Freitag, den neunundzwanzigsten März.
Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld.
Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme. Ob sie denn überhaupt mittags etwas gegessen habe.
––„Ja, ich hatte noch einen Jogurt im Kühlschrank.“
––Das sei doch nichts. Er habe eine fabelhafte Idee. Er würde sie nach Geschäftsschluss zum Essen einladen.
––„Das geht leider nicht. Ich habe heute Abend wieder Dienst.“
––Ach, ihre Telefonseelsorge? Dann würden sie es eben … – nein, am Wochenende sei er verreist – … auf Montag verschieben.
––„Das geht leider auch nicht. Ich habe am Montag, am Mittwoch und am Freitag Dienst.“
––So oft? Dann eben Dienstag.
––„Also, Sie wissen, Gott sei Dank, wirklich nichts von meinem Privatleben: Dienstags gehe ich immer zur Gymnastik.“
––Sie sei aber wirklich völlig ausgebucht. Wie es denn mit Donnerstag wäre. Ach nein, da habe er eine Verabredung – aber das mache nichts, die würde er verschieben, doch wirklich, kein Problem. Also Donnerstag?
––„Sehr gern. Unsere erste gemeinsame Mahlzeit.“
––Das sei ja kein Wunder, bei ihrem Terminkalender. Warum sie sich derart häufig für die Telefonseelsorge zur Verfügung stelle. Das würde ihr ja den letzten Rest ihrer Freizeit nehmen.
––„Was soll ich darauf sagen? Es macht mir Spaß. – Nein: Es ist mir ganz einfach wichtig, Menschen zu helfen. Wenn man selbst gefestigt ist, muss man etwas von seiner Kraft abgeben. Darin sehe ich eine Verantwortung.“
––Er gäbe zu, er habe diese Kraft nicht. Ein paar Tage lang würde ihn das sicher auch interessieren, schon aus Neugier, aber dreimal in der Woche … Ob jeder so eine Aufgabe übernehmen könne? Er glaube, nicht.
––„Wir haben natürlich eine Ausbildung gehabt. Da zeigt sich dann schon, wer nicht infrage kommt. Also, wer zum Beispiel selbst Konflikte hat, ist für so etwas nicht geeignet.“
––Ob eigene Konflikte nicht gerade das Verständnis für andere Menschen förderten.
––„Nein. Ein Seelsorger muss ausgeglichen sein. Er darf keine unbewältigten Probleme haben – und keine Vorurteile.“
––Das sei aber sicher manchmal schwer, besonders, wenn man konfessionell gebunden sei.
––„Es ist manchmal schwer. Aber ich gebe mir Mühe.“ Sie lächelte, und ihr war bewusst, dass er nach dieser Art Lächeln nie versuchen würde, sie zu küssen, auch nicht, wenn sie zwanzig Jahre jünger wäre. „Was weiß ich, in welche Situationen ich noch kommen kann und wie dann andere über mich denken werden.“
––Jetzt lächelte er auch. Mitleidig, fand sie. Denn was sollte in ihrem Leben schon noch passieren? Aber sie bemitleidete ihn auch, wie er sich von allen ausnutzen ließ, nur nicht von ihr.
„Schwester, ich rufe an, weil ich heute erfahren habe, dass ich … Krebs habe.“
––„Das war ein furchtbarer Schlag für Sie.“
––„Ja. Ich weiß nicht, wie ich damit fertig werden soll.“
––„Was für eine Art Krebs ist es?“
––„Brustkrebs.“
––„Sie wissen, dass die Heilungschancen bei Brustkrebs relativ hoch sind?“
––„Ja, ja. Aber … Plötzlich ist alles für mich zusammengebrochen. Man fragt sich, wenn es nun doch aus ist: Wie hättest du die letzten Jahre gelebt, wenn du das eher gewusst hättest?“
––„Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?“
––„Zu gar keinem. Ich weiß es nicht.“
––„Sind Sie religiös gebunden?“
––„Ja, ich bin evangelisch.“
––„Hilft Ihnen der Glaube in dieser Situation?“
––„Ich weiß nicht. Einerseits, ja. Aber auf der anderen Seite fragt man sich natürlich auch: Hast du Sachen falsch gemacht? Hättest du nicht doch auf die Kinder oder auf den Mann mehr eingehen sollen? Bist du nicht doch manchmal ziemlich gedankenlos gewesen?“
––„Sie wollen sagen, Sie hätten vielleicht versucht, sich noch mehr in der Gewalt zu haben, wenn Sie von der Krankheit früher gewusst hätten?“
––„Ja, das denk’ ich.“
––„Vielleicht will Gott Ihnen genau dieses Zeichen geben. Sie wissen ja, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Sie geheilt werden, groß ist. Aber diese … – ‚Umkehr‘ ist schon ein zu starkes Wort –, … diese Einkehr, vielleicht ist es gerade das, was Gott von Ihnen will.“
––„Ja. Ja, vielleicht.“
––„Haben Sie Angst vor der Operation?“
––„Eigentlich nicht. Aber es ist natürlich ein Einschnitt. Ich meine, im Leben einer Frau. Ich muss mich eben damit abfinden, dass ich dann schwerbeschädigt bin, schwer beschädigt. So von heut’ auf morgen. Und unattraktiv. Was vielleicht weniger wichtig ist …“
––„Aber es macht Ihnen zu schaffen. Natürlich.“
––„Wissen Sie, man war so sorglos. Und plötzlich ist alles anders, mit einem Mal.“
––„Wichtig ist, glaube ich, sein Schicksal anzunehmen, Ja zu sagen, auch wenn es schwerfällt.“
––„Ja, leicht ist das nicht.“
––„Möchten Sie, dass ich Ihnen Adressen gebe, an die Sie sich wenden können? Wir haben in der evangelischen Gemeinde einen Kreis krebskranker Frauen. Es würde Ihnen sicher guttun, Erfahrungen mit anderen Betroffenen auszutauschen.“
––„Ja, ich glaube, das könnte mir helfen.“
––„Haben Sie einen Bleistift und Papier zur Hand?“
––„Einen Augenblick! Ja.“
––„Dann notieren Sie bitte …!“
Sie hatte aufgelegt und starrte vor sich hin. „Manchmal ist es wirklich furchtbar.“
––Ihre Kollegin, die vier Meter entfernt in der anderen Ecke des Raumes saß, sah auf.
––Ursprünglich hatten sie eine Stellwand zwischen ihren Tischen gehabt, aber das hatte sie nicht aushalten können, diese Stimme, die jenseits des mit grauem Stoff bespannten Gestells dieselbe Aufgabe verrichtete wie sie. Sie brauchte Blickkontakt. Manchmal jedenfalls.
––Was denn gewesen sei.
––„Eine Krebskranke. Man weiß gar nicht, was man da sagen soll.“
––Sie brauche sich darüber keine Gedanken zu machen. Die meisten wollten sich nur aussprechen und erwarteten gar keine Antwort.
––„Sie hat gesagt, wenn sie es früher gewusst hätte, hätte sie anders gelebt. Einen Augenblick lang dachte ich, sie meinte, dass sie sich mehr ins Leben gestürzt hätte, Eindrücke sammeln, aber glücklicherweise habe ich trotzdem noch richtig gefragt, denn sie meinte … gottgefälliger. Das ist doch ganz selbstverständlich. Wieso hab’ ich das erst falsch verstanden?“
––Die Menschen, die anriefen, seien so verschieden. Man könne unmöglich im Voraus wissen, was …
––Ihr Telefon klingelte. „Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
––„Guten Abend! Sie haben eine wundervolle Stimme. Sprechen Sie weiter!“
––Sie warf den Hörer auf die Gabel.
––Ihre Kollegin sah sie immer noch an. Was denn gewesen sei, wollte sie wissen.
––„Ach nichts. Falsch verbunden.“
––Sie habe den Hörer aber fallen gelassen, als habe sie jemand durch die Leitung hindurch ins Ohr gebissen.
––„Er war nicht besonders freundlich. Er hätte sich wenigstens entschuldigen können.“
––Wenn Leute, die sich verwählt hätten, ‚Seelsorge‘ hörten, seien sie oft so verblüfft, dass sie gar nichts mehr sagen könnten. Ihr sei es mal passiert …
Ihr Telefon klingelte wieder.
––Ob sie nicht aufnehmen wolle.
––„Doch, doch. – Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
––„Da sind Sie ja wieder. Legen Sie bitte nicht wieder auf! Verzeihen Sie, dass ich Ihnen das sage, aber Ihre Stimme hat so einen Klang, bei dem wird mir …“
––Sie legte auf.
––Ob schon wieder falsch verbunden gewesen sei.
––„Ja. Es war wohl derselbe.“
––Diesmal habe er aber etwas länger gesprochen.
––„Ja … Er hat die Nummern verglichen …“
––Sie habe ihre Nummer aber gar nicht …
––Das Telefon ihrer Kollegin klingelte. Und kurz darauf ihr eigenes.
––Ihre Kollegin sah von ihrem Gespräch auf.
––Sie griff nach dem Hörer. „Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
––„Bitte legen Sie nicht gleich wieder auf! Ich brauche Sie. Ich brauche Sie wirklich. Ich brauche Ihre Stimme.“
––Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu ihrer Kollegin, die den Kopf gesenkt hatte.
––„Ich kann Ihnen nicht helfen. Lassen Sie mich in Ruhe!“
––„Ich bin so verstört. Was soll ich bloß machen?“
––„Sie brauchen jemand anderes als mich.“
––„Woher wissen Sie das?“
––„Ich … Hier ist die evangelische Telefonseelsorge.“
––„Und warum wollen Sie mir nicht helfen? Ich weiß, dass Sie es könnten.“
––Sie schluckte. „Worum geht es denn?“
––Tiefes Atmen. „Es geht um mich. Ich … Ich kann das nicht … Ich … Sie müssen mir helfen, bitte …!“
––„Sie müssen mir sagen, um was es geht.“
––Schluchzen. „Ich kann jetzt nicht, ich kann es einfach nicht. Aber ich muss Sie sprechen. Kann ich Sie in einer … In einer halben Stunde noch mal anrufen?“
––„Das geht nicht. Da bin ich schon weg, und außerdem …“
––„O Gott!“
––„Ich bin am Montag wieder …“
––„O Gott!“
––„Also, wenn Sie sich beruhigt haben und dann immer noch mit mir sprechen wollen, können Sie mich später zu Hause anrufen.“ Sie nannte hastig ihre Nummer und legte ohne abzuwarten auf. Eigentlich schon während sie die Zahlen sprach, hatte sie den Hörer von ihrem Kopf weggehalten. Und trotzdem kam es ihr so vor, als hätte sie den Kopf verloren.
Ich bin verrückt. Ich habe Gott sei Dank zu schnell und zu leise gesprochen, als dass er sich meine Nummer hätte merken können. Außerdem lag der Hörer schon fast auf der Gabel. Die Stimme klang plötzlich so verzweifelt. Ich habe ein Ohr dafür. Sonst hätte ich es nicht getan. Aber wieso dann diese verstohlene Eile? Es ist noch mal gut gegangen, weil er die Nummer nicht verstehen konnte. Aber ich muss doch vorsichtiger sein! Meine Nerven sind in den letzten Tagen nicht so ganz in Ordnung. Vielleicht sollte ich für ein paar Tage aufhören mit dem Dienst. Dabei lebe ich doch ganz gesund. Ich begreife das nicht. Diese fremden Schicksale zehren eben an mir. Das ist ganz verständlich. Ohne Einsatz ist eine solche Aufgabe gar nicht zu schaffen. Kann es sein, dass ich mir mehr Kraft zugetraut habe, als ich besitze? – Nein. Nein, ich habe mehr Kraft, als ich mir zutraue.
––Das Telefon klingelte. Ihre Kollegin sprach immer noch.
––Sie überwand sich und nahm den Hörer ab. „Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
––„Guten Abend, Fräulein! Ich möchte mit Ihnen über meine Schwiegertochter sprechen. Also, wissen Sie, es ist so: Mein Sohn hat voriges Jahr geheiratet …“
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Dass ein Seelsorger keine unbewältigten Probleme haben sollte kann ich nachvollziehen. Aber im Umgang mit Problemen sollte er/sie ja trotzdem Erfahrung haben. Wie soll man sonst mit den Problemen anderer Menschen umgehen können?
Vor allem braucht es wohl Erfahrung im Umgang mit Menschen, die Probleme haben. Jede einzelne Situation auch selbst erlebt zu haben ist sicher nicht notwendig.
Die Probleme anderer lassen sich manchmal leichter lösen als die eigenen. Aber ohne Schulung geht es nicht. Jedenfalls nicht am Telefon.
Oh, das stimmt. Ich habe einen guten Freund, der wirklich unschlagbar im Lösen von Problemen Anderer ist. Mit den eigenen tut er sich trotzdem schwer.
Hoffentlich liest er meinen Blog nicht.
Haha, und wenn, da steht er drüber 😉 Er kennt meine Meinung.
Dieselben Probleme wie vor fünfzig Jahren. Und wahrscheinlich auch die selben Probleme wie in fünfzig Jahren.
Die grundlegenden Fragen und Probleme ändern sich eben halt nicht so sehr. Die Umstände, in denen wir leben, natürlich umso mehr.
Jede neue Erfindung kreiert neue Probleme: Auto – Verkehrstote, Umweltverschmutzung. Impfstoff – biologische Waffen. Internet – Cyberkriminalität.
Ja klar, aber am Ende läuft das meiste ja doch darauf hinaus, wie wir miteinander (und mit dem Planeten) umgehen. Natürlich ist das sehr vereinfacht und vielleicht auch naiv. Aber Biowaffen und Cyberkriminalität sind letztendlich doch auch nur Variationen von jahrhundertealten Kriegstaktiken.
Brustkrebs, also jede Art von Krebs, ist wirklich schrecklich. Anscheinend macht man sich ja tatsächlich Hoffnung, dass diese mRNA-Wirkstoffe da auch eine Lösung sein könnten.
Genau wie die Frau in der Erzählung sagt: man versucht sein Leben sorglos zu leben und auf einen Schlag wird einem bewusst gemacht, dass mans sterblich ist.
Eigentlich passiert ja täglich so etwas wie in Würzburg. Die Frage ist, wie nah man es an sich heran lässt.
In der Tat. Wenn man sich anschaut mit welcher Regelmäßigkeit z.B. in den USA Massenschießereien stattfinden, dann kann man kaum mehr sorglos sein. Allerdings braucht es ja meistens eine Form der persönlichen Nähe, damit man von so etwas aus seinem Alltagstrott gerissen wird.
Wenn man anderen Menschen helfen kann, ist das doch etwas tolles. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass solche Helfer vor ihren eigenen Problemen davonlaufen. Aber gut, vielleicht macht das am Ende gar keinen Unterschied.
Drei Dienste in der Woche klingt jedenfalls ziemlich intensiv.
Genauso viel wie meine Blog-Beiträge …
Haha, stimmt da gibt es tatsächlich eine Analogie!
Oha! Der Blog als Seelsorge oder Therapie? Das bezieht sich dann auf die Leser oder auf den Schreiber?
Erst mal nur auf die Häufigkeit. Diese Erzählung ist aber mehr Beobachtung als Eigentherapie. Wie weit es den Lesenden hilft, lässt sich erst am Schluss beurteilen.
Das war wohl ein Fehler
So sieht es wohl erstmal aus. Aber wir wollen ja eine spannende Geschichte lesen. Da braucht es dumme Entscheidungen 😉
Aus klugen Entscheidungen entstehen eher belehrende Erzählungen. Dumme sind süffiger.
Wenn sie bei dem Anrufer ihre private Nummer herausgibt, dann braucht sie vielleicht selbst Hilfe. Aber gut, vielleicht stellt sich dieser Anrufer ja doch als der erhoffte Regen in der Wüste heraus.
Ich finde ja eh immer, dass viele Entscheidungen viel mehr mit einem selbst zu tun haben als man denken würde. Entweder läuft sie vor ihren eigenen Problemen weg, indem sie sich um andere kümmert, oder sie therapiert sich quasi selbst. Mal schauen wie es weiter geht…
Na, Entscheidungen, die nichts mit dem eigenen Ich zu tun haben, sind doch auch gar nicht wirklich möglich.
Von Richtern wird das erwartet.
Haha, ja da haben Sie recht. Ich dachte auch eher an Entscheidungen, die man für sein eigenes Leben trifft. Aber 100%-ige Objektivität ist bestimmt immer eine schwierige Sache. Selbst für den Richter.
Man muss sicher eine sehr dicke Haut aufbauen, damit diese fremden Schicksale nicht zu sehr an einem zehren. Ansonsten geht man über kurz oder lang kaputt.
Ich könnte so einen Job wirklich nicht machen. Ich hätte glaube ich nicht die nötige Distanz, die es für so eine Tätigkeit braucht.
Ich finde es ja gleichermaßen beeindruckend, dass man so etwas in seiner Freizeit macht, wie verwunderlich. Je einfacher Menschen in Not jemanden zum sprechen finden, desto besser, keine Frage. Ich hoffe aber auch, dass schwerer Fälle ohne große Eitelkeit an professionelle Experten weitergeleitet werden.
Seelsorge ist natürlich keine psychologische Behandlung. Das wissen die Mitarbeiter aber sicherlich selbst.
Alles, was hilft und niemandem schadet, ist legitim.
So sehe ich das auch. Menschen erst gar nicht zu helfen wäre sicherlich keine bessere Alternative.