1 Quelle: ‚Das Neue Testament‘, Das Evangelium nach Matthäus, Kap. 19, 12.
„Wir sollten auch an die denken, denen es weniger gut geht als uns“, sagte die alte Frau Leseberg, „gerade jetzt!“
––„Meinst du Janos?“, fragte Kai.
––„Zum Beispiel“, sagte seine Großmutter, sie fühlte sich durch seinen konkreten Bezug etwas gestört in ihrer Andacht.
––„Oder seine Familie“, sagte Margareta, „die mussten doch fliehen.“
––„Wie wäre es mit der ‚kleinen Nachtmusik‘?“, fragte Kai.
––„Also, wenn es nicht unbedingt sein muss, möchte ich lieber etwas anderes hören“, sagte der junge Herr Leseberg.
––„Ja“, stimmte sein Vater zu, „die ist doof.“
––„Vielleicht sollten wir wirklich Janos und seine Familie mal einladen, jetzt in der Vorweihnachtszeit“, sagte die junge Frau Leseberg.
––„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, Liselotte“, sagte ihre Schwiegermutter. „Sie könnten es falsch auffassen.“
––„Ich glaube, wir haben schon genug getan“, sagte ihr Sohn. „Wer hätte wohl die ganze Familie in seinem Haus aufgenommen?“
––„Es ist doch genug Platz unten, und Janos ist immer so hilfsbereit.“
––„Sicher“, sagte der alte Herr Leseberg, „aber deshalb muss man ja nicht gleich mit denen fraternisieren.“
––Margareta vergaß ihren Vorsatz und fragte: „Was ist ‚fraternisieren‘?“
––Diesmal blieb Kai stumm, und auch die anderen sagten nicht gleich etwas.
––„Das ist, wenn man sich gemeinmacht“, beantwortete schließlich der Großvater selbst Margaretas Frage.
––Margareta war entsetzt. Man lädt doch niemanden ein, um gemein zu ihm zu sein!
––„Also, wenn man jemandem zu nahe tritt“, verbesserte die alte Frau Leseberg.
––„Und warum mussten die fliehen?“, fragte Margareta.
––„In Ungarn war ein Aufstand, davon hast du doch gehört“, sagte ihr Vater, „die Menschen dort werden von den Russen unterdrückt, und sie wollten sich befreien, aber die Russen haben Panzer eingesetzt und den Aufstand niedergeschlagen. Janos Bruder und seine Frau haben im Rundfunk für die Revolution gesprochen, und als die Russen wieder die Herrschaft zurückgewannen, sind sie geflohen, um nicht ins Gefängnis zu kommen.“
––„Oder nach Sibirien“, sagte Herr Leseberg senior.
––Margareta wollte nicht unbescheiden sein, sonst hätte sie noch gefragt, was ‚Sibirien‘ eigentlich ist. Immer, wenn der Name fiel, ging es um Schreckliches. – „Sie haben eine Tochter“, sagte Margareta, „ich habe sie mal gesehen.“
––„Ja, aber sie ist schon fünfzehn“, sagte ihre Mutter. „Sie ist zu alt für dich.“
––„Sie sieht sehr hübsch aus“, sagte Margareta wehmütig.
––„Wahrscheinlich Zigeunerblut“, sagte ihr Großvater.
––„Warum hat Janos keine Kinder?“, fragte Margareta.
––Janos war jünger als sein Bruder, er hätte eine Tochter in Margaretas Alter haben können.
––„Weil er nicht verheiratet ist“, sagte ihre Mutter.
––„Und warum ist er nicht verheiratet?“, Margareta nahm sich vor, keine weiteren Fragen zu stellen.
––Einen Augenblick lang war es still im Raum. Das Silber blinkte, das Kristall leuchtete.
––„Das steht schon in der Bibel“, sagte die alte Frau Leseberg. „‚Etliche enthalten sich der Ehe, weil sie von Geburt an zur Ehe unfähig sind; etliche enthalten sich, weil sie von Menschen zur Ehe untauglich gemacht sind; und etliche enthalten sich, weil sie um des Himmelreichs willen auf die Ehe verzichten. Wer’s fassen kann, der fasse es.‘“1
––Margareta war wie erschlagen von der Wucht der Worte. „Ich werde auch nie heiraten“, dachte sie. „Lieber Gott, warum werde ich nie heiraten?“
––„Wie wäre es mit der ‚Jupiter-Sinfonie‘?“, fragte Kai.
––„O ja, die ist schön“, sagte seine Großmutter.
––„Wir könnten sie doch am nächsten Sonntag zum Adventstee einladen“, sagte ihre Schwiegertochter. „Das macht nicht viel Mühe und es ist auch nicht anbiedernd. Aber es wäre eine Geste.“
––„Haben wir denn überhaupt genug Platz?“, fragte ihr Mann.
––„Clemens, wir haben schon zehn Personen zum warmen Essen gesetzt, da werden wir es doch schaffen, vier Menschen Kekse anzubieten.“
––„Du musst uns auch mitzählen“, sagte der alte Herr Leseberg, „falls du uns dabeihaben willst.“
––„In Not sind sie ja jetzt nicht mehr“, sagte seine Frau. „Janos hat gesagt, sein Bruder hat hier sogar eine Stelle beim Rundfunk in Aussicht.“
––Ihre Schwiegertochter antwortete nicht, und das verhieß nichts Gutes, so dass ihr Mann sagte: „Also, wenn du dir die Mühe machen willst, ich habe nichts dagegen.“
––„Das finde ich etwas wenig“, sagte die junge Frau Leseberg. „Wir gehen jeden Sonntag in die Kirche und halten uns für gute Christen, aber hier im Hause haben wir Menschen, die vielleicht unsere Hilfe brauchen.“
––„Liselotte, jetzt übertreibst du ein bisschen“, sagte ihre Schwiegermutter. „Janos lebt hier mietfrei.“
––„Dafür macht er den ganzen Garten und alles, was im Haus so anfällt an Arbeiten.“
––„Es ist ja sehr ehrenwert, dass Janos mal einen Nagel einschlägt und eine Glühbirne einschraubt, aber deswegen brauchen wir uns doch nicht gleich bei ihm zu entschuldigen“, sagte der alte Herr Leseberg.
––„Ach, Hermann“, seine Schwiegertochter sah zur Decke, „davon ist doch gar keine Rede! Die Souterrain-Räume sind da, warum sollen sie leer stehen?“
––„Wer sagt denn, dass sie leer stehen sollen? Wir könnten sie vermieten, gegen Geld.“
––„So? An wen denn? Euch wird es doch nie jemand recht machen.“
––„Liselotte!“, mahnte die alte Frau Leseberg.
––„Entschuldigt mich!“, sagte ihre Schwiegertochter und wollte aufstehen. Aber ihr Mann kam ihr zuvor und drückte sie sanft zurück in ihren Chintz-Sessel. „Janos und seine Familie kommen nächsten Sonntag zu uns zum Adventstee. Ende der Diskussion!“
––„Vielleicht solltest du Hedwig dann nicht freigeben, damit sie uns etwas helfen kann“, riet die alte Frau Leseberg.
––„Lad sie doch gleich mit ein …!“, sagte ihr Mann.
––‚Sarkastisch‘ war das Wort, Margareta wollte es nicht vergessen.
––„Hört zu, Kai und Margareta“, sagte der junge Herr Leseberg, „wenn Janos und seine Familie kommen, dann fragt ihr nichts! Kein Wort über Ungarn! Es ist möglich, dass sie darüber nicht sprechen wollen. Sie haben Schlimmes durchgemacht. Wir trinken Tee und wir lassen sie an unserer Adventsfeier teilnehmen, aber wir wollen sie nicht ausfragen.“
––„Ich trinke Kakao“, sagte Margareta, das war der einzige Widerspruch, den sie wagte.
––„Ja“, sagte ihre Großmutter, „das Thema ‚Ungarn‘ sollten wir unbedingt vermeiden, schon aus Taktgefühl.“
––„Die Ungarn sind katholisch“, sagte ihr Mann.
––„Ist das schlimm?“, fragte Margareta.
––„Nein“, antwortete ihr Vater, bevor seine Eltern etwas sagen konnten, „aber es ist anders.“
Ja ja die anderen sind halt doch immer (zu) anders.
Das Thema Orbán sollte man jedenfalls mal wieder intensiver behandeln.
Der Rechtspopulismus boomt. Oder der Populismus generell könnte man sagen. Einen Plan dagegen hat bisher noch niemand gefunden.
Solange Facebook und Co da nicht in die Verantwortung genommen werden, wird eine Umkehr auch sehr sehr schwierig.
Aber wie will man da umsetzbare Regeln finden? Nicht so einfach…
Am ‚Fest der Liebe‘ denkt man am Ende doch am ehesten an sich selbst, seine Familie … und welche Geschenke man gerne hätte. Der Rest ist eher Theorie.
Kommerz gibt es immer. Nächstenliebe aber auch. Man darf weder romantisieren noch verteufeln.
„Sie könnten es falsch auffassen.“ Der Fluch unserer Zeit. Lieber gar nicht als nicht pc.
Der Text erinnert mich sehr an die Klimadebatte, Veganismus, Flüchtlingshilfe, und und und. Wenn es um das Prinzip geht ist vieles einfach, sobald es um Taten geht wird es sehr viel schwieriger.
Ein paar Fremde zu Weihnachten einladen klingt gar nicht so blöde. Mit der eigenen Familie gibt es nach ein paar Tagen sowieso immer Stress. Vielleicht wäre die Abwechslung angenehmer.
In der Geschichte geht es ja nichtmal um Fremde. Janos arbeitet ja für die Familie. Man muss ja auch nicht gleich übertreiben.
„Mach das nicht! Hinterher sind sie enttäuscht, wenn sie wieder in ihre Welt zurück müssen“, wurde mir gesagt. Also: kein Gänsebraten für Bedürftige, sonst schmeckt ihnen nachher das verschimmelte Brot nicht mehr.
Dabei schmeckt verschimmeltes Brot doch so lecker! Dass man sich so schnell umgewöhnt bzw. den Geschmack verdirbt glaube ich trotzdem nicht. Auch wer zum ersten Mal in einem Gourmet-Restaurant speist, isst am nächsten Morgen ein Butterbrot zum Frühstück.
Fraternisieren habe ich zwar auch seit Jahren nicht gehört, ähnliche Sätze allerdings schon. Toleranz hört oft an der eigenen Türschwelle auf. Da brauch es stete Kommunikation und Aufklärung.
Ah da ist wieder die Idee, dass manche nicht ehefähig seien. Muss mal nachlesen wie das gemeint sein soll…
Ich habe eine Sammlung von sechs Erzählungen geschrieben, in denen dieser Satz jeweils einmal vorkommt und jedes Mal etwas anderes bedeutet.
Oha! Dann kommen im neuen Jahr ja sicherlich noch die 4 weiteren…
Zum Glück ist „anders“ nicht immer schlecht 😉
Meistens sogar eher spannend
Die einen wollen immer alles anders, die anderen immer dasselbe. Wenn es um Menschen geht ist das nicht anders. Außer die „anderen“ gleicher zu machen, geht da nicht viel.