennst, das wird weder dich noch andere begeistern‘ oder dem deutschen Bürgertum entlehnter: ‚Ohne Fleiß kein Preis‘. Das weiß auch Silke, und so wollte sie, von mir ermuntert, im Stau vor Fehrbellin, wo schon der Große Kurfürst die Schweden besiegt hatte, bei ‚NFNG‘ anrufen, um dem hochprofessionellen Management mitzuteilen, dass es keineswegs am mangelnden Feuer lag, wenn wir den Ruhm erst etwas später würden einstreichen können. Nun besaß dieses Café allerdings die einzige Adresse, bei der ich innerhalb meines ansonsten akribischen Planes darauf verzichtet hatte, eine Telefonnummer anzugeben, so dass mir auf Anhieb ein Versäumnis nachzuweisen war und wir, die lange Schlange über den ganzen Prenzlauer Berg hinweg vor uns, im tiefen Prenzlauer Tal vergeblich um Einlass würden flehen müssen. Das konnte ich nicht zulassen, und so wählte Silke die Nummer der Auskunft: Ihren Bemühungen entnahm ich, dass es gewisse Verständigungsschwierigkeiten gab: „Nein, nochmal: ‚No‘, n – o, neues Wort, ‚Fire‘, f – i – r – e, nein, nicht Feier, englisch, das englische Wort für Feuer: f-i-r-e …“ und so weiter. Vermutlich wäre es mit dem Adlon leichter gewesen. Unsere Navigateuse führte Rafał routiniert in die Rykestraße, Parkplätze gab es auch und sogar freie Tische vor der Tür. Nicht allerdings Bedienung. Wir vier Männer suchten drinnen an der Theke Passendes aus, Silke ließ sich bedienen, von uns. Das Bestellte brachte dann aber eine junge Amerikanerin, die Berlin sicher viel hipper findet als Manhattan oder Mallorca, und es war, mitten in Berlin, ganz still und friedlich. Platanen, Balkone, Kinderwagen.
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Der Kaffee soll laut ‚top10berlin‘ der beste in Berlin sein. Ich habe ja früher nie welchen getrunken, weil ich dachte, er bekäme mir nicht. Meinen Eltern bekam er ja auch nicht. Ab Mitte fünfzig traute ich mich doch mal: Espresso. „Bei dem sind die Säuren weggebrannt“, erklärte man mir, als ich komischerweise weder Magenkrämpfe noch Herzrasen bekam, „den verträgt man besser.“ Und nun also ‚Filterkaffee‘, the best in town. Er braucht viel länger als Espresso, und natürlich entsteht auch nicht dieses charakteristische Geräusch, das ich in italienischen Bars am Espresso immer so mochte, wenn ich dasaß, ohne ihn zu trinken. Der Filter macht es gemächlich, unschick, ‚Kaffee nach deutscher Art‘ eben, wie in meiner Kindheit an den Terrassen der Adria-Orte die Schilder lockten. Ich versuchte, als die Amerikanerin die Kännchen brachte, Unterschiede und Qualitäten herauszuschmecken, sagte „Aha!“ und bestellte als Nachkoster ein Karäffchen Weißwein zum Käsekuchen.
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Während meiner Berufszeit hatte ich immer im ‚Kempinski‘ logiert, dem ersten Haus am damaligen Platz, eine Art zweites Zuhause in Berlin. Inzwischen unterschied zumindest der Stadtplan nicht mehr zwischen kapitalistischem und sozialistischem Teil, und der Glamour schwappte vom Ku’damm nach Mitte.
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In der letzte Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts und der ersten Dekade des neuen Jahrtausends hatten wir immer bei ‚Dittberner‘ übernachtet, unserer Pension in der Wielandstraße, einer der oberen Seitenstraßen des Ku’damms, wo die Geschäfte noch edel sind und die Schaufensterrahmen aus Messing und Edelstahl. Die Eigentümerin, Frau Lange, war wie Fräulein Schneider aus ‚Cabaret‘ und ihr Fahrstuhl ein röchelndes Erlebnis. Als wir vor drei Monaten wieder mal nach Berlin wollten – einer der Schläge, die das Alter austeilt: Frau Lange hatte aufgegeben, ob nur ihre Pension oder auch ihren Geist, war nicht zu erfahren. Wenn ich in all meinen Lieblingslokalen, die es nicht mehr gibt, je einen Abend mit einem meiner Toten essen müsste, hätte ich zu tun bis ans Ende – wenn nicht meines Lebens, dann doch zumindest dieses Jahres, das nun auch schon seine Mitte überschritten hat. Ach, nicht das Jahr schreitet, wir schreiten, immer gemessener, wenn wir nicht wie ich dem Unvermeidlichen hinterherhumpeln.
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Ooooh das NFNG! Was für eine gute Wahl 😉 Kaffee und Käsekuchen gehören zu meinen liebsten in der Haptstadt!
Wobei dieser Kaffeewissenschaft mit stundenlangem Filtern etc. auch ein wenig übertrieben ist, nicht?!
Was ist an gutem Kaffee übertrieben?
In so einer alten urigen Pension in Berlin war ich auch ein paar Mal. Ich kann mich allerdings nicht mehr genau an den Namen erinnern. Schade, dass diese Originale langsam verschwinden.
So eine Mercedes-Wiederverwertung würde mir auch ganz gut gefallen 😉 Leider hat mein Vater da nie mitgespielt.
Wiederverwertung klingt super. Wobei mir’s immer schwer fällt meinen geliebten alten kaputten Autos Goodbye zu sagen.
Und warum sind Männer in Polizistenuniform tatsächlich immer so klischeeig sexy?
Also im echten Leben habe ich da schon deutlich andere Erfahrungen gemacht…
Sexy Polizisten gehen immer, leckerer Kaffee auch. Dieses No Fire muss ich mal ausprobieren wenn ich demnächst in Berlin bin. Guter Tip.
Hanno Rinke sitzt bei ner Tasse Cold Press im Berliner Hipsterviertel? Ihre Reisen sind noch interessanter und unberechenbarer als ich bisher dachte 🙂
Cold Press? Hahaha Sie meinen wohl Aeropress? Oder Cold Brew? 😉
So sehr ich alte Autos liebe, ohne AC könnte ich mir eine längere Reise nicht mehr vorstellen. Man gewöhnt sich doch zu sehr an die Angenehmlichkeiten des Lebens.
Ohne Air Condition geht im Sommer gar nichts. Wo wir schon über Berlin reden und schreiben… wann kommt denn endlich mal AC in den Öffentlichen? Kann doch nicht so schwer sein…
Unsere Vorfahren kamen doch auch ohne Air Candition aus! Natürlich lebten sie viel kürzer. Und die Sommer waren kühler.
Ich bin gern verweichlicht.
Unsere Vorfahren kannten auch kein Global Warming 😉 Aber ganz im Ernst, gerade U-Bahn fahren wäre doch für alle Beteiligten angenehmer, wenn etwas weniger Schweissgeruch in der Luft liegen würde.
Angelehnt an ihre Idee: wie gerne würde ich vor meinem Tod noch einmal mit jedem meiner Lieblingsmenschen einen Abend in jedem meiner Lieblingsrestaurants verbringen. Was für eine romantische Idee aus dem Leben zu gehen!
Quasi wie in Dicken’s Weihnachtsgeschichte. Nur im Positiven… 😉
Glamour ist so ein Wort, das ich nun überhaupt nicht mit Berlin in Verbindung bringen kann
— auch nicht mit dem Berlin der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts? Und was ist an einer Adlon-Suite keinbürgerlicher als an einer Beverly-Hills-Lobby?
Luxus gibt’s natürlich in jeder Stadt. Keine Frage. Aber ein Gefühl von Glamour gibt mir die Stadt trotzdem irgendwie nie.