Am 8. August lief es dann aber etwas anders. Vormittags hatte ich mich in Hampstead herumgetrieben: ‚Music Center‘, ‚Antique Market‘, nachmittags las ich, schrieb ich, schlief ich.

Anschließend hielt ich mir den Spiegel vors Gesicht und versuchte, mich selbst zu hypnotisieren. (Wahnsinnig war ich ja schon immer.) Tatsächlich brachte ich es so weit, dass mir die Tränen über die Wangen rannen, was merkwürdig war, weil ich mich eines solchen Zustandes, sei er emotional oder physisch verursacht, seit meiner Kindheit nicht mehr erinnern kann.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Der Tag neigte sich dem Abend zu, so beendete ich meine Irrwitzigkeiten, nahm als Abendbrot einen kräftigen Schluck aus der Gin-Flasche zu mir und suchte die Stadt auf.

Ja, so schrieb ich damals, völlig fehlerfrei, blitzschnell und ohne nachzudenken. Nach fünf Seiten Schilderung, dass nichts passiert war, fahre ich auf der Rückfahrt aus der City fort:

Es war halb elf. Um elf schließen die Pubs. Ich würde, wenn ich wollte, gerade noch die Zeit finden, im ‚King George‘ ein Bier zu trinken. Aber wozu? Der vorige Abend war wenig ergiebig gewesen. Was verstand ich überhaupt unter einem ‚ergiebigen Abend‘? Zweifellos dachte ich von einem gewissen Punkt an nicht weiter. Rettung als deus ex machina, oder deus ex machina als Phänomen, dem man ungestraft erliegen kann?

Drei Stationen vor Hampstead entschloss ich mich, gleich nach Golder’s Green durchzufahren, früh zu schlafen, am Sonntag ausgeruht zu sein. Eine Station vor Hampstead fühlte ich mich doch reichlich durstig und beschloss, in den verbleibenden zehn Minuten ein Bier und zwei Augen zu riskieren, stieg aus, ging ohne alle Fisimatenten rein und nahm das bereits als Zeichen äußerster Abgebrühtheit.

Foto: Nick-D/Wikimedia Commons

Gerade als ich erschien, gellte der Gong auf, der mahnte, den letzten Drink zu bestellen. Ich war kühn genug, bar jeder Ziererei an den Tresen zu treten und das Bier zu fordern. Dann ging ich beiseite, so guckend. Was ich wahrnahm, war ein schlanker, dunkelhaariger Mensch meines Alters, meiner Größe mit romantischen Gesichtszügen. Das forsch herbe Aussehen hätte ihn über jeden Verdacht erhaben gemacht, wäre er nicht in einem ziemlich heftigen Blickspiel mit einem Rotbewesteten befangen gewesen. Dadurch befand ich mich außerhalb der Gefahrenzone, bis er plötzlich an der roten Weste vorbei auf mich sah.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Nun kneife ich bei der gegenseitigen Betrachtung niemals, also auch hier nicht, doch ziemlich schnell kam es zum ersten Lächeln, das als Gefahrenmoment erster Güte bekannt ist. Er kam die drei Schritte auf mich zu und sagte: ‚Hallo‘. Daran war nichts auszusetzen, aber als kurz darauf die Gläser eingesammelt und die Lichter gelöscht wurden, verabschiedete er sich keineswegs. Wir gingen. Er erkundigte sich, wohin. ‚To the Hampstead Heath‘, sagte ich etwas idiotisch, aber von der Richtung her zutreffend. Doch weil ich fand, dass das zu wenig war (ich hatte mich ja in völligen Zugzwang begeben), fragte ich: ‚Where should we go?‘ – ‚Well, there’s my flat.‘ Er will plaudern, dachte ich, dachte ich nicht wirklich. ‚And there is my flat‘, sagte ich.

Wir behielten die Richtung bei, und obwohl der Weg endlos war und ich die Sekunden vor mir herschob wie Schneelawinen, brachte uns doch jeder Schritt meiner Wohnung näher. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihn wegkatapultiert, ausgelöscht. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich davongerannt, ohne ein Wort. Ich wäre aufgewacht, ich hätte gesagt, es ist nicht wahr. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich nachträglich nicht in Hampstead ausgestiegen. – Aber ich konnte nicht, und so kamen wir in meiner Wohnung an.

Ich fand sie nicht richtig aufgeräumt. Ich schaffte notdürftig Ordnung, leicht geniert. Ich hörte die vertrauten Stücke von der Cassette, so als wäre alles wie immer. Nichts war wie immer. Wir saßen auf meiner Bett-Couch, tranken Martinis und redeten über Unverfänglichkeiten wie Renaissance-Musik (sein Spezialgebiet), Trade Unions, Datenverarbeitung. Aber dann brauchte ich plötzlich das Wort ‚sublim‘. Ich griff zum Diktionär, um es nachzuschlagen, aber etwas Seltsames geschah – ich weiß selbst nicht ganz genau, was – jedenfalls weiß ich immer noch nicht, was ‚sublim‘ auf Englisch heißt.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

So weit das Tagebuch. 25 war ich inzwischen! Danach habe ich mein Englisch zwanzig Jahre lang täglich verfeinern können. Mein Denken und Fühlen auch. Ich weiß, das war jetzt sehr viel Londoner Ketchup am Edinburgher, aber dafür schmeckt er nun wirklich nach ‚Hanno mit fünfundzwanzig‘. Unvorstellbar in Zeiten des Handy-Datings von jetzt auf eben. So hätte ich das 2017 nicht mehr fühlen und schreiben können. In der ersten Fassung dieses Reiseführers stand bloß, ziemlich am Anfang des nächsten Kapitels:

Im August 1971 hatte ich bei einem Pub-Besuch Douglas kennengelernt. Bis zu meiner Abreise aus England war ich nicht mehr solo. Ein ganz neues Gefühl. Von ihm stammen auch all die Fotos aus jener Zeit. Und ich war gleich, auch öffentlich, im Überschwang. 1971. Da traute ich den Londonern all die Befreiungen zu, die ich den 68ern nicht abnahm: Gelassenheit imponierte mir eben immer mehr als Verbissenheit, schon weil ich selbst so gern gelassen gewesen wäre und so oft verbissen war.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Stimmt das? Stimmte es je? Das Nachträgliche ist der Wahrheitsfindung nicht zuträglich. Aber da es für die Folgejahre keine Tagebücher gibt, muss ich alles Weitere aus meinem Gedächtnis kramen, und da geht es, wie auf den meisten Dachböden etwas unordentlich zu. Wir bauen uns unsere Vergangenheit, und wir glauben an sie wie einst an die Gleichnisse der Bibel.

Foto: ruskpp/Fotolia

20 Kommentare zu “#1.9 Douglas

  1. Also zu guter letzt doch noch eine Auflösung der Spannung vom letzten Beitrag. Wenn nicht in der Tube, dann wenigstens im Pub 😉

  2. Man schreibt in der Tat seine eigene Geschichte. Und wahrscheinlich ist diese durch unsere persönliche Sichtweise sogar irgendwie wahrer als das was tatsächlich passiert ist. Zumindest ehrlicher.

    1. Brecht hat schon vor ewigen Zeiten gesagt „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“ Das wird auch heutzutage irgendwann wieder zutreffen.

  3. Jetzt hab‘ ich den Anfang dreimal lesen müssen, bis ich gemerkt habe, dass es sich beim Spiegel nicht um das gleichnamige Magazin handelt. Oh Mann!

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