Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Oder eine kurze. Heute kommt mir das Jahr 2003 gar nicht so weit weg vor. Zwischen 1973 und 1988 lagen Welten.

1975 war ich vom Marketing ins A&R gewechselt. Pali schlug das vor, aber Doktor Hirsch sagte zunächst, das könne er seinen Produzenten nicht zumuten; ich sei immer so aufmüpfig in den Sitzungen. „Gerade deshalb ja!“, antwortete Pali. „Wenn du ihn bei dir hast, wird er nach außen hin loyal sein und weniger Ärger machen.“ Das leuchtete Doktor Hirsch ein und traf auch zu. Allerdings nicht für interne Sitzungen, so dass einer meiner neuen Kollegen sich bissig erkundigte: „Wieso braucht der Hirsch jetzt eigentlich ein Script Girl?“ „Mach dir nichts draus!“, tröstete mich Pali, „dieser gescheiterte Dirigent hat doch ein Gesicht wie ein zertretener Scheißhaufen.“ So sah ich das dann auch immer. Die ‚Produzenten‘ wussten einiges über Komponisten, aber nichts über Kapitalismus. Mein unfreundlicher Widersacher wurde später ganz verträglich und starb Ende der Achtzigerjahre an Suff. Ich selbst belasse es bisher noch bei Entzügen.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Obwohl ich nicht nach Gran Canaria flog, hielt ich den Kontakt zum Bernstein-Clan aufrecht. Ab 1976 nahm Bernstein für ‚Deutsche Grammophon‘ auf, im Jahr 1980 verhandelte ich erfolgreich für einen Exklusiv-Vertrag. Meine Solisten auf Klavier, Geige und Cello konnte ich auch mit ihm zusammenführen, und 1984 trotzte ich ihm sogar die ‚West Side Story‘ ab. Sein berühmtestes Werk hatte er nie selbst dirigiert und tat es danach auch nie wieder.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Meine Aufgabe sah ich hauptsächlich darin, das Image des Amerikaners Bernstein zu europäisieren: Beethoven, Brahms, Mahler, vor allem mit den Wiener Philharmonikern. Dafür war die ‚Deutsche Grammophon Gesellschaft‘ besser geeignet als die Verantwortlichen bei ‚CBS‘ in New York, die mit ihrem Star nicht mehr viel anzufangen wussten. Aber eine gesunde Mischung aus unkommerziellem Repertoire, das ihm am Herzen lag, und populären Stücken, die uns gute Umsatzzahlen brachten – das musste schon sein.

Anlässlich einer Karajan-Aufnahme hatte ich im November 1975 an meinem einzigen freien Abend in einem Club mit dem unverfänglichen Namen ‚Gay‘ Roland kennengelernt. Im Januar 1976 zog er zu mir nach Hamburg. Durch ihn hatte ich mich wesentlich weiter von den Golfer-Töchtern entfernt als durch meine Liebschaft mit dem etablierten Pali. Roland war zwei Jahre älter als ich, gleich groß und hatte dieselbe Schuhgröße wie ich. Er holte in Hamburg sein Abitur nach und begann, Jura zu studieren. Meine Eltern mussten sich mit dieser Konstellation abfinden und boten Roland ein Jahr später sogar das ‚Du‘ an. Zu Weihnachten.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Nun waren wir wieder so etwas wie eine Familie, wenn auch eine ziemlich kleine: Mein Vater hatte wenig beizusteuern, meine Mutter gar nichts und Roland auch nicht viel. Bei meinen einzigen Verwandten, zu denen ich noch Kontakt habe, den beiden Töchtern von Guntrams Bruder, kommt es mir so vor, als seien sie schon vielfache Urgroßmütter, aber das ist wohl ein wenig übertrieben.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Roland gab 1982 sein Jurastudium auf und eröffnete einen Kosmetikladen. Damit hatte er schon in Berlin sein Geld verdient und war damit finanziell eine Zeitlang sogar erfolgreicher als ich. Nun konnte er mich aber nicht mehr auf etwas interessantere Geschäftsreisen begleiten.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Da sprang – fürsorglich wie immer seit Schmalkalden – meine Mutter ein: Sie hatte mich mit fünf in die Schule geschickt, meine Hausaufgaben überprüft oder zur Not erledigt, solange ich das brauchte, meine schiefen Zähne richten lassen und mich zur ‚Deutschen Grammophon‘ geschickt. Es wurde Zeit, dass ich mich revanchierte. Das gelang besonders gut im Zusammenhang mit Bernstein-Aufnahmen überall auf der Welt.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Roland konnte nicht, Guntram wollte nicht, und ich reiste oft genug mutterseelenallein. Aber eben nicht immer, und so lernte Irene Israel, die amerikanische Ost- und Westküste, Hawaii, Japan, Australien, Hongkong, Bangkok und noch einiges mehr kennen. Pali sage zu ihr: „Sei bloß froh, dass Hanno schwul ist. Keine Ehefrau würde das mitmachen“, und obwohl meine Mutter ihre Entgegnungen im Allgemeinen mit „Ja, aber“ anfing, begann sie ihren Kommentar diesmal lieber gleich mit einer Reisebeschreibung, ohne näher auf Palis Worte einzugehen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

19 Kommentare zu “#3.1 Die Reisemutter

  1. Was für eine Geschichte, und dann auch noch beiläufig im Nebensatz abgearbeitet: Rinke initiiert Bernstein’s einzige Aufnahme der West Side Story. Krasse Sache.

  2. 2003 kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich habe das Gefühl je Älter ich werde, desto schneller vergeht die Zeit.

  3. Die Reisemutter wirkt in den Videos wirklich super sympathisch. Und selbstverständlich stilvoll. Scheint eine interessante Frau gewesen zu sein.

    1. Und was ein Glück bei den ganzen Reisen dabei zu sein. Hawaii, Australien, Amerika, Bangkok, Japan… soweit schafft es mancher ja nicht einmal in einem einzigen Urlaub.

      1. Australien würde mich tatsächlich auch noch reizen. Asien- und Amerikareisen machen mir nichts aus, aber die zusätzlichen 10h Flugzeit haben mich bisher immer abgeschreckt.

      2. Ich hab immer das Gefühl wenn ich einmal im Flugzeug sitze macht’s nicht mehr wirklich einen Unterschied wie lange es dauert…

  4. Und was für eine schöne Geste, sich bei den Eltern zu revanchieren, indem man mit ihnen die Welt bereist. Da wünschte ich mir, ich hätte ein entspannteres Verhältnis zu meinen eigenen Eltern gehabt.

      1. ‚I know I will never be happy, but I know I can be gay!‘ MM

      1. Dafür gibt es ja immer noch Orte mit so tollen (oder idiotischen Namen, je nach Ansicht) wie Triebwerk oder Greifbar. In Berlin. Naja

      2. Mit Schwulenclubs können es wohl nur noch Friseurnamen aufnehmen.

      3. Hahahaha, Mettropolis ist allerdings ziemlich unschlagbar. So schlimm, dass es fast schon wider gut ist 🙂

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