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3. Berlin-Reise / 2005

#3.04 | Zwischen Frack und Ringelhemd

Den Abend wollten wir natürlich in Downtown Schwerin verbringen, wurden allerdings gleich an der Rezeption darauf aufmerksam gemacht, dass das, was da an der verwahrlosten Kaimauer lag, nicht zum Hotel gehörte. Auf so eine Idee wäre auch niemand gekommen, und selbst zum Tode verurteilte Schwabinger hätten mit diesem Kahn nicht versucht, die Isar zu überqueren. So blieb uns enttäuschenderweise statt der ins Internet gelogenen Bootsfahrt nur das Auto, und Silke trank ja nicht.

Während wir uns festlich kleideten, verfinsterte sich der Himmel, und nachdem ich mir die Haare gekämmt hatte, fing es so an zu regnen, dass das Fernsehen abflimmerte. Die Einheimische an der Rezeption war darüber in keiner Weise erstaunt und auch meinen Argumenten, dass es doch nur regnete, aber nicht gewitterte, in keiner Weise zugänglich.

Wir warfen einen kleinen misstrauisch-spionierenden Blick in den Speisesaal, in dem bereits lebhafte Bewirtung herrschte, wandten uns dann aber sportlicherweise ab, um die Bar zu betreten, in der schon häufiger lebhaft gefeiert worden sein musste, jedenfalls waren die Nähte etlicher Sessel aufgeplatzt. Silke bestellte sich eine ihrer Trostlosigkeiten, ich fand, es müsse bei dem Wetter Bloody Mary sein. Als ich den ersten Schluck nahm, hatte ich den Verdacht, ich sei betrogen worden: Es war kein Wodka im Tomatensaft! Ich stellte die Barfrau zur Rede, die aber nicht mit sich reden ließ. Erst beteuerte sie, doch, es wären sogar 2 cl, was auch immer das ist, und als sie die Zweifel in meinem Gesicht nicht verschwinden sah, ging sie zurück zu ihrem Tresen, füllte mir eine Viertelliter-Karaffe mit Wodka und stellte sie neben mein Glas. Nun war mir auch klar, warum hier die Sessel schon etwas mitgenommen aussahen und die DDR pleite gegangen war. Silke und ich versicherten uns gegenseitig mehrfach, wie glücklich wir waren, jetzt hier zu sitzen und bei diesem tobenden Unwetter nicht unterwegs zu sein. Dann hörte es auf zu regnen und mein Wodka war auch alle.

Erwartungsfroh fuhren wir durch die ‚Straße der abgeblätterten Fassaden‘ (früher vermutlich ‚der unverbrüchlichen Sowjettreue‘) ins Zentrum der mecklenburgischen Metropole, und ich wurde nicht müde, Silke zu erklären, dass früher die ganze DDR so ausgesehen habe. Da Silke niemals in der DDR gewesen war, konnte sie auch gebührend entsetzt sein.
Wir fanden einen Parkplatz in der Nähe des Schlosses und umrundeten es. Der Boden war aufgeweicht, der Prunkbau überwiegend eingehüllt: Irgendwie sah er aus wie die Touristen auf der Piazza San Marco, die bei schlechtem Wetter sofort einen Regenmantel mit Kapuze anhaben, den sie vorher im Portemonnaie trugen. Ärgerlicherweise war auch die Orangerie geschlossen, in der sonst immer die MDR-Kommissare den Tathergang miteinander erörtern. Außer uns war niemand da, und das blieb auch so in den stillen Altstadtgassen, die den Begriff ‚ausgestorben‘ rechtfertigten.
Entweder ist der Stadtkern von Schwerin nicht besonders groß oder wir kamen von der richtigen Seite, jedenfalls landeten wir ziemlich rasch beim Weinhaus ‚Uhle‘, das uns von unserer fachkundigen Kellnerin im ‚Alten Schweden‘ empfohlen worden war. Kaum standen wir drin, da sahen wir, wo all die vielen Samstagabend-Bummler waren: hier. Trotzdem bekamen wir noch einen annehmbaren Tisch in einem gediegenen Raum. Selbst meinem weniger als Silkes geschulten Blick fielen einige stilistische Eigentümlichkeiten sofort ins Auge. Das Mobiliar strahlte konservative Bürgerlichkeit aus; Geschirr und Stoffservietten zeugten von gehobenem Anspruch. Sehr junge Kellner und ältliche Kellnerinnen steckten allesamt im Frack, was der Szene etwas Revuehaftes verlieh, so als würde Marlene Dietrich in ‚Marokko‘ von den Comedian Harmonists begleitet. Stattdessen aber spielte eine füllige Alte vom Schlage Margaret Rutherfords nun nicht Brahms oder Lehár, sondern sie tüdelte tea-for-two-hafte Barmusik über die Tasten. Ihr hätte man den kaschierenden Frack durchaus gegönnt, aber nein, die hatte nur silberfädendurchwirktes Lurex an, das sich jedem ihrer Wülste anpasste und sie zu einer Art Michelin-Weibchen verunstaltete.

Das allererstaunlichste aber war das Publikum. Das ganze befrackte Personal bediente Gäste, die entkleidet waren, als wären sie gerade vom Ballermann-Strand reingekommen und hätten sich nur mal eben ein Ringelhemd übergezogen, um sich beim Pizzaessen den Bauch nicht fettig zu machen: Shorts und kurze Ärmel so obligatorisch wie die Pappnase am Rosenmontag. Wir starrten minutenlang in dieses Szenario, bevor es uns gelang, den Blick in die Speisekarte zu senken.
Im Verlauf des Abends fragte ich unsere Oberin, ob es für sie nicht komisch sei, derart aufgemacht die Gerichte Gästen hinzustellen, die ihre Kleidung in so gar keiner Weise der Umgebung angepasst hätten.
„Das ist meine Berufskleidung“, sagte sie. Ihr Gesicht und ihr Gebaren ließen vermuten, dass sie vorher uniformierte Grenzkontrolleuse gewesen war und sich auch zum Lynchen in Carolina (USA) ganz selbstverständlich einen Ku-Klux-Klan-Umhang samt Schultütenhut hätte aushändigen lassen. Ich mochte nicht so schnell aufgeben, aber sie nahm mir nur den Teller weg und sagte: „Wir haben keine Kleidervorschrift.“ Dagegen kam ich nicht an.
Im Parka in die Premiere zu gehen, war 1968 eine Aussage. Als einziger Grüner einen Anzug zu tragen, war von Otto Schily auch eine Aussage. Hier verpuffte jede Überlegung im Unverständnis. Von der mittel-alterlichen Kleiderordnung bis zur nicht mehr bemerkten Schlunzigkeit: So weit kann Freiheit gehen. Niemals war Kleidung unwichtig: Von der Toga bis zum Mao-Anzug, von der Mönchskutte bis zum Top hat sie immer eine Bedeutung gehabt und etwas über Stand und Gesinnung ihres Trägers ausgesagt. Das gilt für den Reifrock wie für die Jeans – und eben auch für die Samstagabend-Gesellschaft des Weinhauses ‚Uhle‘.
Die Zarin Elisabeth hat mal einer Fürstin, weil sie auf einem Ball das gleiche Kleid wie sie trug, die Zunge rausreißen lassen und sie dann nach Sibirien verbannt, wo es dann vermutlich auch nicht mehr viel zu sagen gab. Trotzdem war es – so gesehen – beruhigend, dass das Weinhaus ‚Uhle‘ auch festlicher gekleidete Menschen wie uns vorurteilsfrei bedienen ließ, und das auch noch ausgezeichnet: Silke und ich waren uns einig, dass wir das beste Chateaubriand bekamen, einschließlich Sauce béarnaise, das wir jemals gegessen haben. Da waren dann auch wir sprachlos.

Im Hotel funktionierte das Fernsehen wieder, sodass wir uns noch gemeinsam daran weiden konnten, dass die Deutschen Letzter beim Eurovision Song Contest wurden. Wir stießen erst gegen Ende der Punktevergabe dazu, dadurch wurde es für mich noch spannend, weil ich zitterte, die von uns verpasste Deutsche könne doch noch einen Punkt bekommen. Der deutsche Schlager ist das Letzte, aber Vorletzter zu werden, hätte ich dann doch ehrenrührig gefunden.

Ich genoss, wie immer in gehobenen Hotels, diese gelbe Masse und eine Scheibe Schinken zum Frühstück; Silke, die stets streng darauf achtet, etwas weniger als die Hälfte von mir zu essen, konnte ausnahmsweise also richtig zuschlagen. Eine Zeit lang dachte ich, dieser gastronomische Abstand zeuge von Demut, wie das Verhalten der Orientalin, die hinter ihrem Gemahl herläuft. Inzwischen bin ich unsicher, ob es nicht sportlicher Ehrgeiz am Rande der magersüchtigen Verweigerung ist. Umso beruhigender, dass es kaum etwas gibt, was Silke mehr fesselt als Kochrezepte und Tischdekorationen. (Für das Eingeben des vorigen Satzes in den Computer gebührt ihr ein Extra-Dank.)

Das Wetter war gut, wir sahen am Seeufer nach rechts und nach links, und während ich anschließend zahlte, stimmte die Rezeptionistin mit mir überein, dass es schön wäre, wenn es zwischen Hotel und Wasser eine Terrasse statt Unkraut gäbe und dass auch eine Promenade statt des Trampelpfades am Ufer die Anlage aufwerten würde.

22 Kommentare zu “#3.04 | Zwischen Frack und Ringelhemd

  1. Schwerin kenne ich nicht, aber ich erinnere mich noch wie ich nach der Wende das erste Mal nach Halle fuhr und wahrscheinlich ähnlich erschrocken wie Silke war.

      1. Immerhin! Wäre ja auch schade, wenn sie ihr Erbe auch nach 20 Jahren noch mit sich herumtragen würden.

  2. Das Schöne an gehobenen Hotels ist ja unter anderem, dass die gelbe Masse deutlich öfters aus Eiern besteht als bei der billigeren Konkurrenz. Meistens wird ja nur dieses Pulver angerührt und warm gehalten.

      1. Na die spielen bei einem frisch gemachten Rührei kaum eine Rolle. Man muss ja nicht kiloweise Eier im Thermobehälter lagern.

      2. Frühstück ist ja gar nicht meins. Aber so ein dunkelblonder Toast mit einer milden Scheibe Rächerlachs und frischem Rührei um 9.30 Uhr auf der Terrasse eines edlen Hotels oberhalb eines glitzerndblauen Sees ist eine erfreuliche Vorstellung (nur nicht für Veganer).

  3. Um Kleidervorschriften geht es ja auch gar nicht. Aber man sollte doch schon den nötigen Respekt mitbringen wenn man in eines dieser Restaurants geht. Was man selbst als schick ansieht, kann sich ja immer noch unterscheiden. Man sollte nur wenigstens den Eindruck erwecken, dass man sich ein klein wenig Mühe gegeben hat.

      1. Hmmm, ein T-Shirt als Antwort zum Frack scheint mir aber nicht nur eine Geschmacksfrage zu sein.

      2. In diesem Fall ist es entweder Gedankenlosigkeit oder Gleichgültigkeit. Beides verabscheue ich. Eine bewusste Provokation (Destroyed Jeans zur Opern-Premiere) ist zumindest eine Aussage.

      3. Die Gäste machten nicht den Eindruck, als ob sie Foie gras von grober Mettwurst unterscheiden könnten, aber an der Rechnung wäre es ihnen vielleicht aufgefallen. (Wessi-Unverschämtheit!!!)

  4. Hotels am See … immer eine schöne Option. Das macht diese meist ja doch eher unpersönlichen Zimmer leichter aushaltbar.

      1. Finde ich auch. Der Blick aus dem Fenster ist mir weitaus wichtiger als der Blick aufs Hotel. Man schaut ja öfters raus als rein.

      2. Im Urlaub gilt das. Bei Geschäftsreisen in Städten ist das schwieriger. In London, Paris und München hatte ich meine Lieblingszimmer. Aber im Allgemeinen war ich schon froh, wenn das Zimmer nicht im Abzugsbereich der Hotel-Küche lag.

  5. Die Oberin klingt ja fast so, als sei sie selbst overdressed und würde eigentlich auch lieber im Ringelhemdchen arbeiten.

    1. Sie hatte sich dem Stil des Hauses anzupassen und hätte sicher auch kein Problem damit gehabt, am Ballermann im Bikini zu servieren. Gut, dass ich das dann nicht sehen müsste.

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