Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln schoben den Stiel noch ein wenig zur Seite, schnappten nach dem Henkel, hoben die Tasse gegen den sorgfältig geschminkten Mund und machten eine Kippbewegung, so dass ein Teil des Tasseninhalts erst zwischen die Lippen geschüttet und dann die Kehle hinuntergespült wurde: Frau Fricke schluckte. Dann redete sie weiter, während sie ohne hinzusehen die Tasse zurückstellte.
––Kein Zweifel: Frau Fricke ist eine gutaussehende Frau. Attraktiver als ich? Bestimmt beliebter. Was macht das Zusammensein mit ihr so, dass ich sie beobachte, statt sie zu erleben?
––Frau Fricke fuhr mit der Kuchengabel in die Schwarzwälder Kirschtorte.
Ich sollte wieder einmal fasten, den Körper entschlacken. Gerade jetzt in der Fastenzeit. Wie kann sie so etwas essen, ohne dick zu werden? Ob sie Krebs hat?
––Frau Fricke ließ ein Stück Kuchen und eine unschmeichelhafte Bemerkung fallen.
––„Wirklich? Sehe ich abgespannt aus? Ich fühle mich jedenfalls großartig.“ – Aha, dachte sie. Ich fange an zu lügen; etwas, das mir in letzter Zeit nicht mehr passiert ist. Was wäre das Gegenteil davon? Die Wahrheit sagen? Das hieße dann ja, die Beherrschung zu verlieren. Wie würde das sein, wieder einmal die Beherrschung zu verlieren? „Sie haben mich bisher eben nur im Urlaub gesehen. Da bin ich natürlich brauner.“ Es kam ihr so vor, als kullerten ihnen beiden die Wörter wie Kiesel aus dem Mund. Ihr war, als könnten sie ganze Gartenwege miteinander gestalten.
––Frau Fricke sagte, dass es nicht nur die Gesichtsfarbe sei, sondern ein müder Zug um die Augen, der aber vielleicht daher käme, dass …
––Vergeudung an Zeit und Energie, hier zu sitzen und diesen glibberigen Obstkuchen zu schlucken. Cafés sind schrecklich, wenn man Süßigkeiten nicht mag. Kännchen oder Tasse? Diese Häubchen, Schürzchen, Sahnekrönchen! Diese ganze cremige Eingebundenheit. Fades Gekrümel von mürbeteigigem Lebensabend, während gestern in Prag vielleicht ein neues Zeitalter begonnen hat. Na, ganz so weltpolitisch muss ich gar nicht werden, um mich von diesen Kuchentanten abzusetzen. Auf der Karte steht ja auch ‚Ragout fin‘. Französisch? – Nein, viechisch. Dazu noch Worcestersauce, englisch, also scheußlich. – „Nein, ich war seit damals auch nie wieder in Spanien.“
––Frau Fricke fragte, ob sie sich an den netten Herrn aus Stuttgart erinnere.
––„Ich weiß im Augenblick nicht, wen Sie meinen.“ – Was für ein dummer Satz! In welchem Augenblick wüsste sie es denn besser?
––Sie müsse sich doch an den großen, schlanken Herrn erinnern, mit dem Frau Fricke immer Tennis gespielt habe und der ihr zum Abschied noch …
Manchmal wäre es schön, den Hörer einfach nicht aufzunehmen. Der Forderung des Telefons widerstehen. Frau Fricke mag läuten, um zu sagen, dass sie zwischen zwei Flügen vier Stunden Aufenthalt habe. Der Ruf tönt. Frau Fricke legt auf und blättert vier Stunden lang in Illustrierten.
––Frau Fricke unterstellte, dass es ein wundervoller Beruf sei, Menschen Schönes zu verkaufen.
––„Wenn Menschen kommen und sich beraten lassen wollen, ja. Aber oft kommen sie, fassen alles an, stellen Fragen und sind nur daran interessiert, die Preise zu erfahren, damit sie ihre eigenen Sachen besser taxieren können. Manche sind auch von der Konkurrenz geschickt, die gehen dann raus und haben kein einziges Wort gesagt, aber den Kopf voller Zahlen.“ Dass ich es nicht fertigbringe, freundlich zu bleiben, ist das Schlimmste. Nein, dass ich ihr nicht gleich am Telefon gesagt habe, ich hätte keine Zeit, ist genauso schlimm. – Meine alberne Nachgiebigkeit! Versprochen habe ich mir doch nichts von der Begegnung. – … Formentera. Sie hatten es wirklich lustig gehabt, miteinander. Damals. Die beiden einzigen alleinstehenden Frauen. Sie hatten dauernd zusammengesessen, bevor Frau Frickes Schwester angekommen war, jeden Tag hatten sie gemeinsam verbracht. Gebadet, geredet. Und gelacht. Was war so komisch gewesen? – Ach, alles. Eine Bemerkung, ein Kellner – vor allem ihr Zusammensein. Trotzdem war Frau Fricke nicht aufgefallen, dass Julio ein Auge auf mich geworfen hatte. Vor allem, dass ich mich dann später mit ihm getroffen hatte. – Meine Nachgiebigkeit! Frau Fricke wäre wahrscheinlich ziemlich erstaunt gewesen. ‚Ist er im Bett so gut, wie er im Anzug aussieht? Die Männer hier haben bestimmt besondere Qualitäten‘ oder so etwas Ähnliches hätte sie sicher gesagt, unverblümt, wie sie ist, und in ihrer Stimme hätte weder Tadel noch Eifersucht gelegen, sondern bloß eine lebensfrohe Neugier. Das war genau das, was ich an ihr so gemocht habe. Damals. Sie war offen, aber nie verletzend und auch nicht direkt einfältig. Trotzdem wird der Herr aus Stuttgart besser zu Frau Fricke gepasst haben. Als zu mir? Oder als Julio zu ihr? – Mein Gott, fast vier Jahre ist das jetzt schon her!
Wie sehr sich alles verändert hat seither! Seit Martin weg ist – und Robert. Robert … Ich war damals einfach immer noch nicht richtig erwachsen. Ich fühlte mich immer noch jung. So jung! Mit fünfundvierzig … Unfassbar! – Es war das erste Mal gewesen, dass Robert und ich nicht zusammen Urlaub gemacht hatten. – Das einzige Mal. Sein Vorschlag. Der Anfang vom Ende! Habe ich das wirklich nicht gespürt? Doch. Julio hatte leichtes Spiel gehabt. Frau Fricke und ihre etwas griesgrämige Schwester im Doppel auszustechen, ach, das war für ihn nicht schwer gewesen an den lauen Abenden. Man könnte auch sagen, ich hatte leichtes Spiel mit Julio, aber so etwas sagt man eben nicht. Frau Frickes Schwester hatte offenbar Probleme. Sie gab mir das Gefühl zu stören. Damals hatte sie nicht verstanden, warum Frau Frickes Schwester so abweisend war. Und so besitzergreifend. Eine alleinstehende Frau. Die glaubte sie selbst nicht zu sein. Damals noch nicht.
„Nein, ich übertreibe nicht. Aber vielleicht sehe ich es zu nüchtern. Wenn man jeden Tag von Schönem und Teurem umgeben ist, dann kennt man am Ende von allem nur noch den Preis, aber nicht mehr den Wert.“ Wer zu viel Kaviar gegessen habe, der bekäme eben Sehnsucht nach einer sauren Gurke, sagte Frau Fricke wissend und lachend. Aber weil sie nicht die erhoffte Resonanz erhielt, wurde sie wieder ernst. Ob die Dinge wirklich so teuer seien. Da war sie wieder, diese lebensfrohe Neugier.
––„Die meisten Leute, die ahnungslos in unseren Laden kommen, taumeln vor Schreck gleich rückwärts wieder raus, wenn sie die Preise hören“, sagte sie mit Genuss.
––Frau Fricke lachte erleichtert. Übertreibungen lockern jede Stimmung auf. Was sie denn dagegen tue, in fremdem Reichtum zu versauern?
––Einen Augenblick lang dachte sie daran, ihr von der Gymnastik zu erzählen, die sie Frau Frickes wegen ausfallen ließ. Aber dann sagte sie doch: „Ich arbeite dreimal in der Woche abends in der Telefon-Seelsorge.“
––Frau Frickes Gesichtsausdruck änderte sich … Wurde sie ernst? Was, das mache sie noch neben ihrem Beruf? Das sei aber bewundernswert.
––„Ach, das ist nicht bewundernswert. Es ist mir einfach wichtig.“
––Was für eine Institution das sei? Kirchlich?
––„Ja. Aber das ist bloß für mich von Bedeutung. Für den Anrufer spielt nur eine Rolle, dass jemand da ist, der ihm zuhört.“
––Frau Fricke wiederholte, dass ihr das wirklich imponiere. Aber sie spürte wohl, dass das kein Gespräch war für die Konditorei, also kam sie auf das vorige Thema zurück. Wie denn ihr Chef sei, ob sie ein gutes Verhältnis zu ihm habe.
––„O ja, wir kommen sehr gut miteinander aus.“
––Ob er verheiratet sei.
––„Er ist geschieden, fährt einen roten Porsche und tut auch sonst alles, was ihm Spaß macht.“ – Warum will ich sie ärgern? Was ist nur los mit mir? Es ist für mich viel einfacher, gegenüber Trinkern geduldig zu sein als gegenüber Kaffeetrinkern. Das leidige Tortengeplapper ist schwieriger durchzustehen als ein Abend in der Seelsorge. Und darauf bin ich dann wohl auch noch stolz. Sie sieht mich immer noch an, als wollte sie mir während ihrer Zwischenlandung mindestens drei Tiegel Faltencreme verkaufen. Vielleicht brauche ich die sogar. Los, sag ihr etwas Nettes! „Ich würde auch lieber Menschen jung machen, als sie für alte Truhen zu begeistern.“
––Na, ganz so einfach sei es auch nicht. Meist könne man sowieso nur pflegen und nicht verjüngen. Die meisten Frauen wollten ja auch keinen Rat annehmen, sondern bloß …
––Ich sollte versuchen, diese Begegnung einfach komisch zu finden. Zwei Frauen, die mitten im Leben stehen, treffen sich, reden miteinander und haben sich nichts zu sagen. Die eine ist tüchtig und gutmütig, die andere ist nachdenklich und schwermütig, o Gott, bin ich das etwa? Sicher ist Frau Fricke hilfsbereit und zuverlässig. Dass sie mich heute nervös macht, ist meine Schuld. Über mich muss ich mich ärgern, nicht über sie.
––Frau Fricke sah auf die Uhr und stellte fest, dass es nun Zeit sei für sie. Sie habe sich sehr gefreut, dass sie sich auf diese Weise wieder einmal gesehen hätten, und sie müsse es ihr erlauben, sie einzuladen.
––„Nein, das kommt gar nicht infrage! Hier in Hamburg sind Sie mein Gast. Wenn ich mal nach Düsseldorf komme, freue ich mich, wenn Sie mich einladen.“ – Was man so redet. Na und? Besser, als wenn ich sagen würde, was ich denke.
––Frau Fricke strahlte. Darauf bestünde sie dann aber auch. Sie dürfe doch Elisabeth zu ihr sagen, nicht wahr? Aber dann müsse sie Frau Fricke auch ‚Doris‘ nennen.
––Die beiden Damen standen auf.
––„Dann wünsche ich Ihnen eine schöne Zeit in Finnland – Doris.“
––Frau Fricke dankte ihr. Ach, und ehe sie es vergäße, auf dem Rückweg hätte sie wieder einen längeren Aufenthalt in Hamburg. Sie sähen sich also hoffentlich in genau zwei Wochen wieder, aber dann sollten sie lieber woanders hingehen. Frau Fricke habe den Eindruck, dass sich Elisabeth hier nicht so recht wohlfühle. Vielleicht fühle sie sich überhaupt nicht so recht wohl zurzeit. Sie hätten doch solchen Spaß miteinander gehabt!
––Wirklich? Plötzlich merkte sie, wie Tränen in ihr aufsteigen wollten. „Es ist so viel passiert inzwischen. Es tut mir leid, ich war heute in keiner guten Verfassung. Wenn wir uns in zwei Wochen wiedersehen, werde ich hoffentlich wieder so sein wie früher.“
––Frau Fricke sah sie nur an, ohne etwas zu sagen. Aber in diesem Blick lag etwas überraschend Tröstliches: Seelsorge mit den Augen.
Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: faestock (Frau von hinten), Dean Drobot (sitzende Frau), Fabio Michele Capelli (Kaffeetassen und Kanne), AV_photo (Tisch), Horn Andrey (Stühle), Vahe 3D (Pflanze), Martin Bergsma (Lampe), Andrew Horwitz (Koffer), elizaveta66 (Taschentuch), voyata (Boden)
Also Elisabeth ist mir auf jeden Fall lieber als Doris. Erste Eindrücke sind ja oft richtig.
Habe ich aber auch schon genau andersherum erlebt. So generell kann man das wohl nicht sagen.
Von Elisabeth erfährt man alles, von Doris nur, was Elisabeth wahrnimmt. Keine faire Konstellation.
Und zum Glück sind Geschichten ja selten fair. Sonst wäre das Lesen sicher sehr viel uninteressanter.
Was mit dieser Frau Fricke los ist, weiss man ja noch nicht so richtig, aber kann man denn jemals „wieder so sein wie früher“?
Vielleicht. Aber gerade das kann zur Enttäuschung werden.
Man weiss ja bisher nicht, wie sie vorher so war. Dinge rückgängig machen ist aber meistens schwierig.
Wer will denn schon so sein wie früher? Jung, klar, aber sonst?
Bei einer Urlaubsbekanntschaft ist das gegenseitige Verstehen im Allgemeinen noch keiner Belastungsprobe ausgesetzt gewesen. Da war ‚früher‘ zwei Wochen Liegestuhl.
Jawohl. Manchmal heisst früher nämlich: so, wie es war, als man sich noch nicht richtig kannte. Das taugt selten als Ziel.
Moment, so viel Rinke auf einen Schlag … ist das alles heute passiert? Meister inklusive? Man ist wie immer beeindruckt vom literarischen Output.
Die raffinierte Mischung aus Spontaneität und Zweitauswertung.
Wunderbar! Genau passend zum Wochenende und meiner Leserunde im Park.
Als Kind fand ich diese Kuchen-Cafés immer toll. Mittlerweile bin ich passionierter Kaffeetrinker, sitze aber trotzdem lieber auf einer ruhigen Terrasse. Ohne Süßes, nur mit den vorbei schlendernden Menschen beschäftigt.
Der trennt geht ja zu Low-Carb. Kuchen macht aber trotzdem Spaß. Muss ja nicht unbedingt ein muffiges Kaffee sein.
Die Tarte aux Poires im Café de Flore versüßt den Anblick der Flaneure.
Das de Flore ist natürlich auch keines dieser muffigen Altstadtcafés, wie man sie aus Bielefeld oder Karlsruhe kennt.
In Karlsruhe war ich noch nicht, aber kennen Sie das Café Korten?
https://www.youtube.com/watch?v=ZXXtKKu1SsY
„Ich weiß im Augenblick nicht, wen Sie meinen“ macht für mich schon Sinn. Oft genug gibt es doch dann diese Aha-Momente, wo einem doch einfällt wovon / von wem gerade gesprochen wird.
Aber die Protagonistin ist ja ‚im Augenblick‘ ja sowieso ungnädig mit sich selbst.
Menschen als Verkäufer zu beraten kann Himmel sowie Hölle sein. Wenn sich jemand wirklich für etwas begeistern kann und offen für eine Beratung ist, dann macht das tierisch Spaß. Aber es gibt leider auch viel zu viele Leute, die man am liebsten überhaupt gar nicht im Laden hätte.
Aber ihr Geld dann doch.
Da muss einem der Laden aber auch selbst gehören. Als Angestellter freut man sich doch sicher mehr über freundliche als zahlungskräftige Kunden.
Das kommt ganz darauf an wie hoch die Provision ist 😉
Privat habe ich lieber nett, geschäftlich lieber reich.
verständlich
Martin, Robert, Julio, Stuttgart – ich muss bei Gelegenheit nochmal eine zweite Leserunde mit freierem Kopf einlegen…
Gut, denn bis auf Stuttgart werden die Personen wichtig.
Geht das denn wirklich? Dass man als Ausgleich einfach so (wahrscheinlich ungeschult) in der Telefonseelsorge aushilft?
Es gibt rund 7.500 ehrenamtliche Mitarbeiter*innen, die nach erfolgreicher Bewerbung ca. 120 Stunden lang geschult werden bevor sie den Dienst beginnen. Mehr Infos gibt es auf telefonseelsorge.de 😉
Ah ja
Als Vorbereitung auf den Text habe ich mich ausführlich mit Telefonseelsorge und Antiquitätenhandel beschäftigt. Im Gegensatz zum Tagebuchschreiben muss man für Erzählungen seine Hausaufgaben machen.
Anders hätte man es nicht erwartet. Ich danke trotzdem für die Hintergrundinformationen @Jenny.
Zwei Frauen, die mitten im Leben stehen, treffen sich, reden miteinander und haben sich nichts zu sagen. Der perfekte Anfang für eine Geschichte 😉
Gespräche in denen man sich nichts zu sagen hat gibt es viel zu viele. Zumindest wenn es um berufliche Kontakte oder leidige Familientreffen geht.
Da gibt es nur eine Lösung, man muss solch unnötigen Small Talk so gut es geht vermeiden, und die unvermeidlichen so knapp wie möglich halten. Alles andere verdirbt einem leicht Laune und Leben.
Wie Ihnen aufgefallen sein wird, erleben wir – außer bei der Telefon-Beratung – nur die Hauptperson in wörtlicher Rede. Alle anderen werden bloß indirekt zitiert.
Seelsorge mit den Augen – wunderbares Bild