Später, als ich dann wieder zurück war in Hamburg, erschien es mir wie ein fast nahtloser Übergang. Aber das stimmte nicht. Neue Freundschaften, neuer Ehrgeiz – ich hatte mich gehäutet, und das war, nachträglich betrachtet, nicht nur notwendig, sondern auch weniger herzzerreißend gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Marketing-Chef von Polydor UK ließ mich nicht lange im Londoner Firmensitz nahe der Oxford-Street zappeln, sondern hetzte mich Woche für Woche mit den Vertretern durchs Land. Das war für Birmingham, Manchester, Liverpool und Carlisle in Ordnung: Montag, frühmorgens, fuhr ich mit dem Zug los, Freitag, spätabends, kam ich mit dem Zug zurück. Zwischendurch hatte ich die kulinarische Gastfreundschaft der Vertreter-Gattinnen und die chinesische Küche der englischen Provinz genossen. Außerdem hatten mich die Schallplatten-Verkäuferinnen bestaunt, weil ich James Last schon persönlich gesehen hatte. Bach wäre weniger eindrucksvoll gewesen.

Später, wenn ich in Hamburg als Product Manager für Neuveröffentlichungen in den Sitzungen der Produzenten saß, war es mir eine Freude, den verblasenen und weltfremden Gestaltern phonographischer Kunstwerke mitzuteilen, was von ihrem Enthusiasmus für ein Bartok-Streichquartett in einem Laden in Huddersfield noch ankommt. Ich sprach nicht nur das routinierteste Englisch, ich hatte sogar schon Geschäfte betreten, in dem unsere Erzeugnisse so richtig verkauft wurden, oder auch nicht. Das machte mich unheimlich und gefährlich. Die Produzenten lehnten mich als ‚kommerziell‘ ab, die Chefs mochten mich, aus demselben Grund. So begann meine Karriere, die ich mir quer durch Großbritannien erlaufen hatte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Am Wochenende saß ich, etwas einsam, in meiner Einzimmer-Wohnung in Golder’s Green am Hampstead Heath, Bad mit Wanne und Fenster, Eingang direkt in etwas Winziges mit Herd und Kühlschrank, also wohl Küche. Auf meinem Sofa (nachts Bett) las ich Daphne du Maurier, blätterte sehnsüchtig in der ‚L’Uomo Vogue‘ oder lag bei gutem Wetter im Park und wartete darauf, dass nichts passiert, was es dann auch tat.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wie gewohnt war ich in ‚feinem‘ Vorort untergebracht, wie in Hamburg, wie schon in Berlin. Inzwischen kenne ich einige der verkommensten Löcher überall auf der Welt, aber nur als wohlig schaudernder Besucher.

Anfang Juni, zwei Wochen vor meinem Geburtstag, kam es anders als sonst. Da war Schottland dran, und das war zu weit für den üblichen Ablauf. Deshalb fuhr ich ausnahmsweise schon am Donnerstag von Euston los, um rechtzeitig zum abendlichen Besäufnis der schottischen Crew auf einem Landsitz zwischen Hügeln zu sein.

Ich wurde gleich gemocht, weil ich ‚Lo-ch‘ richtig kehlig aussprechen konnte, was Engländern nicht so leicht gelingt, sie sagen ‚Lokk‘, eine Beleidigung für Nessie; außerdem war ich recht trinkfest und redete mehr über meine (erlogene) Begeisterung für die britische Insel als über Gustav Mahlers symphonisches Schaffen.

Foto links: Chatchai Saokaw/Shutterstock | Foto rechts: Botond Horvath/Shutterstock

Am nächsten Morgen weihte Area Manager George Wishard seine Leute in die Veröffentlichungen des nächsten Monats ein, wobei die beiden für Glasgow beziehungsweise Edinburgh zuständigen Vertreter selbst bei den Klassik-Neuheiten hinhören mussten, denn bei ihnen vor Ort gab es Fachleute, die sogar a-Moll von B-Dur unterscheiden konnten. Für die anderen reichte es, Tammy Lee mit ‚I’ll Run Away From You‘ nachzuordern und Middle Of The Road mit ‚Chirpy Chirpy Cheep Cheep‘ als den Sommerhit ’71 anzupreisen. Um die Zeit deutlicher zu beschreiben als mit meinen gewählten Worten, füge ich beide Videos hier ein, selbst wenn der Elan dieser vergnügungssüchtigen Epoche an meinem Gaumen aufregender prickelt als an den Trommelfellen House-gewohnter Mittzwanziger.

Mittags gab es etwas, vor dem mich alle Schotten warnten, es sei „very hot“, und ich dachte: „Na schön, dann lass ich es eben auskühlen.“ Ich wusste noch nicht, dass ‚hot‘ auch ‚scharf‘ bedeutet. Für Harald und mich bedeutete ‚scharf‘ damals, was heute ‚geil‘ heißt, so dass wir von erregten oder erregenden Personen sagen konnten: „Scharf wie Panterpisse“; das war stets als Kompliment gemeint.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Das schottische Gulasch war für Festland-Begriffe nicht extrem scharf, der Vertreter für Edinburgh war es schon eher: wahrscheinlich sogar jünger als ich, dunkellockig; er sah aus wie ein Schäfer, den sein Vater Zeus auf Nordreise geschickt hatte, damit der junge Halbgott endlich von seiner Menschenmutter wegkam.

Foto oben links: Kobako /Wikimedia | Foto oben rechts: Julius Scholtz/germeinfrei | Foto unten: Archivist/Fotolia

Peter brachte mich am Freitagnachmittag in seinem Dienstwagen nach Edinburgh zu dem Hotel, das ich bis zum nächsten Freitag beschlafen sollte. Es war kalt und grau unterwegs, also genau so, wie ich mir Schottland vorgestellt hatte. Die Stadt kam mir düster und abweisend vor, das Hotel auch. Von meinem Fenster aus musste ich über die Straße auf das finstere Schloss sehen. Da konnte man bestimmt prima drin verzweifeln. Nie zuvor war ich so weit nördlich gewesen. Ich überlegte, ob das wohl die Höhe von Lappland oder Sibirien sei. Warum hatte ich mir das nicht vorher auf der Landkarte angeguckt? Besser nicht; hätte mich bloß entsetzt. Ausgesetzt. Mein Telefon in London funktionierte nicht, weil die Vormieterin die Rechnung nicht bezahlt hatte. Dafür hatte sie das Bad so hinterlassen, dass ich das ganze Pfingstwochenende hatte schrubben müssen; dabei bin ich weiß Gott nicht sonderlich pingelig.

Foto: Petair/Fotolia

18 Kommentare zu “#1.4 Very hot

  1. Inzwischen kenne ich einige der verkommensten Löcher überall auf der Welt … das macht wahrscheinlich den wirklichen Globetrotter aus! 🙂

  2. Angesehene Produzenten als verblasene und weltfremde Gestalten zu beschreiben, ist schon sehr überheblich und unverschämt. Wäre mal interessant zu hören, wie die Produzenten Sie empfanden…

  3. Grau, düster, abweisend… neugierig auf den Norden und die Berge bin ich trotzdem. Der Süden ist mir bislang sehr viel vertrauter. Langsam Zeit das zu ändern…

    1. Schottland ist definitiv eine Reise wert. Wer Berge und Natur mag, kommt ja eigentlich nicht drumherum. Auf auf!

  4. Loch, Lokk…nàdurrach…a’ fuireach… zweimal war ich bisher in SChottland im Urlaub. Die Sprache werde ich wohl trotzdem nicht mehr lernen.

    1. Scotch oder Bourbon (also Wiskey)? Mit Eis? Mit Leitungswasser oder doch mit „Cloud Juice“ (Eine 0,75 Liter-Flasche enthält angeblich 9750 Tropfen Regenwasser aus Tasmanien; die mit der Wetterstation „Cap Grim“ gemessene Luft um King Island gehört zu der saubersten dieser Welt.)? Mit Barkeeper oder mit Zimmermädel? Bernstein trank immer Chivas Regal 25 Year Old. Kostet die Flasche jetzt auch schon 278,00 €. Aber: „15-Euro-Whisky von Aldi gehört zu den besten der Welt“, schreibt Die Welt.

    2. Jaja die Aldi-Nummer habe ich auch neulich gelesen. Anscheinend geht’s da aber um einen Whisky, der nur in englischen Geschäften zu bekommen ist. Unser guter alter Aldi hat ja meines Wissens nach gar keinen Single Malt.

  5. Chirpy chirpy cheep cheep ruft tatsächlich die ein oder andere Erinnerung wach. Schlimm ist der Song natürlich trotzdem 😂

    1. Dafür ist das Video zu I’m gonna run away from you umso toller. Wann haben vor allem Männer aufgehört so zu tanzen? Das Selbstbewusstsein hat definitiv abgenommen.

    2. Das ist doch eh die aktuelle Welle. Die Freiheiten der 70er werden langsam aber sicher wieder in Richtung Spießertum der 50er zurückgeschraubt.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

sechzehn − fünf =