1 aus ‚Morgen, Kinder, wird’s was geben‘ (ehem. ‚Die Weihnachtsfreude), Karl Friedrich Splittegarb (1795)
Einmal werden wir noch wach – heißa, dann ist Weihnachtstag!1
––Es war fünf vor fünf. Großmutter und Mutter waren in der Küche, Großvater und Vater waren in der Bibliothek, Kai war in seinem Zimmer.
––Margareta nahm die Streichholzschachtel in die linke Hand, sie drückte die Schachtel mit dem Daumen auf, nahm ein Zündholz heraus und rieb den roten Zündkopf über die braune Seitenfläche. Die Flamme schnellte hoch, Margareta hielt sie an die Kerze, die am weitesten heruntergebrannt war, der Docht sog das Feuer gierig auf, Margareta zündete die nächste Kerze an, dann die dritte, die Flamme hatte ihre Finger erreicht. – Drei Viertel. Margareta pustete das Feuer aus, legte das verkohlte Streichholz in den Aschenbecher und zündete ein zweites an. Zisch: Da war die Flamme! Margareta hielt sie an die letzte Kerze, die noch nie gebrannt hatte. Es dauerte etwas länger, bis auch sie zu leuchten begann. Dann schüttelte Margareta die rechte Hand so lange hin und her, bis das Feuer über ihren Fingern erlosch. ‚Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern‘ – ein trauriges Märchen.
––„Margareta!“ Ihre Mutter stand im Raum mit der Teekanne. „Du hast den Adventskranz schon angezündet. Das ist ja eine Überraschung!“
––Margareta lächelte. „Jetzt lächle ich unschuldig“, dachte Margareta, „jetzt lüge ich.“
––„Kommt ihr?“, rief die junge Frau Leseberg, Vater und Sohn redeten noch, während sie im Türrahmen der Bibliothek erschienen. „Kai!“, rief sie in die Diele hinaus. Die alte Frau Leseberg kam mit den restlichen Zimtsternen. Dominosteine und Spekulatius standen schon auf dem Tisch.
––Kai kam die Treppe herunter.
––Der alte Herr Leseberg löschte das elektrische Licht: Erst drückte er den Kippschalter, um den Armleuchtern den Strom zu sperren, dann trat er mit dem rechten Fuß auf den Knopf, der die Stehlampe speiste. So traten manche Männer auf der Straße ihre Zigarettenkippen aus, und natürlich Jungen, die sich wichtig machen wollten. Währenddessen zündete der junge Herr Leseberg mit seinem Silberfeuerzeug die Kerzen in den Leuchtern auf der Kommode und auf dem Fenstersims an.
„Margareta hat alle vier Kerzen am Adventskranz angezündet“, sagte die junge Frau Leseberg.
––„Oooh“, machte ihre Schwiegermutter.
––„Das ist doch nichts Besonderes“, sagte Margareta stolz.
––„Fast wie Paulinchen“, sagte Kai.
––„Was für ein Paulinchen?“, fragte sein Großvater.
––„Nun lass das doch, Kai!“, sagte seine Schwiegertochter. „Er meint das Mädchen aus dem ‚Struwwelpeter‘.“
––„Ach, die verbrannt ist, nicht?“, erkundigte sich der alte Herr Leseberg.
Bild: Heinrich Hoffmann/Public domain
„Also jetzt wollen wir Advent feiern!“, sagte seine Frau und setzte sich auf ihren Stammplatz. „Will nicht jemand etwas vorlesen?“
––„Ja“, sagte ihr Mann. „Du liest uns ein bisschen Goethe vor und Clemens zitiert aus seinen letzten Urteilen.“
––„Hermann, sei nicht immer so sarkastisch!“
––„Soll ich eine Platte auflegen?“, fragte Kai.
––„Wie siehst du überhaupt aus?“, fragte sein Vater zurück. „Du bist völlig ungekämmt.“
––„Ich bin gleich runtergekommen, als Mami gerufen hat.“
––„Ich finde ja auch, dass dir diese Frisur nicht steht“, sagte seine Großmutter. „Das Haar wirkt immer ungepflegt.“
––„Das soll James Dean sein“, sagte Margareta.
––„Was weißt du denn von James Dean?“, fragte ihr Vater.
––„Das ist ein Filmschauspieler.“
––„Ist das nicht der Rowdy, der sich mit seinem Wagen zu Tode gefahren hat?“, fragte ihr Großvater.
––„James Dean ist zurzeit ein Idol“, sagte seine Schwiegertochter, „genau wie dieser Elvis Presley.“
––„Mein Gott!“, sagte die alte Frau Leseberg.
––„Hattet ihr früher auch Idole?“, fragte Margareta.
––„Jetzt nicht, Engelein!“, sagte ihre Mutter.
––„Die Zimtsterne sind etwas fest geworden in diesem Jahr“, sagte die alte Frau Leseberg, um Schlimmeres abzuwenden. „Ich glaube, Hedwig hat zu wenig Eischnee genommen.“
––Ihr Mann stimmte schwärmerisch zu: „Ja, Zimtsterne müssen weich und feucht sein wie eine …“, er machte eine kurze Pause, um sich an den Befürchtungen der Erwachsenen zu weiden, „diese hier sind hart und trocken.“
––„Wie das Leben“, sagte sein Sohn, er ärgerte sich über die unausgesprochene Anzüglichkeit.
––„Sicher“, sagte der alte Herr Leseberg, „deine Urteile sind hart und deine Akten sind trocken. Sollen wir in Zukunft auch unsere Essgewohnheiten darauf einstellen?“
––„Also, Hermann!“
––„Lass nur, Mutter, ich weiß schon, welches Urteil er meint. Es geht um den Fall dieses jüdischen Anwalts, dessen Klage ich abweisen musste. Er hatte 1938 –.“
––„Clemens, wir feiern Advent!“, mahnte die junge Frau Leseberg. Umsonst.
––„Es ist Vater plötzlich in den Sinn gekommen, den edlen Rächer zu spielen, am liebsten würde er schöne, feuchte Davidsterne backen, dabei hat er scharenweise Klienten von jüdischen Anwälten übernommen.“
––„Also –“, begann sein Vater.
––„Ich möchte jetzt Advent feiern!“, schrie die junge Frau Leseberg.
––Alle waren still.
„Kai, leg eine Platte auf!“, sagte sie wieder ruhig.
––Kai merkte der Stimmung an, dass er es nicht wagen durfte, auch nur Elvis Presleys zärtliches ‚Love Me Tender‘ vorzuschlagen, und fragte ergeben: „Was wollt ihr hören?“
––Kurzes Schweigen.
––„Ich möchte ein Violinkonzert hören“, beeilte sich seine Mutter zu sagen, „aber etwas Leichtes, nicht Brahms oder Beethoven. Mendelssohn! Ja, spiel uns das Violinkonzert von Mendelssohn!“
––„Ja, das ist gut“, sagte ihr Schwiegervater, „war ja lange genug verboten.“
––„Wieso verboten?“, fragte Kai.
––„Ach, jetzt hör doch endlich auf!“, sagte sein Vater, „Papa, musst du denn dauernd …?!“
––„Bitte, Clemens!“, rief seine Frau dazwischen.
––„Also, Hermann, es ist aber auch wahr. Was hast du bloß immer?“
––„Wie denn? Ist es schon wieder so weit, dass man nicht mehr sagen darf, was man denkt?!“, fragte der alte Herr Leseberg.
––„Papa, wir wollen jetzt mit den Kindern Advent feiern“, sagte die junge Frau Leseberg. „Heute Abend können wir über alles sprechen.“
––„Ach, er will ja über gar nichts sprechen. Er will nur Unfrieden stiften – wie immer!“, sagte ihr Mann.
––„Also, das muss ich mir in meinem Haus nicht sagen lassen!“, schrie sein Vater. „So kannst du mit deinen Gerichtsbediensteten umspringen, die von dir abhängig sind, aber nicht mit mir!“
––„Vater, ich streite nicht mit dir. Und wenn du möchtest, dass wir ausziehen, dann musst du es mir sagen.“
––„Aber das ist doch alles Unsinn“, sagte die alte Frau Leseberg, „davon ist doch nicht die Rede. Warum seid ihr denn alle so gereizt?“
––„Warum versuchst du denn immer, alles unter den Teppich zu kehren?“, fragte ihr Mann.
––„Also, Hermann, bilde dir doch nicht ein, dass du hier Wahrheiten sagst! Du stänkerst doch bloß rum.“
––„Die Wahrheit ist, dass es Vater lieber gewesen wäre, wenn ich gefallen wäre, und Georg wäre noch am Leben.“
––„Clemens!“
––„Hört auf!“
––„Das habe ich nie gesagt.“
––„Aber gedacht!“
––„Nein!“
––„Georg war immer dein Liebling.“
––„Nein! Du bringst das Ganze in eine völlig verkehrte Richtung.“
––„Meine Richtung …“
––„Ich lasse mich von dir nicht in diese Ecke drängen!“
––„Georg konnte fliegen! Ich bin nur gekrabbelt.“
––„Du machst dich lächerlich!“
––„Nachdem du mich lange genug lächerlich gemacht hast.“
––„Was denkt ihr euch eigentlich? Was sollen denn die Kinder denken? Schluss! Ich will, dass Schluss ist!“
Der erste Beitrag des neuen Jahres! Willkommen zurück 🙂
Frischer Rinke, jawoll!
So ähnlich bzw. meist etwas abgeschwächt fallen doch alle Familienfeiern aus. Zumindest wenn man lange genug aufeinander hockt um ehrlich zu werden.
Nee, es gibt tatsächlich auch Familien, die miteinander auskommen.
So schlimm ist es bei uns auch nicht. Aber stimmt schon, mit der Ruhe der Feiertage und dem intensiven Beisammensein kommen ab und an Sachen an die Oberfläche, die sonst unterdrückt werden.
Da fällt mir „Das Fest“ ein. Den fand ich damals toll. Muss ich mir bei Gelegenheit noch einmal anschauen.
So anstrengend ist es bei meinen Eltern an Weihnachten auch.
Hahaha, dass Zimtsterne weich und feucht wie eine … sein sollten höre ich zum ersten Mal.
Hart und trocken wie das Leben. LOL
Der Zusammenhang ist mir auch neu. Aber wo die Gedanken liegen, da ist die Zunge nicht weit.
Da merkt man wie lange Weihnachten schon wieder her ist. Oder zumindest wie lange sich das anfühlt.
Mittlerweile sind wir schon in einem völlig neuen Jahrzehnt 😉
„Du liest uns ein bisschen Goethe vor und Clemens zitiert aus seinen letzten Urteilen.“ 😂 Super!
Zum Glück ist Margareta nicht verbrannt. Die Pointe zum Weihnachtsfest wäre ja sehr böse gewesen…
Kommt vielleicht noch. Weihnachten ist ja erst im nächsten Teil der Geschichte 😉 Und die Unschuld muss auch noch „zerstört“ werden.
Gibt’s denn eigentlich momentan einen neuen James Dean? Oder Elvis Presley? Justin Bieber kann es ja hoffentlich nicht sein.
Um Gottes Willen, der arme Junge doch nicht!
Die Zeit ist doch viel zu schnelllebig und zu durchsichtig geworden um solch einen Mythos aufzubauen.
Anscheinend ist das gar nicht nötig. Es gibt einfach wieder den alten: https://www.n-tv.de/leute/Neuer-Film-mit-James-Dean-geplant-article21379252.html
Im Ernst? Ein bisschen unheimlich ist das ja schon alles.
Bei den neuen Star Wars Filmen hat man Carrie Fisher / Prinzessin Leia ja auch gnadenlos reingeschnitten. Aber woher die Lust auf einen Film mit einem seit Jahrzehnten toten Schauspieler kommt … nun ja.
Erinnert mich daran, dass es bei uns jahrelang Zimtsterne gab, die wirklich niemand essen mochte. Hat ewig gedauert, bis sich mal jemand traute meiner Mutter zu sagen, dass die Dinger nicht schmecken. Haha
Margareta ist doch gar nicht so ein Feuerteufel wie Paulinchen. Den Struwwelpeter habe ich als Kind geliebt. Obwohl (oder vielleicht weil) er so böse war.
Der wird heute doch sicher nicht mehr gelesen weil er nicht pc ist. Oder macht man da mal eine Ausnahme?
Dass die bösen Buben ins Tintenfass getaucht werden, weil sie sich über den Mohren lustig machen, ist doch sehr fortschrittlich. Und dass man Bezeichungen, die in meiner Jugend völlig in Ordnung waren, nicht mehr sagen darf, finde ich nicht in Ordnung. Na, dafür ist heute alles geil. Für dieses Wort wäre ich in der Klasse von altmodischen Lehrern geohrfeigt, von modernen in die Ecke gestellt worden.