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WACHS!  —   1. Berlin-Reise / 1998

#1.05 | Volle Gläser

Von Dorothee zurück zum Alexanderplatz. Der ‚Kaufhof‘ dort (früher ‚CENTRUM Warenhaus‘) ist eine Sechzigerjahre-Perle: fensterlos, mit einer Art blaublechernem Fischgrätmuster aus Aluminium. Aber innen ist er ganz manierlich, und er bot all das, was mir bei Lafayette zu teuer gewesen war: einen Kamm (den hatte ich in Hamburg vergessen, lässt sich das psychologisch deuten?), Body-Lotion von Nivea statt von Lancôme und die beiden Kontrastmittel zum Anreichern von Getränken – Zitronensaft für den Negroni; Süßstoff für den Espresso. Nur zu einer zweiten Vase neben der hoteleigenen konnte ich mich nicht entscheiden, die Modelle waren in Form und Farbe einfach zu grotesk, und so blieb es bei einem Strauß in der Diele und keinem zusätzlichen auf dem Schreibtisch.

Zu zwanzig Uhr war ich bei Dorothee geladen. „Mein Neffe Micky ist da und schließt meinen neuen Computer an. Komm doch auch, ich werd’ schon irgendwas zu essen finden, nichts Besonderes natürlich.“ – „Ich lad’ dich aber auch gerne zum Essen ein“, wich ich aus. „Ich will nicht, dass du dich wieder aufopferst.“ – „Wieso?“, fragte Dorothee verständnislos, „ich opfere mich doch immer auf!“
An ihrer Tür begrüßte sie mich wie eine Kellnerin und begann gleich ohne ‚Guten Abend‘: „Es gibt Schinken mit Melone, dann Blumenkohlsuppe, ich hab’ noch Lammfilets und nachher Käse oder Eis, ganz bescheiden. Micky ist im Schlafzimmer. Geh durch!“
Ein typisch jüdischer New Yorker Intellektueller mit randloser Brille hockte vor einem Bildschirm, der mir etwa so groß vorkam wie Dorothees Bett, aber das täuschte wohl. Vor dem Bildschirm befand sich eine Tastatur, die mich an mein Klavier denken ließ. „Ich hab’ mich in Unkosten gestürzt. Groß, nicht?“, fragte Dorothee. Ich nickte zustimmend. Micky gab mir die Hand. „Er ist so musikbegeistert“, sagte Dorothee, „eigentlich ist er mein Großneffe.“ Dorothees Bruder war sein Vater, erfuhr ich. „Gieß euch Sherry ein!“, verlangte Dorothee und stellte eine Flasche mit zwei Gläsern auf den Tisch. Dann verschwand sie in die Küche. Als sie zurückkam, tadelte sie: „Viel zu voll die Gläser, man gießt doch nur ganz wenig ein. Schlechter Stil!“ – „Oh, nein“, versetzte ich erschrocken, „ich war in Jerez de la Frontera, wo der Sherry herkommt, da trinkt man ihn aus Wassergläsern und isst die Knorpel von Schweineohren in den Bodegas dazu.“ Das stimmte zwar, interessierte Dorothee aber nicht. Sie hatte begonnen, mit fahrigen Bewegungen hin- und herzulaufen, als folge sie dem Schnittmuster eines besonders extravaganten Kleides. Dann bat sie uns, Platz zu nehmen, und stellte eine Melonenspalte mit einem Schinkenröllchen vor mich hin, wobei sie mein volles Sherryglas umstieß und dazu bestätigend „Ja“ sagte. Micky lief in die Küche und holte ein Handtuch, während ich mir Gedanken darüber machte, ob es Dorothee noch schaffen würde, das Eis vom Käse zu unterscheiden. Es wurde aber doch ein stimmungsvolles, gutes Essen an erlesen gedecktem Tisch mit Kerzenbeleuchtung.
Die Käseauswahl bestand aus bretonischem Ziegen- und halbfettem Pyrenäenkäse sowie Harzer Roller, das fand ich eine eigenwillige Zusammenstellung. Gegen zehn klingelte das Telefon, es war für Micky, er musste gehen. „Jetzt trinken wir noch einen Grappa zusammen“, befand Dorothee. Es wurden zwei für jeden. „Den hat mir die Tomzig mitgebracht. Alda Ceccato sagt, er sei sehr gut.“ Die Tomzig ist pensionierte Musik-Kritikerin, Alda ist Dirigentengattin. Wenn ich so etwas nicht weiß, frage ich trotzdem nicht nach.
Ich überließ Dorothee ihrem Schicksal und ihrem Abwasch, denn man merkte, dass er sich von mehreren Tagen angesammelt hatte. „Ich muss mitkommen“, sagte Dorothee und griff sich die Hausschlüssel. Sie hätte nicht mitkommen müssen, denn das Tor unten war offen, aber sie tat es.

Im Hauseingang nahm mich Dorothee das, was man wohl ‚beiseite‘ nennt, und raunte: „Meinst du, dass er schwul ist? Er hat keine Freundin.“
Ich (wahrheitsgemäß): „Keine Ahnung.“
Sie (enttäuscht bis unwillig): „Ich denke, ihr merkt so was!“
Ich (belehrend): „Früher vielleicht. Die Jungen sind heute so frei, da kann jeder alles sein.“
Sie (resignierend): „Der ist nett, nicht? Reizender Junge. – Also, ich weiß nicht …“
Ich (vergnügt): „Ich auch nicht.“
Sofort erwischte ich einen Bus zum Wittenbergplatz. Früher wäre es undenkbar gewesen, Freitag Abend um diese Zeit nicht von dort aus zu ‚Andreas’ Kneipe‘ zu gehen. Stattdessen fuhr ich zurück zum Bahnhof Stadtmitte, und das wäre früher auch undenkbar gewesen.

Gestern, Sonnabend, habe ich fast den ganzen Tag geschrieben. Das Wetter war schauerlich: grau, kalt, nass, und heute regnet es immer noch. Gegen drei Uhr nachmittags sah ich durchs Friedhofsgrün bei ‚Leopold’s‘, aber was ich dort auf den Tellern erspähte, ließ mich doch den Weg zu Lafayette antreten, um mich selbst zu versorgen.
Es war überraschend voll. Eine endlos lange Schlange ließ sich, zum Teil noch DDR-trainiert, Baguettes zuteilen. ‚Ich stell’ mich doch nicht für Brot an!‘, dachte ich, aber dann tat ich es doch. Das Baguette kostet zwei Mark weniger als in Hamburg (1,90 DM statt 3,90 DM) und ist doppelt so gut.
Beim Schinken und beim Käse war es nicht ganz so voll. Ich sagte mir, dass ich Zeit habe und schon das Einkaufen das Vergnügen ist: Der Weg ist das Ziel. Wenn ich mir solche Vorhaltungen nicht mache, versuche ich aus alter Gewohnheit immer noch, der Schnellste zu sein und nicht der Beste.
Ich schrieb in die Nacht hinein, bis ich müde wurde, und bin jetzt auf der Höhe des Geschehens angelangt. So kann ich, wenn mir danach sein sollte, den Rest dieser Aufzeichnungen in Tagebuchform machen. 05.07.’98, 12:30 Uhr. – O Gott, ich bin doch hoffentlich nicht bloß hier, um davon schreiben zu können?

Es gibt an einem Sonntagmorgen keinen zuverlässigeren Wecker als Dorothee, nur, dass man sie nicht abstellen kann. Natürlich war sie am Sonnabend noch zur Oper gefahren (zweimal umsteigen, wie sie ganz nebenbei erwähnte), um für mich eine Karte für den ‚Fliegenden Holländer‘ zu besorgen. Wie sie es geschafft hat, dass ich auch noch den Platz neben ihrer Freikarte bekam, bleibt ihr Geheimnis, um dessentwillen Künstler in aller Welt ihr immer mehr zugetan waren als meinen Vorgesetzten. Dorothee kann nämlich (ver-)zaubern, während meine damaligen Chefs nur Sekretärinnen anwiesen, eine Karte zu bestellen, denkt man. Dabei kann Dorothee gar nicht zaubern, sie ist bloß tüchtiger. Und wer – Künstler oder Banause – würde sich nicht lieber von Dorothee eine Party ausrichten lassen, als mit einem unserer Aufnahmeleiter die Bedeutung des verminderten Sept-Akkords in der Einleitung zu Beethovens letzter Sonate, Op. 111 zu diskutieren?

Titelgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Rido (Hand)

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “#1.05 | Volle Gläser

      1. Neulich habe ich schon die ersten Krokusse gesehen. War wahrscheinlich ein Ausreißer…

  1. Was sagt der Aufnahmeleiter denn zur Bedeutung des verminderten Sept-Akkords in der Einleitung zu Beethovens letzter Sonate?

  2. Mittlerweile sind die jungen Menschen ja wirklich so frei, dass jeder alles sein kann. Jedenfalls weicht sich das Bild von typischer Männlichkeit und Weiblichkeit immer mehr auf. Gut so.

      1. Und auch heute ist das ja noch mehr Ideal als wirklich gelebt. Aber immerhin. Keine Frage, dass das ein Schritt in die richtige Richtung ist.

  3. Ihre Freundin Dorothee scheint tatsächlich verzaubern zu können. Man merkt gleich warum Sie sie so schätzten.

    1. Die Idee, dass man jeden Schwulen sofort eindeutig identifizieren könnte, ist ja auch quatsch. Genau wie nicht jeder Hetero-Mann super männlich sein muss, müssen Schwule auch nicht ohne Ausnahme weiblich sein.

      1. Man merkt doch 2022 ziemlich gut, dass nicht jeder Mann in Frauenkleidern weiblich wirkt. Die Hollywood-Sternchen probieren sich in der Hinsicht doch gerade ziemlich aus.

  4. CENTRUM kenne ich gar nicht mehr. Der Kaufhof wird jetzt ja auch wieder umbenannt. Bald heisst es dann nur noch Galeria.

      1. ‚Kaufhaus‘ klingt nach vorigem Jahrhundert. Ich mochte es immer, aber seit zehn Jahren war ich in keinem mehr. Mein Schlaganfall hat mich amazonisiert.

      2. Ich bin immer erstaunt, wie viele von den Dingern mittlerweile leer stehen. Aber der Onlinehandel macht es den Leuten natürlich auch sehr einfach.

      3. Ohne symathische, gut ausgebildete Berater:innen haben Kaufhaus und Einzelhandel schlechte Karten. Wo der Kontakt eher unerfreulich ist, bleibt man weg.

      4. Wer kompetent ist, eignet sich offenbar für einen besser bezahlten Job. Entweder man zahlt mehr, oder man geht pleite: das Sozialistische am Kapitalismus.

      5. Das ist wohl das traurige Fazit. Nicht jeder Job wird gleichermaßen wertgeschätzt. Dabei würde ich mich über eine fundierte Beratung durchaus freuen.

  5. Hahaha, es soll ja wirklich Autoren geben, die nur leben und erleben um zu schreiben. Den Eindruck hat man bei Ihnen aber eigentlich nicht.

      1. Die Torani Sweetener gefallen mir nur weil sie so etwas traditionelles haben. Geschmacklich bleibe ich lieber beim ungesüßten Schwarzen.

  6. Zaubern und tüchtig sein ist erstaunlich oft dasselbe nicht? Oder man könnte auch sagen, das eine stellt sich erstaunlich oft als das andere heraus.

      1. Tja, das ist ja immer der Trugschluss wenn es um Leichtigkeit (oder Zauber) geht. Es wird so oft erwartet, dass das alles von alleine passiert. Weit gefehlt.

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