Meine Freundin Anette Kanngießer mailte mir nach Meran, dass sie in der folgenden Woche nach Edinburgh fliegen werde. Ich mailte zurück, an Edinburgh habe ich auch ein paar Erinnerungen. „Schick sie mir doch“, schlug Anette vor, „dann kann ich mich auf dem Flug schon mal einlesen.“ Nun ist die ‚Mail‘ fertig, mit ein paar Monaten Verspätung: keine Einstimmung mehr, sondern ein Ausklang.

Dabei schreibe ich rasend schnell, korrigiere dann allerdings bohrend gründlich und sitze tage- oder wochenlang da und denke: Das interessiert keinen! Aber zum Schluss entsteht doch immer irgendetwas. Mein Kompositionslehrer Professor Klussmann sagte, wenn ich jede Woche mit einer neuen Partitur bei ihm erschien: „Du bist nicht fleißig, du bist triebhaft.“ Mein engster Freund Pali sagte: „Du bringst immer alles zu Ende, du kannst nichts wegschmeißen, du bist einfach zu geizig.“

Hamburg, im Juli 2018

++ FÜR ANETTE ++

Triple-Edinburgher mit Ketchup

Wenn ich wegmusste, dachte ich immer, meine Welt ginge unter.

Das erste Mal musste ich weg, als ich ein Jahr alt war. Was ich da dachte und ob überhaupt, ist nicht überliefert. Meine Mutter brachte mich nach Schmalkalden zu meinen Großeltern, weil das viel schöner war, für mich oder für meine Mutter. Mein Vater war im Gefängnis und noch nicht mit Irene verheiratet. Auf dem Hinterhofbalkon der Wohnung, in der sie bei Beckers Unterkunft gefunden hatte, wurde nicht nur ich gelagert, sondern auch die Kohle für Wintertage, und wenn meine Mutter mich nach einem kleinen Sonnenbad wieder ins Zimmer holte, war ich voll von Ruß, erklärte sie mir später, als ich erwachsen war. Um sich den Anblick ihres schwarzen Säuglings zu ersparen und mir das zerstörte Berlin, gab Irene mich kurz nach meinem ersten Geburtstag im Juni 1947 an ihre erhoffte Schwiegermutter in Thüringen ab.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die Mutter meines Vaters war alles andere als kinderlieb. Sie selbst war lieblos bei einer Mutter aufgewachsen, die auf Befehl ihrer Eltern den ‚falschen‘ Mann geheiratet hatte, das tat ihre Tochter Maria freiwillig. Sie gebar dem schmucken Offizier Reinhold Rinke vier Söhne und musste die und ihren durch das schmähliche Ende des Ersten Weltkrieges arbeitslos gewordenen Mann versorgen, was die fromme Katholikin mit protestantischem Pflichtbewusstsein widerwillig durchzog, bis alle außer Reinhold selbstständig wurden. Mich reichte sie gleich durch an den Bahnwärter, der schon so viele Kinder hatte, dass ich wohl nicht weiter stören würde. Tat ich aber doch. Kurz vor Weihnachten wollten Bahnwärters mich unbedingt wieder loswerden – ich schrie durchgehend. Das blieb auch in Berlin so, aber Mütter müssen das aushalten, Bahnwärter nicht. Ich war halb verhungert, klagte Irene mir zwanzig Jahre später vor, so dass ich mir lustvoll auszumalen begann, wie mir der Bahnwärter auf Geheiß seiner erschöpften Frau allnächtlich statt Grießbrei sein riesiges Geschlechtsorgan in den kreischenden Schlund gesteckt hatte, was nicht ohne Auswirkungen auf meine sexuellen Vorlieben bleiben sollte.

Foto links: TOMMES-WIKI/Wikimedia | Foto rechts: Ilka Burckhardt/Fotolia

Dass schon Fötus oder Föta und erst recht der oder die Geborene seine/ihre Umgebung bereits einzuschätzen lernt, wusste man damals noch nicht, entschuldigte sich meine Mutter später, als ich erwachsen war. Mir selbst verzeihe ich seither auch fast alles und schiebe es abwechselnd auf Irenes stressbeladene Schwangerschaft und die eigentümlichen Gepflogenheiten des Schienen-Bediensteten.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

20 Kommentare zu “#1.1 Abschiebehaft

  1. Oh wunderbar, bei aller Liebe zu Italien, auf die Schottland-Aufzeichnungen habe ich mich ganz besonders gefreut 🙂

  2. Oh Mann, nennt man das auch pädophile Phantasie wenn man sich mit zwanzig Jahren Verspätung und aus eigener Sicht das Geschlechtsorgan des Bahnwärters ausmalt? Just kidding natürlich, aber interessantes Thema…

  3. Ist es nicht immer tragisch wenn Eltern Kinder kriegen, obwohl sie so gar keine Beziehung zu Kindern haben? Schlimme Situation.

    1. Mütter und Väter, die keinen Draht zu ihren Kindern haben, gibt es zuhauf. Für die Kinder ist es immer ein bischen traurig.

  4. Was könnte eine Email besser ersetzen als ein ausführliches Blog-Kapitel?! Toll, dass wir so alle etwas davon haben. Vielen Dank!

    1. Ganz genau, ich folge gespannt Herr Rinke. Und das Dankeschön geht in diesem Falle an Anette Kanngießer 😉

    2. Ich war vor mittlerweile 10 Jahren in Edinburgh und hab gemischte Erinnerungen. Vielleicht bekomme ich durch den Reisebericht Lust auf einen zweiten Versuch…

    1. Hahaha unterschätzen Sie ihre Berichte nicht. Manch eine witzige Anekdote macht einen ja gleich wieder neugierig.

    2. Rinke‘s Aufzeichnungen sind von einem traditionellen Reisebericht so weit entfernt wie Orbán von der EU. Und gerade deshalb so spannend und unterhaltsam.

  5. Hahaha, es ist doch immer gut zu wissen, dass alle Probleme irgendwie mit Schwangerschaft und Kindheit zusammenhängen 😉 Macht die Arbeit beim Psychiater nicht einfacher, aber man hat wenigstens eine kleine Entschuldigung für seine Macken.

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