Berlin: Blut und Boden hatten in diesem viele Jahrtausende lang unbehausten Landstrich gerade wieder mal versagt. Trotzdem waren Ende der Vierzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts noch etliche Zeitzeugen, zu denen ich ja nun auch demnächst gehören würde, vorhanden: solche, die sich als Nachfolger der trutzigen Germanen fühlten, und solche, die sich wie lebenserneuernde Sozialisten vorkamen. Sie alle wollten aus den Reichstrümmern ihre jeweilige – alte oder neue – Welt aufbauen.
Foto oben: Bundesarchiv, Bild 183-J30142 / CC-BY-SA 3.0, Bundesarchiv Bild 183-J30142, Berlin, Brände nach Luftangriff, CC BY-SA 3.0 DE/Wikimedia Commons | Foto unten links: Von No 5 Army Film & Photographic Unit/Wikimedia Commons| Foto unten rechts: By No 5 Army Film & Photographic Unit/Wikimedia Commons
Es gab so viele von ihnen, Zerlumpte und Uniformierte: Müllkutscher und Militärkommandeure. Sie liefen durch unsere Kulissen. Soldaten und Slawen – Namen, die ich sagen hörte und die ich missverstand: Rassen, Klassen. So viele Geschlechter, so viele Gesinnungen! Meine Tante war eine geborene ‚von Beneckendorff und von Hindenburg‘, ein sehr bedeutsames Geschlecht, hieß es. „Von fürstlichem Geblüt“, sagte Frau Otto ehrfürchtig. Aber es gab auch ‚Itaker‘, „die waren den Deutschen in den Rücken gefallen“, sagte Herr Otto, der keine Nudeln mochte. ‚Brandenburger‘ und ‚Schlesier‘ gab es, ‚Mongolen‘ fürs Vergewaltigen, ‚Spreewälderinnen‘ fürs Stillen und als Einzelpersonen mittendrin ‚den Russen‘, ‚den Ami‘ und ‚den Tommy‘. Diese drei hatten unglaubliche Verwüstungen angerichtet, aber ein bisschen war doch noch stehengeblieben, gerade genug, um es später größtenteils abzureißen. Und alles um mich herum war Berlin.
Foto: No 5 Army Film & Photographic Unit /Wikimedia Commons
‚Angeln‘ sah ich bald zwischen den Weiden der trüben Grunewald-Seen nach Nahrungsmitteln fischen. ‚Sachsen‘ hießen die mit der kernseifigen Aussprache. ‚Sudeten‘ waren Vertriebene. ‚Hottentotten‘ und ‚Vandalen‘ waren Menschen, die alles kaputtmachten. ‚Neger‘ waren nicht so bleich wie die meisten anderen um mich her, sie hatten also offenbar eine sonnigere Vergangenheit als mein Stamm hinter sich. ‚Schöneberger‘ waren Sängerknaben. Das alles war ein bisschen viel für mich, zumal oft so geheimnisvoll geflüstert wurde. Was und wem sollte ich noch trauen? Jeder verschwieg seine Antwort. Ich fühlte mich unbewusst schon bald als niemand von all den Gelandeten und Gestrandeten, sondern nur noch als der Sohn meiner Eltern und somit als Angehöriger der ‚Geschlechter Berlins‘ schlechthin. Guthin?
Foto oben: Privatarchiv H. R. | Foto unten: Silent Witness/gemeinfrei
Angehöriger der ‚Geister Berlins‘ wäre eigentlich eine vernünftigere Wort-Entscheidung von mir gewesen, weil ich es allnächtlich mit Gespenstern zu tun hatte, die mich fragend anschwiegen. Umso lauter kreischte ich ihnen antwortlos entgegen. Arme Eltern, nebenan, im panzerprotzigen Ehebett, im zerstückelten Berlin! Niemals hatte meine damals noch ungeschwängerte Mutter 1944/1945 im Vorort Frohnau je eine Bombe gehört, dafür dann aber ab Juni 1946 die Sirene meiner verängstigten Kehle viele Jahre lang Nacht für Nacht aus bedrohlicher Nähe erdulden müssen. Selbst Odysseus wäre geflohen. Zu becircen lernte ich erst viel später: zu jener politisch wilden Zeit, als sich bei mir Geist und Geschlecht einander schaudernd näherten. Der jugendliche Fritz, der wahnsinnige Kleist, der weitsichtige Kant, der weitgereiste Humboldt – die ganze preußische Vergangenheit lag für mich in so ferner Zukunft, und die nahe Zukunft war noch so unabsehbar: Kennedy war noch kein Berliner, und Hồ Chí Minh war noch irgendein Vietnamese.
Foto oben links (Heinrich von Kleist): Michael Schönitzer/Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto oben rechts (Friedrich II.): Anton Graff/Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten links (Immanuel Kant): Gottlieb Doebler/gemeinfrei | Foto unten rechts (Alexander von Humboldt): Henry William Pickersgill/gemeinfrei
Trotzdem war mir klar, als ich 1965 erleichtert und empört ein Reifezeugnis in Händen hielt: Meine marmornen Empfindungen ließen sich keinesfalls auf den aussageschwachen Ortsteil ,Schmargendorf‘ reduzieren, dessen Symbolwert vor solch denkmalgeschützten Begriffen wie ,Kreuzberg‘ oder ,Mitte‘ zu Schutt zerfällt.
Foto links oben: Axel Mauruszat /Wikimedia Commons | Foto links unten: Alexrk2/Wikimedia Commons | Foto rechts: Bodo Kubrak /Wikimedia Commons
Außerdem ist die Angabe schlichtweg falsch. Zur Welt gekommen bin ich, kurz nachdem der zuständige Arzt gegen acht Uhr abends schließlich die Geduld verlor. Er verpasste meiner seit Stunden kreißenden Mutter eine krampflösende Spritze. Mein Vater behauptete, ihren Schrei noch im Wartezimmer, zwei Stockwerke tiefer, gehört zu haben. Das Geräusch von Bomben war ihm zwar geläufiger als das der unverheirateten Frau, die dort oben sein Kind gebar, aber den Bedrohungen war er doch ‚im Feld‘ geschickter ausgewichen als im Bett: Als nach den Bomben auch noch Maschinengewehrsalven dazugekommen waren, hatte er seine Kameraden überredet, sich zu ergeben. Sie wanderten in die Kriegsgefangenschaft, er wurde zur Belohnung von der Roten Armee nach Berlin entlassen. Da sich am folgenden Tag auch die deutsche Heeresleitung ergab, war sein Verhalten vierundzwanzig Stunden nach der Tat nicht mal mehr Hochverrat. Nun saß er in der Entbindungsanstalt und nahm den Einschlag ergeben zur Kenntnis. Dieser Vorgang trug sich im Klinikum Dahlem zu, von wo aus meine Eltern mich mitnahmen in die ‚Reichsstraße‘ der zertrümmerten Reichshauptstadt.
Foto links unten: Clemensfranz/Wikimedia Commons | Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Meine Großeltern hatten ihre Habseligkeiten bereits 1913 gepackt und Sachsen in Richtung Berlin verlassen. Bis 1953 lebte ihr jüngster Sohn, mein Vater Guntram, zwar weiterhin in Berlin, aber als Geburtsort musste er ,Wurzen‘ angeben, die Garnisonsstadt, in der mein Großvater bis kurz vor seiner Entlassung als Oberst gedient hatte. Dann schon lieber Schmargendorf; denn wissenschaftliche Erkenntnisse, die ich nicht überprüfen kann, postulieren: Der Mensch wird geformt durch die Sinneseindrücke zwischen der fünften Schwangerschaftswoche und dem dritten Lebensjahr, also genau während jener Zeit, in der uns kein Gedächtnis zu Gebote steht, das sich zwar auch nicht wehren, aber doch werten kann.
Foto rechts oben: Brück & Sohn Kunstverlag Meißen/gemeinfrei | Fotos (3, im Foto rechts unten, v. l. n. r.: Achim, Guntram, Hasso, Arwed, im Foto unten: Irina): Privatarchiv H. R.
Mein Vater hat keine Erinnerung an Wurzen. Die krampflösende Spritze des Arztes, der anschließende Schrei meiner Mutter – ich muss es genauso glauben wie die unbefleckte Empfängnis der Gottesmutter, und es habe mich geprägt, behaupten die Fötus-Forscher. Also: Alles schon vorausbestimmt, wenn wir zur Besinnung kommen? Garniert allenfalls mit ein paar Einspruchsrechten der wachsenden Erfahrung?
Foto oben links: Peter Paul Rubens/gemeinfrei | Foto oben rechts: GordonGrand/Fotolia | Foto unten: auremar/Fotolia
Damals, ganz am Anfang zwischen Mutterbauch und Wickeltisch, als sich mein Charakter bereits hinterlistigerweise herausbildete, ohne dass ich etwas davon ahnte, soll ich – Zeugenaussagen zufolge – wochenlang die Augen nicht geöffnet und die Brust nicht benuckelt haben.
Foto: Carrie Yuan/Fotolia
Die Welt und die Brust – das waren die ersten Angebote, denen ich mich aus vollem Herzen verweigern konnte. Rache statt Muttermilch – nichts einsaugen, sondern etwas ausstrahlen: Ablehnung; und dann mit dieser passiven Aktivität Gefühle auslösen: Sorge, Enttäuschung, Betroffenheit – mein erster Applaus. So könnte ich es heute deuten. Augen zu und durch! Urkunde erteilt. Stempel: Schmargendorf.
Foto: Ralf Geithe/Shutterstock
Rache statt Muttermilch könnte gleich wieder ein guter Buchtitel sein 😉
Genau wie „Herr Otto, der keine Nudeln mochte“. Gefällt mir sogar noch besser 😉
Reifezeugnis. Was für ein komisches Wort wenn man darüber nachdenkt. Reif für’s (Arbeits-)leben? Hmmm…
Vor allem, dass die Schule ein Urteil darüber ausstellt scheint schon sehr überholt.
Dass diese ersten Eindrücke wirklich unser ganzes folgendes Leben bestimmen ist schon beeindruckend. Und wie weit entfernt vom Charakter unserer Eltern sich unser eigener manchmal ausbildet.
Und da resultiert für mich gleich die Frage: Können sich Menschen eigentlich ändern?
Grundsätzlich würde ich die Frage mit nein beantworten. Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel.
Das sind natürlich zwei unterschiedliche Dinge. Während dieser prägenden Monate/Jahre bildet sich heraus wer wir sind, was unser Charakter ist. Welche Entscheidungen wir später in unserem Leben treffen ist eine ganz andere Frage.
Natürlich glaube ich lieber an den freien Willen als an das Diktat der Bestimmung. Aber der Glauben hat in der Neurobiologie nicht viel zu sagen.
Recht frei nach Wilhelm Busch zitiert: Viel besser als ein freier Wille wirkt manchmal eine gute Pille.
LOL die Pille möchte ich dann auch gerne haben 😉
Wer unsere schönen Strassen
Des Nachts noch nicht gesehn,
Benzin erfüllt die Nasen,
Der bleibt bewundernd stehn.
Wer nicht die kleinen Mädchen
Sah flott vorüberziehn,
Der hat ja keine Ahnung,
Wie schön Du bist, Berlin.
Oh Marlene ❤️ Das habe ich schon ewig nicht gehört!
Berlin im Kopf, Berlin im Bauch, und nicht zuletzt Berlin in der Hose. So lässt’s sich trefflich leben.
Wie äußert sich denn Berlin in der Hose so? Hahaha
…aufstrebend!
LOL
Oh Schöneberger = Sängerknaben?! Das kannte ich noch nicht.
Dass die Mongolen sich heute noch mit Dschingis Khan’s Vergewaltigungslust rumschlagen sollen, finde ich auch nicht ganz fair…
Wir tragen die Verantwortung unserer Vorfahren auf unserem Rücken. Alle und immer.
Stimmt. Deutschland wird immer das Land der Nazis sein, Amerika immer das Land der Sklaverei, Australien das Land der Aboriginal-Unterdrücker, und und und…