Unter Verwendung von Textpassagen aus Robert Musils ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘, Erstes Buch, Rowohlt Verlag (im 1. Abs.) und aus DIE BIBEL, Ausgabe 1899, Auszug aus Lukas 6,38 (Textende)
‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“ Völlige Mutlosigkeit befiel …‘
––Das Telefon klingelte.
––Sofort legte sie das Buch auf den Tisch, stand vom Sofa auf und ging zum Sekretär. Sie nahm den Apparat in die Hand. „Martin!“
––„Nein, ich bin nicht überrascht.“
––Seine Frage hatte so abwehrend geklungen, dass ihre ganze Freude verflog. Überschwang war der heutigen Jugend wohl verdächtig.
––„Ich weiß doch, dass du immer dienstags anrufst. Vormittags habe ich die Putzfrau, nachmittags die Gymnastik und abends dich. Zumindest am Telefon.“
––„Wieso eine Beleidigung? Erstens befindest du dich in ehrenwerter Gesellschaft, und außerdem liegt natürlich eine Steigerung in der Reihenfolge.“
––„Siehst du! Wie geht es dir?“
––„Nimmst du noch die Tabletten dagegen?“
––„Du darfst nicht zu früh damit aufhören. Das ist ganz wichtig.“
––„So. Und das Studium?“
––„Ach. Seit wann denn?“
––„Ja, und was machst du, wenn weiter gestreikt wird?“
––„Also, ich will nicht wieder davon anfangen, aber es ärgert mich, weil es so sinnlos ist. In Hamburg wäre das alles besser gelaufen. Frankfurt ist bekannt dafür, dass da immer …“
––„Na schön!“
––„Ach, ich hab’ gerade gelesen. Im ‚Mann ohne Eigenschaften‘.“
––„Ja, sehr lang.“
––„Nein, nicht deshalb. Ich hatte es vorher noch nicht gelesen.“
––„Ich weiß nicht recht. Ein bisschen mühsam.“
––„Schrecklich! Kalt und verregnet. Ende März könnte man eigentlich mehr erwarten. Und bei euch?“
––„Ach! Hast du … Hast du etwas von Vater gehört?“
––„Nur so. Es hätte ja sein können …“
––„Nein, nichts Bestimmtes. Es fiel mir nur so ein. – Außerdem war vorgestern unser Hochzeitstag.“
––„Ach wo, wirklich nicht. Da gibt es doch nichts zu feiern.“
––„Also sei nicht albern!“
––„Na schön!“
––„Gut.“
––„Ach, schon?“
––„Lange? Es waren doch nicht mal fünf Minuten.“
––„Nein, nein, ich versteh’ schon.“
––„Ja. Und nimm die Tabletten noch ein paar Tage, hörst du?“
––„Wie?“
––„Gut.“
––„Schön. Gute Nacht!“ Sie legte den Hörer auf die Gabel und stellte das Telefon auf den Sekretär zurück. Die Stelle, an der es vorher gestanden hatte, zeichnete sich blass auf der staubigen Platte ab. Ich muss mit Frau Fischer sprechen. Es wird ihr wehtun, aber es ist unvermeidlich. Sie ging zum Fenster, warf einen kurzen, bedeutungslosen Blick auf die Straße, zog die Gardinen zu und setzte sich wieder aufs Sofa. Es kam ihr vor, als sei das Licht im Zimmer matter geworden. Sie hielt das Buch etwas dichter an die Lampe: ‚… Völlige Mutlosigkeit befiel sie. Die Vorgänge der letzten Zeit hatten an ihr gezehrt. Ihr Verhältnis zu Ulrich kam ihr so vor, als hätten sie durch Jahre mit aller Aufmerksamkeit etwas verwickelt gemacht, das ganz einfach sei.‘
Mittwoch, siebenundzwanzigster März.
Da gab es erst recht nichts Besonderes. Keine Spur von Katastrophengrollen oder Gewitterstimmung. Ein grau bedeckter März-Himmel, eintönig, aber beruhigend. Wessen Leben ist schon täglich aufregend? Wenn es sorglos ist, dann ist das schon viel. Hauptsache, man sieht einen Sinn für sich. Hauptsache, man kann abends ins Bett gehen und sich sagen: Heute hast du wieder etwas geschafft. Irgendetwas. Nicht dass man sich jeden Abend mit Rechenschaftsberichten förmlich in die Mangel nimmt, aber so ein bisschen die eigene Leistung im Auge zu behalten, das tut doch ganz gut. So verrinnt das Leben nicht ungenutzt, und man würde es sofort merken, wenn etwas Grundlegendes sich änderte.
„Es ist ein Frankfurter Schrank, so heißt er unter Fachleuten.“
––Woran man das erkennen könne.
––„Frankfurter Schränke sind immer zweitürig und haben einen hohen Sockel. Sehen Sie hier die Pilaster, so nennt man die Wandpfeiler.“
––Das Paar musterte den Schrank mit einer gewissen ehrfürchtigen Scheu, aber ohne viel Sympathie. Er sei wohl doch zu gewaltig. Obwohl er natürlich schön sei. Ein wundervolles Stück. Aus welcher Zeit er denn stamme.
––„Frühes achtzehntes Jahrhundert. Beachten Sie bitte, wie die Maserung in dem polierten Nussbaumfurnier zur Geltung kommt!“ – Ich benehme mich wie ein Stadtführer, der die Schönheiten von Neumünster anpreist. Wie unwürdig das doch ist. Dinge loben, die man nicht mag. Menschen bewundern, die man nicht bewundert. Und so vieles nicht sehen, was schön ist, so vieles nicht erleben, was man erleben müsste – aber versäumt.
––„Ich werde Ihnen Insel zeigen, wie keiner Ihnen zeigen kann, wirklich, ich verspreche Ihnen!“
––Du hast mir mehr gezeigt als Formentera. Nicht nur mir. Es war so risikolos. In fünf Tagen würde mich das Flugzeug Tausende von Kilometern weit wegbringen. Keine Flucht: Rückkehr. Robert sah müde aus, so müde. Er holte mich schon in Frankfurt ab. Die kleine Wohnung hatte er sich gerade neu eingerichtet.
––„Immer im Hotel, das ist auf die Dauer nichts für mich. Und ich werde jetzt viel in Frankfurt sein müssen. Bis Krügers Position neu besetzt ist.“
––Und dann war meine Position neu besetzt.
––Sie schlichen um den Schrank herum wie Busch-Indianer um ein abgestürztes Flugzeug. Sie müssten den Raum noch einmal ausmessen, gefallen täte ihnen der Schrank schon, aber sie wollten sich doch nicht sofort entscheiden. Sie kämen wieder.
––„Natürlich. Das verstehe ich vollkommen. Es ist eine schwere Entscheidung.“
––Der Preis sei ja auch beachtlich.
––„Es ist ein altes Stück. Sehr wertvoll. Eine Geldanlage. Außerdem nützlich und zeitlos schön. Aber er muss Ihnen natürlich gefallen.“
––Zustimmendes Nicken. Abschiedsnicken. Auf Wiedersehen.
––Nie.
––Sie ging nach hinten an ihren Schreibtisch. Eine unangenehme Aufgabe. Aber es war nötig. „Guten Morgen, Frau Fischer! Hier ist Elisabeth Stern. Geht es Ihnen gut?“
––„So, das freut mich. Es ist schon komisch: Sie kommen jede Woche in meine Wohnung und an meinen Arbeitsplatz, aber wir sehen uns fast nie.“
––„Ja, so ist das. Frau Fischer, das ist auch der Grund, warum ich es Ihnen am Telefon sage und nicht persönlich. Herr Friedemann ist geschäftlich unterwegs. Er hätte sonst selbst mit Ihnen gesprochen. Wissen Sie, es ist ihm aufgefallen, dass in letzter Zeit doch nicht alles immer so sauber ist, wie er sich das vorgestellt hatte.“
––„Doch. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen. Ich habe es auch schon bemerkt. Auch bei mir in der Wohnung …“
––„Ist ja nicht so schlimm.“
––„Nun regen Sie sich nicht auf! Ich wollte es Ihnen nur ehrlich sagen, damit es keine Missverständnisse zwischen uns gibt.“
––„Ja.“
––„Sicher, Frau Fischer, das weiß ich doch. Aber vielleicht könnten Sie in Zukunft ein wenig darauf achten, dass …“
––„Ja. Ich weiß. Ich mach’ Ihnen ja auch keinen Vorwurf.“
––„Gut.“
––„Gut, Frau Fischer. Und Sie nehmen es mir nicht übel, nicht?“
––„Ja. Natürlich. Ich verstehe das vollkommen.“
––„Gut. Danke!“
––„Danke, Frau Fischer! Auf Wiedersehen!“ – Oh, jetzt habe ich vergessen, mich nach ihrem Mann zu erkundigen. Ich werde ihm Blumen ins Krankenhaus schicken. Das muss ich mir gleich notieren. Schreckliches Schicksal. Es gibt so viel Furchtbares auf der Welt. Ich muss wirklich dankbar und zufrieden sein und abgeben von meiner Kraft, meiner Zufriedenheit. Ausgeglichenheit.
‚Gebet, so wird euch gegeben werden. […]‘
Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Ruslan Ivantsov (Blumenstrauß), Bamidor (Lampe), Victor Vidal Estudio (Sofa), fanjianhua (Boden), Followtheflow (Sektretär), Frannyanne (Telefon), Olena Dzekun (Frau)
Ein sehr schöner Beitrag, der mich stark zum nachdenken gebracht hat. Sie haben so recht. Was habe ich heute geleistet ist eine sinnvolle Frage und manchmal geht man zu sehr mit sich selbst ins Gericht. Es kommt auch immer auf die kleinen Erfolge an, gerade wenn man dazu tendiert alles so negativ zu sehen wie ich.
Na ja, man muss aber auch nicht jeden Tag analysieren was man getan hat. Das klingt mir arg verkrampft.
Muss nicht verkrampft sein. Geht auch mit Nachsicht, Einsicht und Witz.
Sehr interessante Stilistik, die ich so noch nicht kannte. Der Dialog liest sich wie eine einseitige Sicht auf ein Telefongespräch, also dass man nur das Gesagte eines Gesprächspartners liest – habe ich recht?
Ums Recht haben geht es ja bei Literarischen gar nicht unbedingt. Kunst ist ja kein Rätsel.
Nun, ich würde sagen, jede Erzählung funktioniert doch so. Wir sehen oder hören doch meistens alles aus einer einzelnen Perspektive.
Meistens ist es die eigene. Deshalb gibt es ja so unendlich viele Missverständnisse.
Außer bei den Seelsorge-Gesprächen werden wir nur die Protagonistin in wörtlicher Rede erleben. Alle anderen Personen werden ausschließlich indirekt zitiert.
Ich konnte mit Musil nie so richtig viel anfangen. Den „Mann ohne Eigenschaften“ habe ich zweimal zu lesen begonnen, bin aber nie bis zum Ende gekommen.
Hochgelobt und kaum gelesen.
Der amerikanische Mathematiker Jordan Ellenberg hat für das Wall Street Journal mal eine Anti-Bestseller-Liste zusammengestellt. Mit Büchern, die kaum jemand zu Ende liest. Leider waren das nur aktuelle Titel. Würde mich ja schon interessieren, wie das mit den Klassikern aussieht.
Inzwischen kann man sich ja trauen, zuzugeben, dass man Ulysses nicht zu Ende gelesen hat, wenn man nicht gerade auf dem blauen Sofa sitzt.
Dankbarkeit im Angesicht vom Schrecken der Welt klingt intellektuell gesehen immer richtig und logisch, aber so wirklich gefühlt habe ich dass trotzdem noch nie.
Uneigennützig zu leben ist immer schwierig, aber jeder Gedanke und jede Tat in diese Richtung sind etwas wert. Man darf nicht zu hart mit sich selbst ins Gericht gehen.
Nun ja. Manchmal sind auch Selbstbetrug oder Heuchelei im Spiel.
Ich glaube ein Leben, wo wirklich jeder einzelne Tag aufregend ist, das gibt es hier bei uns selten. Dafür geht es den meisten Menschen in Deutschland zum Glück zu gut.
In den 80er Jahren hatte ich das weltweit fast so. Obwohl es mir gut ging.
Das kommt ja auch darauf an, wie viel Aufregung man sich selber zumutet. Und ob die Aufregung positiv oder negativ belegt ist.
‚aufgegend‘ klingt im Film und auf Reisen positiv. ‚Aufregung‘ klingt mehr nach Familienkrach und Einbruch.
Das spannende ist/war ja eigentlich, das man dieser wuchtigen Schränke mit wenigen Handgriffen auf- und wieder abbauen konnte. Ein Vorreiter für Ikea quasi 😉
Die Einzelanfertigung ist natürlich wertiger. Dafür kann sich Billy jeder leisten.
Billy kann sich jeder leisten, aber kaum noch jemand sehen. Verzwickte Sache also.
Vollstellen!
Da gibt es wirklich nichts zu feiern. Haha 😆 Man feiert halt immer das, was einem wichtig ist. Das kann vom Hochzeitstag bis zum erfolgreichen Nickerchen so ziemlich alles sein.
Wenn einem die eigen Hochzeit nicht wichtig ist, dann sollte man vielleicht eh etwas an seinem Leben ändern.
Das ist kein schlechter Punkt
Am Montag war, wie wir in #2 erfahren haben, der Scheidungstermin. Da hinterlässt die Erinnerung an den Hochzeitstag wohl eher einen schalen Nachgeschmack.
Ah das war mein Fehler. Ich muss mir mal angewöhnen, zumindest den letzten Teil noch einmal zu lesen, bevor ich mich an die aktuelle Veröffentlichung mache. Danke für den Hinweis.
Da fällt mir wieder ein, dass ich mir nach Corona endlich eine Putzfrau suchen wollte…
Tun Sie es Sie werden es nicht bereuen.
Na, na! Kommt drauf an. Ein Freund von mir nannte sie nach schlechten Erfahrungen ‚Einmietdiebinnen‘.
Oh das ist übel. Wie bei allem kommt es wohl auch hier auf das richtige Händchen bei der Auswahl der Putzkraft an. Ob man doch daneben gegriffen hat, weiss man leider oft erst im Nachhinein. Ärgerlich.
Man muss sich was trauen! Hat mir bei der Partnerwahl geholten, bei der Mitarbeiterwahl genutzt und bei der Wahl meiner Hilfskräfte nicht geschadet.
… und seinen Mitarbeitern etwas zutrauen. Verantwortung lässt viele Menschen stärker wachsen als man anfangs vielleicht erwarten würde.
An „Gebet, so wird euch gegeben werden“ glaube ich nach wie vor. Auch wenn ich mit der Institution Kirche schon lange nicht mehr viel anfangen kann.
Wir glauben zumindest zu sehen, dass Engherzigkeit nicht glücklich macht.
Hmm, manchmal ist „nichts Besonderes“ eben wohltuender als das tägliche Katastrophengrollen. Dann freut man sich schon, wenn einmal nichts aufregendes passiert. Solche bedrückenden Phasen im Leben hatte ich auch schon. Leider gibt es selten den einen, direkten Weg, der aus solchen Situationen heraus führt.
Ich finde eh, dass die Suche nach dem Besonderen etwas überbewertet wird. Vor allem Instagram gaukelt uns ja nonstop vor, dass wir alle völlig außergewöhnlich, schön und talentiert sind. Unser Leben soll dann natürlich möglichst ebenso perfekt und aufregend sein. Klar muss man im Leben Aspirationen haben, aber diese Megalomanie hilft nicht so richtig weiter.
Das Normale reicht ja vom gesunden Volksempfinden bis zum billigen Durchschnitt. ‚Nicht normal‘ gilt als Beleidigung. Eine Freundin von mir sagt: „Ich hab nicht groß was erreicht, aber für mich bin ich was Besonderes.“ Wer so weit kommt, hat mehr geschafft als zu resignieren.
Klingt nach einer klugen Freundin!