Meine Lehrzeit zwischen Fabrik, Lager und Buchhaltung, zwischen Praxis und Theorie also, plus all der ‚Siemens‘-Lehrgänge in Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und Jura hatten mich gegenüber unterschiedlichsten Fakten und Menschen gestählt, und meine paar Monate Großbritannien verliehen mir den Duft der großen, weiten Welt. So begab ich mich zwar arglos, aber nicht waffenlos in die Löwenhöhle.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Schnell war klar, wer hier das Sagen hatte und über wen dieser Laden aufzurollen war. Das klingt berechnend; ich möchte aber betonen, dass ich wirklich verliebt war. Jedenfalls: Im Mai 1972 waren Pali und ich ein Paar und machten unsere Hochzeitsreise erst nach Capri und dann, wie es sich gehört, nach Venedig. Meine Eltern, denen nach Weihnachten die furchtbare Wahrheit klargeworden war, weil meine Mutter – aus reiner Fürsorge – meine Tagebücher gelesen hatte, konnten, den Umständen entsprechend, einigermaßen zufrieden sein, denn für Irene kannte sich Pali in Theater und Literatur aus, für Guntram verdiente er mutmaßlich genug, und seine Geschäftsfreunde und Golfpartner brauchten ja nichts zu erfahren.
Foto: Deutsche Bundesbank/Gemeinfrei
Capri war sogar Irenes Vorschlag gewesen, denn dort hatte sie eine wunderbare Zeit verbracht und mehr Verehrer gehabt, als es Guntram lieb gewesen war. Was weniger ins Bild passte, war der Umstand, dass ich nun unterwegs in Italien der Männerwelt doch etwas ausführlicher Beachtung zu schenken begann, als ich mir früher hatte durchgehen lassen.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Schon als ich an einem warmen Sommernachmittag in den elterlichen Garten einen adligen Österreicher mitbrachte, der zu Irene „Gnädige Frau“ sagte, dann aber mit mir zum ‚Musikhören‘ im Partykeller verschwand, war meine Mutter gleich argwöhnisch und sagte, nach sicherlich reiflicher Überlegung während der Nacht, am nächsten Morgen zu mir: „Wenn du vorhast, dich zu einem promiskuitiven Homosexuellen zu entwickeln, dann musst du unser Haus verlassen.“ Ich war erst sechsundzwanzig, das war also ein knallharter Rausschmiss, mitten in meiner – durch den Katholizismus ein wenig verzögerten – Pubertät. Natürlich entschied ich mich nicht für die Mutter, sondern für die Männer. Irene suchte mit mir die Möbel für die neue Wohnung aus und heulte eine Woche lang, teilweise auch ins Telefon, als ich dann wirklich weg war. Guntram tröstete sie und fragte: „Was heißt ‚promiskuitiv‘?“
Bis zu unseren Flitterwochen hatten Pali und ich im Büro unsere Nähe geheim gehalten, und wie weit die gleiche Urlaubszeit von Pali und mir den anderen Angestellten zu denken gab, weiß ich nicht. Nun kommt wieder mal das, was sich nur das Leben traut, aber kein anständiger Schriftsteller: Der Schlafwagenschaffner, der uns zu unserem Abteil führte, hatte mit mir zusammen die Ausbildung bei der ‚Deutschen Grammophon‘ gemacht und war im Hause noch das, was heute ‚bestens vernetzt‘ wäre. „Alles darf man machen, alles“, ärgerte sich Pali, „aber man muss dazu stehen, dann akzeptieren es die Leute. Nur heimlich tun und sich dann erwischen lassen – das geht gar nicht.“
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
Es ging aber doch. Es musste gehen. Werner kümmerte sich überwiegend um seinen eigenen Kram, der mit den Belangen der Firma nur wenige Überschneidungen hatte, Siegling verließ sein Zimmer nur für Klo-Besuche, und die anderen wurden nicht gefragt. Mit Pali blieb ich bis zu seinem Tod eng befreundet. Dass die sexuelle Lust vergeht, das ist nun mal so. Wenn schwule Pärchen die eheliche Treue der Heten nachzuahmen versuchten, fand Pali das sowieso anstößig. Na ja, noch nie was von Eifersucht gehört?
Bis ich mich selbstständig machte, also jedenfalls ‚Deutsche Grammophon‘ 1993 mit Flausen im Kopf verließ, habe ich nie in einer Landesgesellschaft gearbeitet, immer nur international. Nicht Braunschweig oder Birmingham waren meine Bühne, sondern Paris und New York. So nach und nach lernte ich die Welt kennen, am Rande auch solche Stätten, die mit Bach und Brahms wenig zu tun hatten. Weil ich etwas mehr Italienisch konnte, als das, was man auf Speisekarten liest, war ich der geeignetste Partner für die Mailänder Niederlassung, und England-Experte war ich sowieso.
Im Mai hatte unser englischer Kollege Peter Russel die Hamburger Zentrale mit den zwanzig wichtigsten britischen Klassikhändlern besucht, um „Vorurteile gegen die Deutschen“ abzubauen. (Seine Eltern waren Berliner Juden, aber das wusste ich damals noch nicht.) Unser Firmensitz an der Alster beeindruckte die Gäste, meine Präsentation auch. Das Wetter spielte ‚Florida‘, eine Dampferfahrt zum Süllberg und die abendlichen Essen in hochpreisigen Restaurants verfestigten den Eindruck, dass Hamburg als Urlaubsort bestens geeignet sei. Einige der Klassik-Experten von der Insel interessieren sich genauso sehr für mich wie für die Gesamtaufnahme der Mozart-Sinfonien, besonders Eric aus Glasgow schrieb mir rührende Briefe, die ich gern in der Badewanne, im heißen Wasser las.
Foto links: Dexailo/Shutterstock | Foto rechts: Volodymyr Tverdokhlib/Shutterstock
All das bewirkte, dass ich fand, es schickte sich für mich, 1973 zu den Festspielen nach Edinburgh zu fliegen. Einen wirklichen Grund dafür gab es, außer der Sache mit dem Rodeo und dem Torero, nicht, allerdings gab es einen wichtigen Grund dagegen. Siegling, dessen Geiz berüchtigt war, hatte per Hausnotiz untersagt, dass jemand aus seinem Bereich zu irgendwelchen Festspielen fährt. Für Salzburg war das übertrieben, und vom nächsten Jahr an würde ich Salzburg auch kein Mal mehr auslassen, Edinburgh ging auf dem Festland eigentlich wirklich niemanden etwas an. Bis auf mich. Es galt, meinem Ich vom vorletzten Jahr seine heutige Überlegenheit unter die Nase zu reiben.
Werner hatte wenig übrig für Hausnotizen, und wenn er doch mal eine las, vergaß er sie auch schnell wieder. So war es wenig überraschend, dass er meinen Reiseantrag unterschrieb, Großbritannien war ja sowieso aufgeschmissen ohne mich.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Erst mal musste ich natürlich nach London und die Herbst-Aktionen durchsprechen, während dieser Zeit besorgte Jennipher, die für Artist Promotion zuständig war, mir eine Opernkarte: Mozarts ‚Don Giovanni‘ mit Barenboim. Das war doch ein schöner zusätzlicher Grund, nach Schottland zu fliegen, obwohl das Mittagessen mit Edinburghs wichtigsten Schallplattenhändlern auch schon gereicht hätte. Als ich in Heathrow, abgefertigt für den Flug, auf einem Plastikstuhl saß, kam Doktor Hirsch an den Schalter. Er war der Leiter der Abteilung, die alles machte, was wir im Marketing verhüllten und verkauften – nicht die Platten selbst entstanden bei ihm, aber das, was drauf war –, der Produktionschef, damals schon besser ‚Head of A&R‘ genannt, zuständig für Artisten und Repertoire. Doktor Hirsch kannte mich natürlich.
Weil ich für Neuveröffentlichungen zuständig war, nahm ich an den Sitzungen der Produzenten teil, wenn das Programm und seine Umsetzung besprochen wurden. In dieser Runde war ich nicht sehr beliebt, wie ich schon im ersten Kapitel angedeutet hatte. Da stand Kunst gegen Kommerz. Aber wer hatte denn Orchesterwerke geschrieben, die oder ich? Natürlich prahlte ich damit nicht; es gab ja auch nichts zu prahlen. Ich argumentierte vom Markt her, nicht von der Partitur – und ich ließ mich nie erwischen. Ich wusste immer Bescheid. Nicht immer. Merkte aber keiner.
Fotos (3): Privatarchiv H. R.
Doktor Hirsch setzte sich zu mir. Er flog nach Edinburgh, weil er zur Leonard-Bernstein-Geburtstagsfeier vom Konkurrenten ‚CBS‘ gebeten worden war. Bernstein war ‚CBS‘-Exklusiv-Künstler und deren Klassik-Oberen waren sicher nicht glücklich darüber, den Nebenbuhler begrüßen zu müssen. Aber Bernsteins Manager hatte darauf bestanden. Stolz zeigte Doktor Hirsch mir die Einladung auf irgendein Castle, und ich nickte bewundernd. In der Maschine saßen wir nicht nebeneinander, ich eigentümlicherweise in der Gegenrichtung zum Flug; das hatte ich bisher bloß im Zug erlebt – so, damit ist die Vorgeschichte zu Ende. Nun kommt das zweite Mal Edinburgh, nicht mit dem Vertreter-Auto angesteuert, sondern eingeflogen.
Fotos (2): Privatarchiv H. R.
meine kollegen fahren auch immer zur gleichen zeit in den urlaub. wirklich immer. wir verschicken im team dann gerne romantische fotomontagen der beiden – mal am strand, mal auf einer pferde-ranch, mal beim candle-light-dinner.
Ach wie gemein 😉
Ich freue mich schon sehr auf das Abschluss-Feuerwerk beim Edinburgh-Festival in diesem Jahr. Sind Sie dieses Jahr auch wieder mit dabei?
Feuerwerke geben mir irgendwie nichts. Aber das Festival ist natürlich großartig. Würde auch gerne mal wieder Zeit für einen Besuch haben.
Ahhhh ich auch! Pierre-Laurent Aimard, St. Vincent und Sharon Eyal würde ich so gerne sehen. Hatte es fest eingeplant und dann kam familiäres dazwischen :/
„Irene suchte mit mir die Möbel für die neue Wohnung aus und heulte eine Woche lang, teilweise auch ins Telefon, als ich dann wirklich weg war. Guntram tröstete sie und fragte: „Was heißt ‚promiskuitiv‘?“ Lol, das nennt man wohl Dramedy!
Und endlich Edinburgh. Bei dem ausgedehnten Vorspiel bin ich gespannt auf die kommenden Berichte!
Fake it until you make it! Man muss ja auch nicht alles wissen. Man muss ein bischen Erfahrung, Verstand und Menschenkenntnis haben.
Da kommt man doch sofort zum Unterschied zwischen Intelligenz und Wissen. Die richtige Balance macht den Erfolg aus.
„Durch Katholizismus verzögerte Pubertät“ bringt’s doch auf den Punkt. Was ist denn Katholizismus anderes als Unterdrückung?
Wir sind alle Sünder und die göttliche Gnade ist das einzige Heilmittel. Warum eine Religion versucht, die Menschen durch Druck zum Guten zu „zwingen“ hab ich noch nie verstanden.
Es gibt offenbar viele Menschen, die diesen Druck mögen. Die wählen dann entsprechende Parteien und beten entsprechende Götter an.
Grundsätzlich gibt’s glaube ich viele Menschen, die mögen, wenn man ihnen sagt was sie tun sollen. Das nutzt die Kirche natürlich gern aus.
Alles darf man machen, wenn man dazu steht. Eigentlich ein ganz guter Wegweiser.
Manche Grenzen braucht’s trotzdem, aber ich schließ‘ mich an. (Mit Verspätung auch nochmal Gratulation zur neuen Seite.)
Oh wow, rückwärtssitzend im Flugzeug? Da habe ich anscheinend nen spannenden Teil Zeitgeschichte verpasst…
stelle ich mir besonders beim Abheben ein bischen seltsam vor