Silke saß meistens am Steuer, weil sie schon seit Langem den Alkohol gänzlich mied und topfit war, während ich mich noch nicht zu dieser weibischen Enthaltsamkeit durchgerungen hatte und mein Alkoholspiegel dank hoch verdünnter Spirituosen niemals in die Nähe des bedrohlichen Null-Promille-Pegels kam. Ich hatte wochenlang beinahe fließbandartig korrigiert, eingefügt, aussortiert, erklärt und verworfen und dabei ständig die ungemütlichen Stimmungsschwankungen meiner instabilen Mutter auszugleichen versucht. Während dieses Prozesses gelang es einer höheren Macht, mich davon in Kenntnis zu setzen, dass auch Herkules zur Bewältigung solcher Aufgaben neben Nerven und Muskeln aus Stahl einen empfindungslosen Körper benötigt hätte. Mein Magen begriff das aber nicht so rasch, hatte also im Zustand permanenter örtlicher Betäubung gehalten zu werden, und deshalb fuhr eben Silke bei sonnigem Mai-Wetter, lächelte zuversichtlich und genoss das schrille Gelb der Rapsfelder, die von mir pausenlos beschworene territoriale Grenzenlosigkeit und ihre stabile Gesundheit, während ich meine körperliche Unterlegenheit mit kleinen Darbietungen aus meinem Erinnerungskabarett routiniert überspielte.
In Hagenow bat ich Silke, die Autobahn zu verlassen, was sie auch ohne zu zögern tat, denn Silke ist im Allgemeinen sehr zugänglich und hilfsbereit, was ich traurigerweise von mir nicht behaupten kann.
Nun fuhren wir eine Weile durchs liebliche Mecklenburgische, und dass man mir auch mit Kleinigkeiten eine Freude machen kann, ist daran zu erkennen, dass mich immer noch Glücksgefühle durchbeben, wenn ich von der Transitstrecke abweiche. Im Internet hatten mir die Abbildungen der beiden ‚ersten Häuser‘ am Platze Schwerin nicht zugesagt, weil – auf die Anmutung der Architektur angewiesen – den Standort der Gebäude zu erraten selbst für einen Kosmopoliten nicht weniger knifflig gewesen wäre, als die Zusatzzahl im Mittwochslotto richtig zu tippen: Es hätte sich bei den beiden Fotos ebenso gut um das ‚Hyatt‘ Reykjavik handeln können wie um das ‚Holiday Inn‘ Bogota.
Dass wir überhaupt nach Schwerin fuhren, lag daran, dass ich mir den Samstag als Abreisetag in den Kopf gesetzt hatte, aber Frau Lange – von nun an muss ich sie nicht mehr ‚Fräulein Schneider‘ nennen –, die Eigentümerin des ‚Hotels Dittberner‘, erst ab Sonntag freie Zimmer hatte, und das auch nur bis Donnerstag, weil Bayern, Hessen und Württemberger ihre Fronleichnamsprozession in Berlin begehen wollten.
Schon von 1950 bis 1953 war ich, allein unter vielen, mit meiner Kerze von Altar zu Altar gelaufen: Fronleichnam, und ich werde es meinen Eltern nie verzeihen, dass ich ihnen meine jugendvergällenden Gewissensqualen durch den Katholizismus nicht ankreiden kann, weil sie mich niemals zu dem gedrängt haben, was mir Bedürfnis war.
Auf dem Weg von Hamburg nach Neapel liegt Rom, auf dem Weg von Hamburg nach Madrid liegt Paris, aber auf dem Weg von Hamburg nach Berlin liegt rein gar nichts, da war Meck-Pomms Hauptstadt das Großartigste, was ich der international verwöhnten Silke anzubieten hatte. Und so verfiel ich erst auf diese leicht abwegige Idee und dann den virtuellen Reizen des Hotels ‚Speicher am Ziegelsee‘. Es machte gar kein Hehl daraus, früher, als die Innenstadtkästen noch gar nicht standen, etwas ganz anderes und sehr Zweckmäßiges gewesen zu sein. Der Tourismus hat die Zeiteinheit der Autominute erfunden, in dieser Kategorie waren es fünf bis zum Zentrum, aber mehr noch lockte die Bootsfahrt zum Schloss, das ich zwar verfallen, aber romantisch am Wasser gelegen von meinem Ausflug mit dem todkranken Roland im Januar 1990 und mit einer toll-schicken Orangerie versehen von diversen Krimis des Mitteldeutschen Fernsehens jüngeren Datums in Erinnerung hatte.
Ich hatte mir die verblüffenderweise nicht in die Homepage integrierte Wegbeschreibung zu unserer restaurierten Hotelperle per Fax schicken lassen und geleitete Silke so sicher wie möglich durch das ladenschließende Schwerin. Silke neigt am Steuer zu einiger Verschrecktheit, wenn sie eine Ampel auf sich zukommen sieht und ich ihr noch nicht mitgeteilt habe, ob sie links oder rechts fahren oder umkehren soll, besonders dann, wenn geradeaus nicht geht, weil dort das Schloss steht und vollständig eingehüllt Christos Arrangements im Central Park anmaßend Konkurrenz macht. Die Schweriner Ampeln sind allerdings so zuverlässig und so lange selbst im Verlauf der einzigen Hauptstraße an jeder Einmündung eines Weges rot, dass ich meinen Entschluss, Silke in eine bestimmte Richtung zu lotsen, mehrfach korrigieren konnte. Als wir dann aber eine ganze Weile schon nichts anderes gesehen hatten als grünende Buchenwälder, durch die von Zeit zu Zeit ein See schimmerte, entschlossen wir uns doch zum Umkehren.
Wir fanden dann sogar die Speicherstraße, die von einer anderen Straße als im Fax angegeben abging, und so gelangten wir auf einen sehr aufgeräumten Platz, der in ein großes leeres Areal zum Parken und eine ebenfalls leere Rasenfläche untergliedert war. Davor stand tatsächlich unser ‚Speicher‘ und sonst nichts. Ich war etwas erschrocken, weil auf diese endlose Weite das Wort ‚Abgeschiedenheit‘ irgendwie nicht richtig zutraf: Es gab rein gar nichts, wovon abgeschieden werden konnte, und ich sehnte mich jetzt doch ein bisschen nach dem klobigen ‚Holiday Inn‘ Bogota inmitten der pittoresken Altstadt, ließ mir aber vor Silke nichts anmerken, obwohl mir klar war, dass dieses Ensemble ohne Alkohol noch nüchterner wirken musste.
Drinnen stellte ich dann aber doch erleichtert fest, dass die Halle durchaus den Ansprüchen des ‚Hyatt‘ Reykjavik gewachsen war, und es gab sogar einen vorpommerschen Jungen, der das Gepäck in unsere Zimmer brachte. Dieses Gepäck war deshalb so vermeintlich gewichtig, weil wir alle unsere Aktenordner Berlin betreffend dabeihatten, um sie dann allerdings später, während wir emsig die angesagten Cafés an den Großstadt-Boulevards absaßen, bei Frau Lange auf unseren Zimmern beließen: Die Papp-Bürde war einfach zu schwer. Nur einzelne Konvolute mal eben auf die andere Straßenseite zu schleppen, das war gerade noch realistisch.
Spontan machte ich den Vorschlag: Jetzt fahren wir nach Wismar! In Schwerin waren wir ja sowieso, da konnten wir uns zur Abwechslung auch mal was anderes angucken. Die Strecke war, wenn man erst mal den Weg durch die Vorstadtsiedlungen und Lagerhallen gefunden hatte, recht ansprechend und bis auf die beampelten Baustellen sogar zweispurig befahrbar.
Wismar war dann auch auf Anhieb viel hübscher, als es Schwerin gewesen wäre. Nur die Auto-Tombola auf dem historischen Marktplatz störte ein wenig. Selbst wenn man von den unendlich vielen Mittelklassewagen absah, drängte der Geräuschpegel der anfeuernden Rockband uns doch trotz herrlichen Wetters nach drinnen.
„Der ‚Alte Schwede‘ ist sehr gut“, sagte das Mädchen in der Apotheke, „also, ich war noch nie drin, aber es soll sehr gut sein.“
Im ‚Alten Schweden‘ war ich auf dem schon erwähnten, kummervollen Ausflug mit Margot und Roland auch gewesen, was bereits Grund genug war, dort wieder einzukehren, und die Aussage des Mädchens fand ich so rührend, dass ich sie am liebsten mitgenommen hätte. Die Bedienung im ‚Alten Schweden‘ war jung und besonders freundlich, der Ostseeküstenschnaps hatte sehr viel Lokalkolorit und der hausgebeizte Lachs war sehr „milde“, wie Silke sich ausdrückte, womit sie andeuten wollte, dass er sich geschmacklich nicht allzu krass von ihrem Mineralwasser absetzte. Mir war sowieso zum Heulen, ein bei mir üblicher Zustand.
„Gibt es hier einen Hafen oder eine schöne Stelle am Meer in der Nähe?“, fragte ich und dachte noch: Kein Wunder, dass der Lachs den Gaumen kaltlässt – um diese Zeit muss man eben Eisbecher mit Früchten essen.
„Da fahren Sie am besten zur Insel Pöhl“, sagte die immer noch sehr freundliche Frau und steckte das Trinkgeld ein.
Als wir das erste Hinweisschild entdeckten, merkten wir, dass es sich um die Insel Poel handelte, aber dafür konnten höchstens unsere Ohren was.
Titelbild mit Material von Harald Hoyer/Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0
#3.01 | Ich trau’ mich was#3.03 | Unser Herkommen, unser Wegkommen
Ich kenne einige Frauen, die mehr als ihre Männer trinken.
Und sie trotzdem überleben.
Solche Restaurants, die blind bzw. einfach nur so vom Hörensagen empfohlen werden, sind mir ja immer etwas suspekt. Da recherchiere ich dann doch lieber nochmal selbst. Gerade weil Geschmäcker dann ja doch sehr unterschiedlich sein können.
Das war vor Google noch schwierig.
Wohl wahr. Damals konnte man sich höchstens noch auf den ein oder anderen Reiseführer verlassen. Aber da waren die Empfehlungen in der Regel bis zur Reise eh nicht mehr aktuell. Das ist mittlerweile dann doch deutlich einfacher geworden.
Einfacher und unpersönlicher. Aber wenn das Restaurant am Ende gut ist, kümmert einen das vielleicht auch nicht weiter.
Die einen wollen viel und billig, die anderen es stilvoll und raffiniert. Bei manchen schlechten Kritiken weiß ich: Das ist genau was für mich.
Vielleicht war ja nicht nur der Schwede, sondern auch der Lachs alt.
Nein, dann schmeckt er streng. Geschmacklos ist nur, was zu jung ist.
Die meisten dieser Stadthotels sind ja auch äußerst hässlich. Funktionalität muss da reichen.
Solange es nur um das Äußerliche geht, ist mir das ehrlich gesagt völlig gleich. Das Zimmer ist mir wichtiger.
Ein klein wenig Service wäre auch noch nett…
Ein hübsch altmodisches Jugendstil-Hotel weckt doch ganz andere Erwartungen als ein klobiger Kasten. Lieber sitzte ich entspannt vor dem Haus in einem blumigen Garten als in meinem Komfort-Zimmer mit Kunstdruck an der Wand.
Ich finde es sind gerade die Kleinigkeiten zwischendurch, die die meiste Freude machen. Gerade weil sie meistens ganz unerwartet kommen.
Die Überraschung ist das Öl, die Enttäuschung ist der Essig. Zum Salat gehört beides.
Ich befinde mich ja eigentlich auch eher konstant auf diesem gefährlichen Null-Promille-Pegel. Haben Sie denn schon mal das Umgekehrte probiert? Wie in diesem Mads Mikkelsen Film vor ein paar Jahren … der konstante Rausch quasi.
Den Film „Der Rausch“ habe ich gern gesehen. Er hat meine Trinkgewohnheiten allerdings nicht beeinflusst.
Man hatte ja letztendlich auch nicht unbedingt den Drang dem Ganzen nachzueifern. Ein Happy End war es dann ja doch nicht.
Man will ja ohnehin selten den Protagonisten der Filme nacheifern, nicht mal, wenn sie überleben.