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3. Berlin-Reise / 2005

#3.06 | Südamerika in Charlottenburg

Kurz vor sechs schlenderten wir über den Kurfürstendamm zum Schlüterplatz; dort konnte ich Silke das Lokal zeigen, das nicht mehr ‚Hardtke‘ war, was so flink ging, dass wir pünktlich bei Hanno und Christine in der Mommsenstraße waren. Marina und Florian erschienen mit Antonia wenig später. Wir durchmaßen die hohen, hellen Räume, Silke trank Wasser, die anderen nicht. Im Fernsehen kündigte Müntefering nach niederschmetternder Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen die Möglichkeit von Neuwahlen an, und alle freuten sich. Man wählt CDU, kann Angela Merkel nicht leiden und trinkt einen Schluck Champagner. So ist das in meiner Familie.
Dann drängte Hanno auf die Plätze und bot zwei Stunden lang Dias von seiner Südamerika-Reise mit Christine, vom Computer auf die Wand geworfen. Da ich selbst meine Reisen visualisiert habe und vor Publikum zeige, bin ich immer neugierig zu sehen, wie andere das machen, enthalte mich aber unter Kollegen eines Kommentars. Nur so viel sei verraten: Man konnte an der Kleidung und am Schnee deutlich erkennen, dass es in Feuerland wesentlich kälter war als in Rio. Aufgrund der vielen Panorama-Aufnahmen verlor man auch nie die Übersicht. Ein kleiner Ausflug in die Armenviertel brachte uns erneut so richtig zu Bewusstsein, wie gut wir es haben, bevor wir um die Ecke in Lutter & Wegners Charlottenburger Niederlassung gingen. Es war ein lustiger Abend mit guten Plätzen, guten Gesprächen und gutem Essen. Meine Einladung, aller Freude. Berlin im Mai. Meine Straße mit dem kleinen Pflaster, meine Pension mit dem trägen Fahrstuhl, mein Zimmer mit dem großen Bad. Zu Hause.

Mehr denn je war ich mit festen Vorstellungen nach Berlin gekommen: Ich wollte mit und für Silke alle Freunde und Verwandten dort treffen. Ich wollte extreme Bekanntschaften machen, die das neue Berlin sinnfällig repräsentieren. Ich wollte mit Silke sämtliche Sehenswürdigkeiten der Berliner, preußischen und eigenen Geschichte abklappern. Ich wollte die Fortschritte im Rahmen der Stadtsanierung und -erneuerung begutachten. Ich wollte mit Silke alle zeittypischen Ausstellungen, Inszenierungen und Musicals besuchen, alle drei Bände ‚Berlin‘ Korrektur lesen und eine prophetische, analytische, klarsichtige und stilistisch zeitlos-moderne Abschlussbetrachtung meiner jeweiligen Sicht der vergangenen vierzig Jahre auf dem Kurfürstendamm oder Unter den Linden oder vor einer stillen Restauration in Kreuzberg, Schöneberg oder Babelsberg niederschreiben. Dieses Programm wäre innerhalb von sechs Wochen durchaus zu schaffen gewesen, bei den vier Tagen, die wir uns (und Irene ohne uns) genehmigt hatten, waren gewisse einschränkende Kompromisse unausweichlich, sodass in den einzelnen Rubriken Folgendes zustande kam: Am Montag durchstreiften wir in einem wespenähnlichen Zickzackkurs die Seitenstraßen rechts und links des Kurfürstendamms. Das Wetter war weder animierend noch verhindernd, und mein Eindruck, dass es am Ludwigkirchplatz geruhsamer ist als auf dem Hardenbergplatz vor dem Bahnhof Zoo, wurde in vollem Umfang bestätigt. Ebenso hatte sich die Tendenz verstärkt, dass es zwischen Olivaer Platz und Joachimsthaler Straße immer eleganter, teurer und leerer wird, von der Joachimsthaler bis zum Wittenbergplatz immer klamottiger und belebter.

Von West nach Ost gab es ‚Aben‘, ‚Hardtke‘, den ‚Balkan-Grill‘, das ‚Kopenhagen‘, ‚Reinhard’s‘, ‚Alexander‘, ‚Selbach‘, ‚Café Möhring‘, das ‚Moby Dick‘, das ‚Heck-Meck‘, den ‚Kurfürstenkeller‘, ‚Mampe‘, das ‚Siechen‘, das ‚Punch‘, die ‚Troika‘, ‚Andreas Kneipe‘ und die ‚Knolle‘ nicht mehr; die ‚Paris-Bar‘, das ‚Café Einstein‘ und das ‚KC‘ immer noch und den ‚Kempinski-Grill‘ wieder. Der Westen arbeitet, seit ihm durch die alte neue Mitte wieder heilsame Konkurrenz erwachsen ist, deutlich härter an seinem Image: Ende der Achtzigerjahre war der Kurfürstendamm dabei gewesen, ganz in die ‚H&M‘- und Burger-Niederungen abzusacken, mit Parfümerien ‚Douglas‘ und argentinischen Steakhäusern als Highlights. Jetzt wird wieder Bismarcks Dekret beherzigt, jedem Eckhaus ein Erkertürmchen zu verpassen, und mit postmodernen Laternen, Galerien und Fassaden der Anschluss an die zeitgemäße Allerweltscity gefunden. So hat nun der Westen mit seinem Mindestmaß an gewachsener Gediegenheit in den stillen, noblen Seitenstraßen mit ruhigen Cafés und teuren Schaufensterauslagen seinen Abstand zum aufblühenden Osten wiederhergestellt.
Ein Abend am Kurfürstendamm bietet immer noch die Energie der pochenden Großstadt. Ein Abend zwischen Friedrichstraße und Linden ist ein leergegessener Teller mit ein paar hingestreuten Leckerbissen. Es gibt in Mitte Saniertes, Neugebautes, noch sehr viel zu tun, Lücken auszufüllen, Plätze anzulegen – und nach Ladenschluss null Atmosphäre: Stell dir vor, der Hausvogteiplatz ist fertig, und niemand geht hin!
Der große Gewinner der Maueröffnung ist der Bezirk Prenzlauer Berg, was damit einhergeht, dass seine ehemaligen Bewohner die großen Verlierer sind, falls sie arm und ruhebedürftig waren. Aber die Eroberung von Arbeiter- und Fabrikbezirken für erst Individualisten, dann Avantgardisten und schließlich Kapitalisten (= trendbewusste Besserverdiener) – das habe ich zuerst im New York der Siebzigerjahre erlebt und dann überall auf der Welt. Der Kapitalismus setzt sich immer durch: weil er nicht der Granit einer Ideologie ist, sondern wie Wasser, das eine Lücke entdeckt, in die er unbefangen, gierig und ohne jeden geistigen Anspruch eindringen kann. Das macht dieses Phänomen ‚Ich will, dass du Spaß hast, damit ich an dir verdiene‘ lustig, gefällig, gefährlich und unbesiegbar.

Eine Idee kann man angreifen, keine Idee nicht. Da helfen nur spontane Aktionen: Kaufhausbrände und Pflastersteine in Schaufenster, die dann auch noch kostenlose Reklame für die Geschädigten machen: „Kuck mal! Bei ‚Linette‘ hat’s gekracht! Lass uns mal reingehen … Wie findest du diese Bluse da?“ – Tja, und wie findest du den Weg aus den schlangenartig schmiegsamen Verführungen des Großstadt-Dschungels auf die Lichtung des weisen Konsumverzichts? – Indem du in die Vergangenheit abtauchst.

Nach jahrelangen Restaurationsarbeiten ist das Köpenicker Schloss fertig. Das konnte ich Silke nicht entgehen lassen: siebzehn Stationen mit der S-Bahn ab Savignyplatz, mit Umsteigen in – endlich mal: Ostkreuz! In meiner etwas vorschnellen Art erreichte ich am oberen Rand der Rolltreppe noch den Zipfel der S-Bahn Richtung Adlershof. Silkes ein wenig reflektierenden Bewegungsabläufen verschloss sich der Zug. Sie hatte nun vier Linien zur Auswahl, um mir zu folgen, sodass meine ohnehin etwas hektischen Zeichen, dass ich am nächsten Bahnhof auf sie warten würde (wie demonstriert man das in Gebärdensprache?) keine Eindeutigkeit boten. Aber neben der Vielfalt der Richtungsmöglichkeiten hatte Silke auch ein Handy, und weil ich meines seltsamerweise ebenfalls in die Tasche gesteckt und mich an den neuen Klingelton gewöhnt hatte, konnte ich Silke sechseinhalb spannende Minuten später in die Arme schließen. In solchen Fällen ist der von Genforschungsgegnern misstrauisch beäugte technische Fortschritt segensreich: In Prä-Handy-Zeiten wäre ich doch mit der S8 in Grünau gelandet und Silke mit der S5 in Strausberg Nord.

Die Qualität des Wetters verbot Eisbein im düsteren Ratskeller: Stattdessen sahen wir auf die Dahme, den Teil der Havel, der die Schlossinsel umspült, und aßen auf der lichten Terrasse des Schlosscafés, was auf unserem Teller lag. Es war so schön, endlich mal dieses und überhaupt ein Schloss ohne Plastikhülle zu sehen, dass wir gar nicht rein brauchten. Beschwingt fuhren wir siebzehn Stationen zurück in bewohnte Gebiete. Namen wie ‚Schöneweide‘ führten uns unterwegs erheblich in die Irre, aber die Wahrheit – ‚Abbruchhalde‘ – liest sich natürlich hässlicher auf der Schnellbahnnetz-Grafik.

Titelbild mit Material von crystaldream/Shutterstock

25 Kommentare zu “#3.06 | Südamerika in Charlottenburg

  1. Haha, das Berlin-Programm klingt fantastisch. Man soll sich ja auch lieber mehr vornehmen als zu wenig. Man kann die Ziele ja immer noch reduzieren.

    1. Solange man sich nicht schon beim Planen so sehr stresst, dass man nachher völlig überfordert und ausgelaugt in der Stadt ankommt, geht das natürlich.

      1. Die Planung selbst laugt nicht aus, bloß der mühselige Versuch, die eigentlich zum Selbstzweck gewordene Planung dann auch noch umsetzen zu wollen.

      2. Ach ja, vor allem wenn die Mitstreiter gar keine richtige Lust haben…

  2. Eisbein geht doch immer. Naja, vielleicht nicht bei 30 Grad. Der düstere Keller würde mich aber trotzdem eher stören als das Gericht.

  3. „Eine Idee kann man angreifen, keine Idee nicht.“ Das lässt mich an Frau Merkel und eigentlich auch an Kanzler Scholz denken.

    1. Hmm, wenn das der einzige Grund bleibt, würde man aber nicht 16 Jahre im Amt bleiben. Das reicht vielleicht für eine einzelne Wahl.

      1. Ich will jetzt endlich effektive deutsche Waffen für die Ukraine. Welche Eskalation gilt es zu vermeiden? Was Putin in den Wahnsinn treibt, liegt in seinen Hormonen, nicht in unserem Ermessen.

      2. Dieses anhaltende Zögern verstehe ich auch beim besten Willen nicht. Worauf wartet man denn noch?

  4. Die ehemaligen Bewohner der coolen Bezirke sind immer die großen Verlierer. Anders geht es nicht. Möglicherweise reagieren die Ur-Berliner noch ein wenig verschnupfter als andere ‚Vertriebene‘, weil sie damals so antikapitalistisch waren. Wer weiss…

  5. Bei mir war es immer anders herum. Ich habe nie CDU gewählt, konnte Frau Merkel dafür aber ganz gut leiden.

  6. So sehr mich das ständige Gefummel am Handy auch nerven kann, manchmal ist man ja doch froh diese Geräte bei sich zu haben.

    1. Mich nervt das auch gar nicht mehr. Man muss natürlich nicht während eines gemeinsamen Abendessens oder Gespräches dauernd aufs Handy starren. Aber ansonsten gehört das doch mittlerweile einfach zu der Art und Weise wie wir leben dazu.

      1. Ich habe schon seit ein paar Jahren gar kein Festnetz mehr. Ich vermisse es aber auch wirklich gar nicht.

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