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3. Berlin-Reise / 2005

#3.09 | Guntram hat wieder recht

In der ‚Paris Bar‘ schienen wir nicht erwartet zu werden, ich fand meinen Namen auch nicht beim Schielen ins Bestellbuch. Das hätte mich wütender gemacht, wenn wir nicht den besten Tisch des Lokals bekommen hätten. So gut hab’ ich da noch nie gesessen. So gut hab’ ich da noch nie gegessen. Die Unterhaltung war angeregt und harmonisch. Es tut doch gut zu erleben, dass Institutionen nicht nur verschwinden, sondern auch besser werden können. Und jetzt, da ich nicht mehr nach Frankreich oder sonst wohin komme, treibt es mir beinahe die Tränen in die Augen, in Berlin eine funktionierende ‚Paris Bar‘ zu wissen. Paris …, wo ich 1983 die sechs schönsten Wochen meines Lebens verbracht habe.

Aber der Tag mit Marina, Florian und Antonia war auch schön. Es fing schon damit an, dass mir Marina gleich nach unserem Eintreffen knapp vor zwölf verständnisinnig einen Gin Tonic hinstellte. Dann fuhren wir nach Potsdam, von Zehlendorf ein schöner, kurzer Weg. Die Molkerei des Cecilienhofs ist renoviert worden. Sie liegt direkt an der Havel, und anderen war, mitten am Donnerstag, auch schon aufgefallen, dass man von der Terrasse aus einen schönen Blick hat.
Meine vier Begleiter blieben etwas unschlüssig am Rande stehen, während ich einen meiner wirklich bewährten Tricks anwandte: Ich stürmte auf die zu erobernde Fläche und sah so hasserfüllt und bedrohlich auf die Tische, bis ein älteres Ehepaar die Nerven verlor und um die Rechnung bat. Wir genossen die uns verbleibende Zeit trinkend im Sitzen, bis wir zur Anlegestelle der Haveldampfer fahren mussten. Wieder gab es eigentlich keinen Parkplatz, wieder kam Florian ungeschoren davon, während mir noch in den Versandungen der Insel Poel Drohzettel hinter den Scheibenwischer geklemmt werden. Wie macht der das? Seilschaften im Innenministerium?
Eine schöne Bootsfahrt bei heißem Wetter. Wir aßen Würstchen und guckten auf Sacrow: herrlich! Die Fahrt unter der Glienicker Brücke hindurch überwältigte aber nicht mehr so wie beim ersten Mal mit Bo. Werde ich schon wieder promiskuitiv? Brauche ich eine neue Brücke? Unter der Halenseebrücke gibt es nur S-Bahn-Schienen: von Hohenzollerndamm nach Westkreuz – auch nichts Prickelndes. Ich fürchte, ich müsste mal wieder von San Francisco nach Sausalito über die Golden Gate Bridge. Schade nur, dass mich auf keiner von beiden Seiten noch irgendwer erwartet …

Schildhorn. Die Anlage ist renoviert und deshalb für mich, der den Verfall nicht miterlebt hatte, wie immer. Hier hatten nicht nur Michael und Jürgen mich an feuchtwarmem Septemberabend 1987 hilflos getröstet, sechs Wochen nach Rolands Lungenoperation. Hierhin waren nicht nur Bo und Ingrid durch den Wald gezottelt, ergeben meinem Eifer folgend. Hier hatten wir auch 1992 Hassos 85. Geburtstag gefeiert, nachdem wir vorher Achims Grab in Sacrow gesucht und uns für eins der Kreuze entschieden hatten. Vicky war wenige Monate später gestorben, Hasso im Januar 1999 nach Blutwäschen, die in immer kürzeren Abständen notwendig geworden waren. Das Telefon am Klein Flottbeker Weg klingelte. Irene und ich schälten in der Küche. „Das Essen ist fertig“, sagte ich.
Guntram saß reglos in seinem Sessel: „Der Hasso ist tot.“ Es klang überrascht, aber gar nicht traurig. Im selben Tonfall hätte er sagen können: „Der Wein ist schon wieder alle.“ Immer wenn Irene ihre Einwände gegen Hasso vorgebracht hatte, dann hatte er fast entschuldigend geantwortet: „Ich weiß, ich weiß. Aber er ist doch mein Bruder. Der letzte, den ich noch habe.“ Die geschwisterlos aufgewachsene Irene, die ihre Mutter nicht hatte ausstehen können, zeigte dafür kein Verständnis. Eine Woche nach Hasso starb Giuseppes Tata. Giuseppe kann seine Gefühle besser schwingen lassen, als Guntram das konnte. Täglich hatte die Tata ihn tyrannisiert und nervös gemacht. Die Bürde war er los, aber die Lebensaufgabe auch: Leere. Giuseppe, der von großen Reisen geschwärmt hatte, hat jetzt gerade sein Anschlussstudium in Florenz beendet, aber lebt weiter in seinem Veneto-Dorf: das Vertraute, das Unabänderliche.
Hassos Witwe Karen sprach davon, Freunde in Amerika zu besuchen, aber sie verharrte am Schliersee, manchmal fuhr sie ein paar Tage nach Meran, wo sie mit Hasso eine Wohnung hatte.
Die Hauptstadt des Herzens.

Gemeinsam im warmen Abendlicht vor dem ‚Gasthof am Schildhorn‘ an der Havel zu sitzen, das wäre der kahnschwankende, schwanengeschmückte, erinnerungsträchtige Höhepunkt des Tages gewesen, wenn uns nicht Marina zu Hause noch Hühnchen mit Erdbeeren aufgetischt hätte. Ich wurde rot. Zu viel Sonne an Deck, zu viel Wein im Glas. Alles geht unter die Haut.
Antonia war froh, weil sie ihr Staatsexamen hinter sich hatte, ich war froh, weil ich das irgend Machbare mit spielerischer Lässigkeit in die Tage hineingequetscht hatte, und Silke, Marina und Florian waren auch froh oder behaupteten zumindest nicht das Gegenteil.

Nachdem Schneiders wie üblich ausgiebig gefrühstückt hatten, fuhren Silke und ich gleich – fern von allem, was Berlin ausmacht – über die Avus nach Tegel. Keine Abstecher nach Perleberg oder Schwanheide. Mittags besuchten wir unseren Türken in Altona zum Einkaufen. Er nennt mich – ganz unvorhersehbar und unabhängig davon, ob ich Jeans trage oder Flanell – mal „junger Mann“ und mal „Herr Doktor“; beides schmeichelt mir. Wir fuhren zurück auf den Rinke-Hof und holten mit der heil gebliebenen Irene nach, was wir in Kreuzberg versäumt hatten: essen wie in Anatolien und dazu für mich Wein, bis nichts mehr wehtut.

Inzwischen koste ich – wie alle Jahre wieder – die Wonnen der Askese aus: eine unbestimmte Zeit lang nur Wasser, Magerquark und Grünzeug. Macht mehr Spaß als kluge Mäßigung. So habe ich mich schon 1965 ins Abitur gefastet.

Vierzig Jahre später, im Jahr 2005, regiert die SPD in Berlin mit der PDS, den modifizierten Nachfolgern des nicht mehr real existierenden Sozialismus: eine Symbiose von Ost und West und deren Werten. In Berlin sitzt außerdem die rot-grüne Regierung, deren bedrängter Kanzler sich in das Abenteuer von Neuwahlen stürzt. Neben der selbstorientierten FDP und den frohlockenden Parteichristen hat sich hier eine neue linke Wähler-Initiative zu Wort gemeldet, deren Mut zur Naivität schon seine ausgefuchsten, ausgelutschten Führer gefunden hat.
Die S-Bahn fährt wieder von Potsdam bis Königs Wusterhausen. Die Verwöhnten und die Verhärmten haben wieder ein weites Feld, um sich nicht zu begegnen und ihre Vorurteile gegeneinander keinen Prüfungen aussetzen zu müssen. Die liebliche Landschaft der Umgebung und die geschundene Fläche der Stadt mit ihren offenen, überschminkten und verheilten Wunden gehört wieder allen. Jeder, der guten Willens ist, kann und muss sich wieder auseinandersetzen: nicht nur im Kopf, sondern vor Ort. Mitten in Brandenburg liegt wieder der Brennpunkt, an dem alle Probleme, Konflikte und Freudenfeuer flackern. Mein Vater hat endlich wieder recht: Berlin ist die Hauptstadt von Deutschland.

Juni 2005

24 Kommentare zu “#3.09 | Guntram hat wieder recht

  1. Ich selbst habe auch keine Geschwister und kann die Familienbande nie so richtig nachvollziehen. Das Verhältnis zu meinen Eltern ist in Ordnung, aber nichts was ich wichtiger als meine Freunde empfinden würde.

    1. Ich war lange Zeit mit meinem Bruder zerstritten. Erst als wir uns irgendwann zusammengerauft haben, habe ich gemerkt welcher Stein mir vom Herzen gefallen ist.

    2. Genau wie Giuseppe fürchte ich wenn ich an den Tod meiner Eltern denke: die Leere danach. Richtig eng war unsere Beziehung in den letzten Jahren nicht mehr. Aber auf einmal allein übrig zu bleiben kann ich mir auch nicht vorstellen.

  2. Hahaha, das ältere Ehepaar kann einem ja Leid tun, aber Einschüchterung funktioniert in solchen Momenten tatsächlich immer gut 😆

      1. Sind Hauptstädte wie Rom, Athen oder Kairo so extrem organisiert? Paris, London? Das Durchorganisierte hat etwas Kleinstädtisches.

  3. Na 2005 regiert die SPD noch mit der PDS, 17 Jahre später steht die Linke kurz vor der Selbstzerfleischung. Das Problem scheint sich von alleine zu erledigen.

      1. So mache ich das auch. Immer mal wieder eine Woche Detox einschieben und dann kann man die restliche Zeit etwas unbeschwerter genießen.

  4. Ach ja, man braucht ja wirklich auch nur ein einziges Mal solche schönen oder sogar schönsten Wochen und schon bleibt einem die Stadt ein Leben lang im Herzen.

    1. Bei mir was das mit Amsterdam so. Wenn man eine Stadt mit einschneidenden Erlebnissen verbindet, prägt das natürlich.

      1. Oh ja. Die größten Sprünge macht man ja meistens durch die Begegnung mit Anderen. Alleine kommt man nicht immer weiter bzw. man bleibt immer in der selben festgefahrenen Richtung.

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