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02 – Innocentia-Park

#13 Adventstee

Margareta begann zu weinen.
––„Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!“, sagte die junge Frau Leseberg. „Komm, Margareta, komm her zu mir, es ist ja alles gut! Na, komm!“
––Margareta trat an den Tisch und pustete mit einem heftigen Luftstoß alle vier Kerzen aus.
––„Margareta!“
––Dann war es still.

Kai nahm die Streichhölzer und zündete die Kerzen wortlos wieder an. Immer noch sagte keiner etwas. Margareta versuchte, die Stille zu ertragen, aber es ging nicht.
––„Ungarn“, schrie sie.
––„Was ist mit Ungarn?“, fragte Kai, seine Stimme klang, als wollte sie ein Feuer ersticken, dabei war sie eher die Lunte; warum hatte er sie nur benutzt?!
––„Ungarn ist ein Land“, sagte Margareta.
––„Also hören wir jetzt Mendelssohn?“, fragte ihre Mutter.
––„Eva kommt aus Ungarn“, sagte Margareta.
––Kai begann die einzelnen Platten aus dem Regal zu nehmen und wieder zurückzustellen. „Wer hat denn das alles durcheinandergebracht“, fragte er, „du, Margareta?“
––„Eva hat dich durcheinandergebracht“, sagte Margareta.
––„Margareta!“, sagte die alte Frau Leseberg erschrocken.
––„Ich heiße Paulinchen“, sagte Margareta.
––Die junge Frau Leseberg beugte sich zu ihrer Tochter: „Engelein, ist dir nicht gut?“
––„Ach, die spinnt doch!“, sagte Kai.
––„Was soll das heißen?“, fragte sein Vater.
––„Margareta lügt.“
––„Was? Ich lüge?“
––„Jawohl. Es ist überhaupt nichts mit Eva und mir.“
––„Was soll denn sein mit Eva und dir?“, fragte die junge Frau Leseberg entsetzt. „Margareta, sag, was los, ist! Sag die Wahrheit!“
––„Sie weiß ja gar nichts! Sie kann ja gar nichts sagen!“, schrie Kai.
––„Was kann sie nicht sagen?“, der junge Herr Leseberg sprang auf. „Was hat Eva mit dir gemacht?“
––„Nichts! Gar nichts“, sagte Kai. „Margareta hat sich das alles ausgedacht.“
––„Aber Margareta hat ja gar nichts gesagt!“, sagte seine Mutter, „was soll sie sich denn ausgedacht haben?“
––„Ich will in mein Zimmer!“, schrie Kai.
––„Du bleibst hier!“, brüllte der junge Herr Leseberg und packte seinen Sohn am Arm. „Sofort sagst du mir, was mit Eva und dir passiert ist!“
„Nichts. Gar nichts. Ich schwör’s!“
„Margareta?“
„Sechs Sechstel und ein Sechstel sind sieben Sechstel.“
„Margareta!“
„Zwölf Elftel und zwei Elftel sind vierzehn Elftel.“
––Der junge Herr Leseberg schüttelte Margareta. „Hör sofort auf damit und sag mir, was mit Kai und Eva war!“
––Margareta begann zu weinen.
––„Clemens, lass das doch! Siehst du nicht, dass sie ganz durcheinander ist?“
––Jetzt sprang auch der alte Herr Leseberg auf: „Was hat diese Zigeunerschlampe mit meinem Enkel gemacht!“
––„Du bist ein böser, alter Mann!“, schrie Kai. „Du hast eine dreckige Fantasie. Ich hasse dich!“
––Der junge Herr Leseberg gab seinem Sohn eine Ohrfeige und zuckte sofort erschrocken zurück.
––„Ja, das kannst du!“, schrie Kai. „Mich kannst du schlagen, weil du zu feige bist, dich gegen deinen Vater zu wehren. Und Menschen, die sich für ihr Land eingesetzt haben, die sind dir nicht gut genug!“
––„Hast du eine Ahnung, wie ich mich für mein Land eingesetzt habe?“, brüllte der junge Herr Leseberg. „Sechs Jahre lang war ich im Krieg!“
––„Na und?“, schrie Kai zurück, „bist du etwa noch stolz darauf, dass du für Hitler marschiert bist?“
––Der junge Herr Leseberg wollte auf seinen Sohn zustürzen, aber sein Vater hielt ihn von hinten fest: „Das lernen die doch jetzt alle so auf der Schule.“
––„Und was habe ich auf der Schule gelernt?“, der junge Herr Leseberg war außer sich, „soll denn das immer so weitergehen? Immer weiter? Ist denn nie Schluss?“

„Kai liebt Eva“, schrie Margareta.
––Alle starrten sie an.
––„Woher weißt du das?“, fragte ihre Mutter.
––Gleich eine Antwort finden, die keinen Zweifel zulässt.
––„Er hat ihr seinen Piller gezeigt, damit sie ihm ihre Brust zeigt“, sagte Margareta, das war ja wohl Beweis genug.
––Schweigen.
––„Kai, du gehst auf dein Zimmer!“, sagte der junge Herr Leseberg.
––Kai verließ wortlos den Raum.
––„Das ist doch …“, sagte der alte Herr Leseberg.
––„Mein Gott“, sagte die alte Frau Leseberg, „wie ist so etwas bloß möglich?“
––„Na, wie soll so was möglich sein?“, fragte ihr Mann. „Das passiert doch täglich. Man nimmt Menschen auf, weil man glaubt, sie sind in Not, und das wird schamlos ausgenutzt. Würde mich nicht wundern, wenn ihre Eltern sie dazu angestiftet hätten. Dann kommt sie mit einem Kind, diese Kommunisten verlangen Alimente und haben ausgesorgt.“
––Die junge Frau Leseberg beugte sich behutsam zu ihrer Tochter: „Margareta, hat Eva gewollt, dass Kai das tut?“
––„Ich sage gar nichts mehr. Es wird alles immer noch schlimmer.“
––„Margareta, das ist sehr wichtig. Du musst es uns sagen. Hat Eva das von Kai gewollt?“
––„Ein Drittel, zwei Drittel, drei Drittel, vier Drittel –“
––„Margareta!“, sagte der junge Herr Leseberg mit gepresster Stimme, „wenn du nicht sofort die Wahrheit sagst, dann fällt Weihnachten dieses Jahr aus. Dann gibt es überhaupt nichts.“
––„Ich bin schuld.“
––„Du bist schuld an was?“, fragte Margaretas Vater.
––„Ich habe Kai gebeten, seinen Piller zu zeigen.“
––„Margareta“, sagte ihre Mutter leise, „das ist doch nicht wahr. Wir sind sehr enttäuscht, wenn du uns anlügst. Warum tust du das?“
––Margareta begann wieder zu weinen.
––„Warum weinst du denn jetzt?“, fragte ihr Großvater, „du hast doch nichts verbrochen.“
––Sie sah ihren Großvater an mit tränennassem Gesicht und schluchzte: „Ich wollte, dass es nicht so kommt wie bei ‚Romeo und Julia‘, und nun ist es doch so gekommen.“

Alle waren so überrascht, dass sie trotz ihrer Bestürzung lächeln mussten.
––„Aber Engelein, das ist doch ganz etwas anderes“, sagte ihre Mutter liebevoll.
––„Wieso?“, fragte Margareta. Das Weinen hatte sie etwas erleichtert, sie wollte wirklich eine Antwort.
––„Das werde ich dir später erklären. Aber jetzt sag mir einfach, wie das gewesen ist mit Kai und Eva. Wir werden ein wunderschönes Weihnachtsfest zusammen feiern, du brauchst keine Angst zu haben. Sag einfach, wie es war.“ Sie gab Margareta einen Kuss.

Ja, es sollte endlich wieder Friede sein. Und es war ja auch wirklich nichts Schlimmes passiert.
––„Die Eva hat gesagt, wenn Kai ihr seinen Piller zeigt, dann zeigt sie ihm ihre Brüste.“
––„Gut. Engelein, gut“, sagte ihre Mutter leise. „Es ist gut, dass du es mir gesagt hast. Nun wird alles gut werden. Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer.“

24 Kommentare zu “#13 Adventstee

      1. Wenn es beim Vorbild Romeo und Julia bleibt, sterben noch ein paar der Akteure…

    1. Bei Gute Zeiten, Schlechte Zeiten waren die Akteure meistens ein bisschen älter. Aber ungefähr kommt es schon hin 😆

  1. Junge Liebe ist immer schwierig. Wenn sich dann auch noch die Familie einmischt geht es nie gut aus. Das war ja bei Romeo und Julia auch nicht anders.

      1. Schlimm vor allem, dass die Eltern die klein Margareta unter Druck setzen. Man hat richtig Mitleid mit ihr. So ganz helle scheint sie ja sowieso nicht zu sein.

      1. Ja in der Situation gab es nach Kai’s Meinung wohl mehr Interpretationsspielraum als Eva eigentlich meinte. Grobe Fehleinschätzung würde ich sagen.

      2. Missverständnisse in Beziehungen ist jedenfalls ein grundsätzliches Problem.

      3. Missverständnisse und Misskommunikation im Leben könnte man auch fast sagen.

    1. Es wird für die Geschichte natürlich etwas überspitzt dargestellt. Manchmal kann das auch sehr unkompliziert und schön sein.

  2. Mein letzter Adventstee war ruhiger aber auch eine ganze Strecke langweiliger. Manchmal denke ich, dass sich diese Dramen nur abspielen, damit die restliche Familie gut unterhalten wird.

      1. Und dann endet so ein Spiel wie im nächsten Blog-Beitrag beschrieben. Wir leben schon in einer schlimmen Welt.

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