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0407
03 – Regen in der Wüste

#10 | Appetit

Mittwoch, den dritten April.

Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können.
––Herr Friedemann lächelte zufrieden.
––Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung. Weg!

Sie drehte sich um. „Ich muss noch einkaufen gehen. Am liebsten würde ich das gleich machen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
––Sie sähe blass aus. Ob ihr nicht gut sei.
––„Ich fühle mich etwas flau. Aber ein bisschen frische Luft und Bewegung wird mit guttun.“
––Wenn ihr schlecht sei, solle sie nach Hause gehen. Er schaffe das schon allein. Sie sei ja noch nie krank gewesen, wahrscheinlich lebe sie einfach zu gesund. Er grinste.
––Sie lächelte schwach. „Herr Buchner wollte nachher vorbeikommen, um die Flötenvase abzuholen. Ich hab’ sie schon verpackt. Sie liegt auf dem Schreibtisch.“ Sie zog den Mantel an, band ihr Kopftuch um und ging auf die Straße. Sie roch Abgase und hörte Stimmen. Von der Seite gedrängt, von hinten geschoben. Eine Tür öffnete sich vor ihr und schloss sich hinter ihr automatisch. „Ein leichtes Beruhigungsmittel. Nein, nicht so etwas Starkes. Etwas Homöopathisches. Ja, Baldrian ist gut. Ach, und Knoblauch-Perlen.“
––Die Verkäuferin griff nach der Schachtel.

„Na, heute ist aber wieder mit Knoblauch gekocht worden! Es riecht ja wie bei den polnischen Nicht-Ariern.“ Das sagte ihr Vater immer lächelnd. Er meinte es nicht böse.

„Was macht das?“

„Sicher ist mir bewusst, dass du Jude bist. Das gefällt mir doch so an dir. Es ist meine ganz persönliche Form von Wiedergutmachung.“
––„Wieso? Weil ich das Besondere liebe. An dir und überhaupt.“
––„Was heißt rein kulinarisch? Wie soll ich die Dinge denn sonst sehen?“
––„Ach, das braucht dich doch nicht zu stören, solange ich einen unstillbaren Appetit auf dich habe.“ Dann hatte sie gelacht und ihn geküsst.

Sie zahlte. – „Nein danke, ich stecke es so in die Tasche.“
––Die Tür öffnete sich vor ihr und schloss sich hinter ihr.
––Sie betrat das Kaufhaus. Gedämpftes Gemurmel, künstliche Beleuchtung. Die Rolltreppe glitt hinunter. Unter Tage. Food Center. Sie schob den Wagen an den Regalen entlang.

„Du darfst ihn nicht immer nur spazieren fahren. Er muss allmählich laufen lernen. Andere Kinder in seinem Alter sind schon viel weiter. Wir sollten ihn mehr fordern. Jetzt verwöhnen wir ihn und später bereuen wir es.“ – Hatte er das gesagt oder hatte sie das gesagt?

Sie stand vor dem Bord mit Babynahrung. Hilflos sah sie nach rechts und links. Ihr wurde schwindlig. Wenn ich jetzt ohnmächtig werde, müssen sie mich dann die Rolltreppe hinauftragen? Sie versuchte, sich zu orientieren. Wo bin ich denn hier? Ich will doch zum Gemüse. Sie las die Schilder, die von der Decke hingen. Zu den einzelnen Begriffen schummelten sich die Erklärungen ihres Ernährungsratgebers in ihr Hirn. Ganz automatisch, sie konnte es nicht ändern.

‚Brot‘: Der wichtigste Teil des Korns wird zum Abfallprodukt. Die aus dem verbliebenen, gebleichten Teil bereiteten Brote und Kuchen sind praktisch ohne Nährwert.

‚Hülsenfrüchte‘: Alle Sorten dieser Gruppe sind hervorragende Proteinquellen und sollten ein regelmäßiger und wesentlicher Bestandteil Ihrer Ernährung sein.

‚Nüsse‘: Wir möchten Sie daran erinnern, dass – nach den Erkenntnissen der Yoga-Ernährung – nie geröstete oder gesalzene Nüsse gegessen werden sollten.

Das braucht dich doch nicht zu stören, solange ich Appetit auf dich habe.

„Nein, danke! Ich esse überhaupt kein Schweinefleisch. Schon als Kind hab’ ich Schwein nicht gemocht. Dieser süßliche Geschmack! Aber mein Mann! Stellen Sie sich vor, er ist Jude, und sein Lieblingsgericht ist Kassler!“ Sie hatte über das betretene Schweigen hinweggelacht. Es war vielleicht etwas harmlos von ihr gewesen, aber reichlich verklemmt von den anderen. – „Tabus? Was sind Tabus? All diese Vorschriften! Fürs Essen. Fürs Leben. Das dient doch nur dazu, die Menschen kleinzuhalten.“ Hatte wirklich sie das gesagt? Und wer hatte geantwortet: „Die Menschen brauchen Halt“?
––„Sicher versteh’ ich das, Schwester. Aber ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe. Wenn diese Menschen am Telefon ihre Probleme ausbreiten würden – vor mir! Ich glaube, ich wäre sprachlos. Oder ich würde abstumpfen.“
––„Ja, versuchen kann ich es. Ich möchte so gern etwas geben. Wissen Sie, ich habe immer für meine Familie gelebt. Was ich gegeben habe, war bis zu einem gewissen Grade … Ja, Egoismus. Ich muss ganz von vorn anfangen. Doch. Sie haben mir wieder Mut gegeben. Also, den Lehrgang mach’ ich ganz bestimmt mit.“

„Können Sie mich bitte vorbeilassen? Ich habe nichts gekauft.“ Sie schlängelte sich an der Kasse vorbei. Wie ein Ladendieb.

„Sie werden das teuer bezahlen. Natürlich war das jetzt eine schwere Zeit für Sie. Erst der Schock, dann die Auseinandersetzungen und der Wunsch Ihres Mannes, sich scheiden zu lassen. Aber diese Menge an Tabletten – das macht Ihr Körper nicht mit. Dazu noch der Alkohol. Sie ruinieren sich! Und wenn Sie das vielleicht sogar wollen, dann sage ich Ihnen als Ihr Arzt: Ich kann das nicht länger verantworten. Sie müssen sich zusammennehmen! Vielleicht wäre eine Kur das Beste.“
––„Ich rede nicht von einer Entziehungskur und nicht von der Heilanstalt. Noch nicht. Sie dürfen sich auch nicht immer gleich so aufregen! Was Sie lernen müssen, ist etwas mehr Abstand zu sich selbst, etwas mehr Gelassenheit und, verzeihen Sie, wenn ich das sage, etwas mehr Selbstdisziplin. Versuchen Sie es doch mal mit Yoga! Manchem Menschen hilft das sehr.“

Wieder auf der Rolltreppe, wieder auf der Straße, wieder bei ihren Antiquitäten.
––Nanu, sie habe ja gar nichts gekauft.
––„Nein, ich war nur spazieren.“
––Also, wenn ihr nicht gut sei, dann solle sie sich wirklich nicht unnötig quälen, sondern nach Hause fahren. Man müsse sich auch mal gehen lassen können.
––„Nein, nein, es wird schon wieder. Es ist schon viel besser. War Herr Buchner da?“

Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Masson (Mantel), LightField Studios (Kopftuch), Stone background (Holzschild), sviridov (Regal und Gemüseauslage), Evannovostro (Fußboden), Timmary (Knoblauch)

37 Kommentare zu “#10 | Appetit

  1. Tja, was sind Tabus? Eigentlich doch immer wieder nur das, was andere Menschen verletzen könnte. Ansonsten wüsste ich nicht, warum etwas tabu sein sollte.

    1. Es gibt aber auch jenseits der Dinge, die verletzend sind, Sachen über die man nicht sprechen muss. Das kann dann auch aus Scham oder einfach Diskretion sein.

      1. Vielleicht sollten bestimmte Formen der Political Correctness mal wieder tabu werden 😉

      2. Ach was, manchmal wird da über das Ziel hinaus geschossen. Keine Frage. Aber grundsätzlich gehen die Dinge doch trotzdem in eine richtige Richtung.

  2. Man muss sich in der Tat auch mal gehen lassen. Aber Alkohol und Tabletten um den Kummer zu unterdrücken, scheint mir nicht die richtige Form von Rausch zu sein.

      1. Richtig und falsch sind ja grundsätzlich schwierige Kategorien. Aber man kann vielleicht einen Unterschied machen zwischen „sich-gehen-lassen“ und unkontrolliert in die Sucht abstürzen.

      2. Manchmal scheint Sucht ja sogar eher Grenzen zu schaffen als Grenzen niederzureißen…

  3. Das ist ein interessanter Gedanke: Etwas Abstand zu sich selbst haben. Das klingt tatsächlich nach einer gesunden Einstellung.

      1. Soll man nun ganz man selbst sein, um sich selbstzuverwirklichen, oder soll man Abstand zu seinen Lüsten und Lasten gewinnen oder beides gleichzeitig? Viel Erfolg!

      2. Oder kann man, wenn man sich ab und zu mit etwas Abstand selbst betrachtet, sogar am Ende eher man selbst sein?

      1. Ich finde, man kann ja durchaus etwas bewusster essen. Aber es gibt definitiv auch Grenzen. Und dieser Wahn nach allem was mit Soja, Seitan, Tofu zu tun hat, ist sicherlich übertrieben.

      2. Im neuen ‚Spiegel‘ las ich gerade, dass die Zukunft vegan wird.
        Zur Überbrückung gibt es aus Tierfasern gezüchteten Klopsrohstoff und nach Tier Schmeckendes aus Pilzen und Gemüse-Extrakten. Bis zur vollendeten Produktreife wird das dann wohl erst mein Leichenschmaus, mir also ganz egal/recht.

      3. Ich glaube tatsächlich auch, dass Fleisch mittelfristig einfach sehr viel teuerer und damit eben weniger verbreitet sein wird. Vielleicht keine allzu schlechte Entwicklung. Es muss deswegen ja nicht gleich jeder vegan werden.

  4. Tabus sind ja eigentlich genau das Gegenstück von Vorschriften. Weil eben nichts vorgeschrieben wird, sondern man sie lediglich als Leitfaden nimmt. Und dann vielleicht sogar von Fall zu Fall anders in Betracht zieht.

    1. Ein Tabu ist unumstößlich. Von Fall zu Fall gibt es da, glaube ich, nur sehr begrenzt. Als syrischer Moslem beim Deutschen eingeladen und ihm zuliebe Eisbein gegessen? Eher nicht.

      1. Die eigenen Tabus sind sicher unumstößlich. Vielleicht meinte Susanne, dass nicht alle Menschen die gleichen Tabus haben? Es gibt ja eben auch nicht besonders religiöse Juden, die nichts gegen Schweinefleisch haben. Genau wie für den einen schon SM beim Sex tabu ist, der andere zieht die Grenze erst bei der Golden Shower.

      2. Beim Sex spielen Vorlieben heute wohl eine größere Rolle als Tabus (im liberalen Westen). Ausreden gibt es natürlich auch:
        Golda beim Metzger: „Und dann Sie mir geben noch von dieses Fisch da!“
        Metzger: „Das ist Schwein, Frau Salomon.“
        Golda: „Hab ich Sie gefragt, wie heißt der Fisch?“

  5. Gezielte Tabubrüche sind natürlich ein allseits beliebtes Provokationsmittel. Da sind sich Autoren, TV-Größen, Comedians, Politiker einig. Der Text oben flirtet ja selbst damit.

    1. Wiki sagt ja: „Gemeinsame Tabus stabilisieren die Bezugssysteme von Menschen, insbesondere aufgrund ihrer gemeinschaftlich erfahrenen emotionalen Aufladung.Mitglieder, die einen Tabubruch wagen, sind daher in der Regel schweren Sanktionen bis hin zum Ausschluss aus der Gemeinschaft ausgesetzt.“
      Man fragt sich aber ob es manchmal nicht dennoch wichtig ist, das Themen diskutiert werden, die bislang als tabu galten. Nur so kann sich eine Gesellschaft doch weiterentwickeln.

      1. Sexualkunde scheint ja in Ungarn wieder reglementiert zu werden. Ein uraltes Thema. Schon Heinrich Zille lässt eine Arbeiterfrau sagen:
        Mein Mann is ja ooch für sexuelle Aufklärung. Er kann et die Kinder bloß nich so beibringen. Er wird immer jleich zu jemein.

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