Teilen:

2307
03 – Regen in der Wüste

#18 | Tote Vögel

Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt? Wieder normal werden, an etwas Allgemeines denken. In den Nachrichten hatte sie gesehen, dass die Kaufhausbrandstifter gefasst worden waren. Die Nachnamen hatte sie vergessen, nur die Vornamen hatte sie behalten: Gudrun und Andreas. ‚Andreas‘ ist ein schöner Name, ‚Gudrun‘ klingt altmodisch. – Allmählich verloren sich ihre Gedanken, einer nach dem anderen, wie Tänzer, die von einer Bühne wippen, bis nur noch Leere blieb, endlos und schweigend, eine Leere, in die sich der Zeiger schob, langsam, bedrohlich. Sie sah wieder auf die Uhr. Fünf vor halb zwölf. Sie fühlte sich ausgebrannt, ausgelöscht, bis auf das letzte Glimmen von Erwartung. Aber das konnte leicht zum Feuer aufflammen und sie einäschern.

Halb zwölf. Die Uhr tickte geschäftig.
––Nun würde er nicht mehr anrufen. Gott sei Dank! Er hatte aufgehört, sie zu belästigen. Sie sagte den Satz laut: „Gott sei Dank! Er hat aufgehört, mich zu belästigen. Gott sei Dank! Er hat …“ – Und dann brach es über sie herein: das ganze Elend ihrer Existenz. Verzweiflung, Entsetzen, Wut. Sie begann zu flüstern, zu stöhnen, zu schreien: „Lieber Gott, ich weiß, ich habe an den letzten Abenden nur das Vaterunser heruntergesagt. Ich habe keine persönlichen Gebete mehr an dich gerichtet, ich weiß es – verzeih mir! Lieber Gott, gib ihn mir zurück, es ist ja so wenig, um das ich dich bitte, es ist nur der erbärmlichste, schmutzigste Zipfel deines weiten Umhangs, der schäbigste Abfall deines großen Liebesmahls, aber nimm mir nicht auch das noch! Mir reicht schon diese trostlos verkümmerte Form von Zuneigung, aber wenigstens die brauche ich. – Oder warst du am Ende der Anrufer? Hast du mir diese Gemeinheiten zugezischelt? Diesen unerträglichen Schmutz, der mich ausgelaugt und abgestumpft hat, der mich zerstört hat an Leib und Seele? Du warst es! Oh, ich hasse dich! Ich hasse und verachte dich dafür, wie du einen Menschen leiden lässt, der alle deine Gebote befolgt hat! Du bist der Teufel! Du, Gott, bist der Teufel! Und ich, ich rufe dich auch noch an und hoffe auf dein Mitleid! Ich bin ja wahnsinnig!“ Sie hielt inne. Ich … bin ja wahnsinnig … – Sie sank zurück und gleich in einen ohnmachtsartigen Schlaf.

Ich habe ein Problem.
––Sprechen Sie!
––Ich bin einem Mann verfallen, den ich noch nie gesehen habe und dessen Namen ich nicht kenne.
––Was wissen Sie von ihm?
––Nichts. Nur dass er jeden Abend um elf bei mir anruft und mich mit einem Schwall Obszönitäten überschüttet.
––Ich kann Ihnen seine Adresse geben. Notieren Sie bitte!

Sie wachte auf. Schweißnass, aber entspannt. Mit ruhigen Schritten ging sie ins Bad, duschte, trocknete sich gründlich ab, ging zurück ins Schlafzimmer und legte sich wieder hin.
––Der Kater sprang auf die Bettdecke.
––„Ach, Othello! Ich habe meine Bestimmung gefunden: als fernmündliche Drecksau.“

Montag, den achten April

Sie zeigte auf die toten Vögel. „Eine besonders schöne Arbeit. Sehen Sie nur das Gefieder!“
––Man könne sich kaum vorstellen, dass sie ausgestopft seien, sagte die Dame.
––Der Herr nickte. Er habe ihr doch nicht zu viel versprochen.
––„Der Glassturz ist auch ungewöhnlich schön. Er stammt aus Böhmen“, ergänzte sie.
––Entzückend, das sei ganz entzückend, wie sie da so säßen auf dem Stamm. Und vor allem praktisch: Sie flatterten nicht, sie piepten nicht, sie bräuchten keine Nahrung. So wünsche man sich Haustiere. Die Dame und der Herr lachten fröhlich.
––Sie lächelte milde.
––Die Dame habe nämlich zwei sehr komplizierte Afghanen, die seien viel schwieriger im Umgang als die meisten Menschen, erklärte der Herr ihr und ermunterte dann seine Begleiterin, das sei doch etwas für sie.
––„Es ist wirklich die schönste Voliere, die wir je hatten“, bekräftigte sie, „ein ganz erlesenes Stück und etwas sehr Seltenes.“
––Ob man es ihr ins Haus schicken könne.
––„Selbstverständlich. Wenn Sie mir bitte Ihren Namen und Ihre Adresse geben würden.“ Sie notierte beides.
––„Ist es Ihnen recht, wenn der Fahrer morgen Nachmittag kommt?“
––Ja, da sei sie zu Hause.
––„Gut. Sie werden sicher viel Freude an der Voliere haben.“
––Das glaube sie auch.
––Sie begleitete beide hinaus. „Auf Wiedersehen! Vielen Dank!“ Sie ging zurück und starrte auf die bunten Vögel, die leblos auf dem kahlen Zweig klebten. – Vielleicht wäre ich besser aufgehoben in der Kunststoffabteilung eines Möbellagers. Alles vom Fließband, unkompliziert und abwaschbar. – Sie sah aus dem Fenster. Regenschirme, Pfützen.
––Zwei Mädchen in langen Mänteln wehten vorbei, lachend. Auf der anderen Straßenseite fütterte eine alte Frau die fetten Tauben. Fastenzeit.

Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Independent birds (Vögel der Voliere), Janny2 (Stamm und Sockel der Voliere), Fendipetrucci (Uhr), Juris Kraulis (Kommode), sokolenok (Tisch), stockphoto-graf (Telefon), Peter Gudella (Fußboden), Fercast (Tauben)

33 Kommentare zu “#18 | Tote Vögel

  1. Uuii, meine Eltern hatten zwei ausgestopfte Vögel in ihrem Esszimmer. Ich fand die schon immer äußerst fies anzuschauen.

    1. Man weiss manchmal allerdings nicht was gruseliger ist: die Taxidermie der Eltern oder die Kunststoffabteilung der großen Möbellager.

    2. Also wer sich heutzutage noch ausgestopfte Tiere in die Wohnung stellen würde … der müsste dann wohl jeden Anschluss an die Zeit verloren haben.

      1. Die unglaublichste Form davon ist ja, sich das eigene Haustier nach dessen Tod ausstopfen zu lassen. Da läuft es einem tatsächlich kalt den Rücken herunter.

  2. Ich kenne Gasthäuser, in denen mir ausgestopfte Auenhähne den Appetit verderben. Hätten meine Eltern so etwas gehabt, wäre ich spätestens, als ich fünf war, ausgezogen.

  3. Moment, fühlte sie sich denn nun wirklich durch den Anrufer belästigt? Oder redet sie sich das nun nur selbst ein? Man hatte eigentlich das Gefühl, dass sie dieses Abenteuer, zumindest für eine Zeit, durchaus genossen hat.

      1. Hahaha, wenn es eine David Lynch -Geschichte wäre, würde sie am nächsten Morgen aufwachen und seine Adresse stünde auf einem Notizzettel neben dem Bett aufgeschrieben.

    1. Mir gefällt die Geschichte mit ihrer Hauptfigur bisher überaus gut. Ich habe mich heute morgen von den vorangehenden Teile bis zum aktuellsten Blogpost durchgearbeitet. Sie hadert zwar mit ihrer aktuellen Lebenssituation, aber sie versucht eben auch auf unterschiedlichen Wegen Veränderungen hervorzurufen. Mal im kleinen, mal im größeren. Ich bin gespannt, wie sich das Ganze auflösen wird.

  4. Nun ja, wenn sie wirklich entsetzt über die Belanglosigkeit ihres Lebens ist, dann sollte sie sich nicht bei Gott ausweinen, sondern etwas ändern.

      1. Gott darum zu bitten den perversen Anrufer zurück zu schicken ist natürlich gewagt. Aber als Ausweg aus der Eintönigkeit auch irgendwie verständlich.

      2. Sie ist halt mit allem und allen unzufrieden, die an ihrem ‚belanglosen‘ Leben Schuld sein könnten. Dazu gehört eben auch Gott, und nicht zuletzt sie selbst.

  5. Warum lässt du einen Menschen leiden, der alle deine Gebote befolgt hat? Da hat man es doch leichter, wenn man nicht an einen Gott glaubt.

      1. „Der Wille Gottes kann sehr tief verborgen liegen unter
        vielen sich anbietenden Möglichkeiten.“ 😉

      2. Na also. Das läuft letztendlich dann ja doch darauf hinaus, dass wir für unser Schicksal selbst verantwortlich sind. Gottes Wille kann man dann höchstens noch als Leitfaden für die eigenen Entscheidungen betrachten.

      3. Gottes Wille ist, dass der Mensch einen freien Willen hat. Warum er dann durch Gene und Umwelt so unterschiedliche Bedingungen schafft und außerdem beleidigt straft, wenn ihm was nicht passt, muss man ‚tief im Glauben verankerte‘ Menschen wie die CSU-Digitalisiererin Dorothee Bär (Spiegel Nr.30) fragen.

      4. „Von den Digitalvorhaben dieser Legislatur haben wir 90 Prozent schon erledigt oder angepackt und darüber hinaus weitere Projekte angestoßen“ sagt sie im Tagesspiegel. Die Messlatte lag wohl nicht allzu hoch.

      5. Die Grünen brauche es als Partei übrigens auch nicht mehr, denn die CSU sorgt sich ja nun schließlich auch ums Klima.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

dreizehn − 2 =