Dienstag, sechsundzwanzigster März:
Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.
Sie stand da und starrte ihn an. Es kam ihr so vor, als ob er Feindseligkeit ausströmte, und gleichzeitig kam sie sich lächerlich vor, so etwas zu denken. Wie werden wir ihn nur wieder los? Werden wir ihn überhaupt wieder los? An wen? Wer will so etwas? Er ist zu klobig. Er stört die Harmonie des Raumes. Er passt nicht zu uns. – Ein Grund mehr, auf ihm sitzen zu bleiben. Was für eine Aussicht: Tag für Tag mit diesem Monstrum! Sie trat einen Schritt näher, vorsichtig, als wittere sie Gefahr. Kein Zweifel – der hohe Sockel, die Pilaster an Mitte und Kanten des Hauptgeschosses, das ausladende, verkröpfte Gesims und die sechs Kugelfüße –, es war ein Frankfurter Schrank, frühes achtzehntes Jahrhundert. – Echt! Tatsächlich echt! Erst hatte sie das gar nicht glauben wollen, bei dem günstigen Preis. Sie konnte schon verstehen, dass Herr Friedemann zugegriffen hatte. Hauptsache, wir finden jemanden, der ihn uns wieder abnimmt. – Plötzlich merkte sie, dass Herr Friedemann sie beobachtete.
––Offenbar könne sie sich mit seiner Neuerwerbung nur schwer anfreunden. Ob ihr der Schrank wirklich so sehr missfalle?
––Sie zögerte einen Augenblick. „Ehrlich gesagt, begeistert bin ich nicht.“
––Was sie an ihm denn so unausstehlich fände.
––„Er passt einfach nicht zu unserem Stil.“
––Das sähe er anders. Der Schrank sei eben nicht aristokratisch, sondern eher bürgerlich, und das läge doch durchaus auf ihrer Linie. Ob nun hanseatisch von der Elbe oder aus der Goethe-Stadt vom Main, das würde die Kunden wohl wenig stören.
––„Nein, die Kunden stört es bestimmt nicht, die brauchen ihn ja einfach nicht zu kaufen“, sagte sie.
––Bei ihrem Talent würde sie das doch bestimmt schnell schaffen.
––Herrn Friedemanns Komplimente waren immer penetrant ironisch, aber dafür lag in seiner Ironie immer noch ein kleines Extra-Kompliment. „Außerdem steht er viel zu dicht am Fenster. Wenn ich hier gewesen wäre, als sie ihn brachten …“
––Sie sei aber nicht da gewesen.
––Mein Gott, weil sie einmal weggemusst hatte, um … – sie wollte darüber nicht weiter nachdenken, sondern sagte: „Er hält das Licht ab. Der Raum wirkt auf einmal richtig finster. Vielleicht könnte man ihn weiter nach hinten schaffen lassen.“
––Je dichter er am Fenster stünde, desto eher würde ihn ein Interessent von der Straße her sehen und vielleicht kaufen.
––„Ach, das wäre aber schön: für den Kunden, für Sie – und vor allem für mich. Denn ich bin ja wohl die meiste Zeit hier, bloß ausgerechnet nicht, wenn solch ein Trumm angeliefert wird.“
––Man könne eben nicht immer am Brennpunkt des Geschehens sein, sonst wäre man ja jetzt wohl in Vietnam oder in Prag und nicht beim Anwalt oder an der Alster.
––„Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Ihren Laden verdüstern lassen, hätte ich meine Scheidung natürlich verschoben“, sagte sie.
––Es täte ihm leid.
––Jetzt bloß nicht tapfer wirken, dachte sie. „Kein Mensch kauft solch einen Schrank, weil er ihn im Schaufenster entdeckt. Solches Glück haben eher Krawatten oder Broschen.“
––Sie dürfe das nicht rein vom Ästhetischen sehen, sondern müsse auch die kaufmännische Seite berücksichtigen. Es sei eine Gelegenheit, wieder einmal ein wirklich gutes Geschäft zu machen.
Sie war froh, dass Herr Friedemann die geschäftliche Seite betonte. Im Allgemeinen hatten sie einen sehr ähnlichen Geschmack. Vorher hatte sie kurze Zeit in einem Laden gearbeitet, dessen Eigentümer einen Hang zum Ornamentalen gehabt hatte. Chippendale und Jugendstil. Es war ihr so gegen den Strich gegangen, Dinge zu verkaufen, mit denen sie nicht einverstanden war, dass sie die Stellung aufgegeben hatte. Sie konnte nicht gegen ihre Überzeugung leben – und sie lebte mit ihrer Arbeit. Herr Friedemann war ganz anders als ihr voriger Arbeitgeber. Er bevorzugte wie sie das Kühle, Gediegene. Muster in Maßen. Lieber streng als verspielt. Vor allem nicht zu protzig. Merkwürdig, dass ein so gescheiter Mann ein solch albernes Privatleben führte, aber das ging sie nichts an. „Ich finde ihn einfach ein bisschen zu protzig. Und jetzt will ich auch nicht länger rummäkeln. – Sie nehmen es mir doch nicht übel, dass ich ihn nicht mag? Sie wissen ja, ich gehöre zu diesen schrägen Vögeln, die lieber trockene Körner picken als saftige Würmer.“
––Aber natürlich nähme er es ihr nicht übel. Er könne sich den Schrank auch nur in einem sehr großen Raum vorstellen, hier wirke er in der Tat übermächtig. Er fände bloß, dass es in einem Laden nicht genauso aussehen müsse wie in einem Wohnraum. Also, er sähe nur zwei Möglichkeiten: Entweder müsse sie den Schrank schnell verkaufen, oder sie müsse Freundschaft mit ihm schließen. Er persönlich würde die erste Variante vorziehen.
Sie ging nach hinten, nahm die Konfektschale von der Konsole und stellte sie auf die Schreibkommode. Etwas anderes tun. Sich nicht überrumpeln lassen. „Ich glaube, die Sweet-meat-Cup steht ungünstig. Die hätte längst verkauft sein müssen. Vielleicht hilft es, wenn wir sie weiter nach vorne nehmen.“
––Sie solle doch Konfekt hineinlegen, dann würde man die Schale bestimmt nicht übersehen.
––„Das wäre ganz verkehrt. Ein Gegenstand, der so aussieht, als ob er benutzt wird, hat überhaupt keine Chance. Die Schale wird bloß leer gegessen. Mehr passiert nicht.“
––Er befürchte, er wäre der Erste, der die Schale leer äße. Sie habe es gut. Sie mache sich nichts aus Pralinen.
––„Sie haben es gut. Es gibt etwas, das sie wollen: Konfekt. Und – Sie können es haben!“
––Sie habe aber auch gar keine Laster. Ob das nicht ein ziemlich eintöniges Leben sei.
––„Ich stelle es mir ziemlich eintönig vor, seine Laster ständig füttern zu müssen. Übrigens, ehe ich es vergesse, Herr Hohenbach war vorhin hier. Er sucht eine Messingkrone für sein Esszimmer. Sie wollen doch morgen nach Kopenhagen fahren. Vielleicht finden Sie etwas Passendes.“
––Er werde es zumindest versuchen. Obwohl die dänischen Händler inzwischen so hohe Preise nähmen, dass man gerade solche Leuchten kaum noch mit Gewinn weiterverkaufen könne. Sein Blick fiel auf das Eckbord. Er strich mit der flachen Hand über ein Regal und fand natürlich, was er suchte: Staub. Das ginge aber nicht. Frau Fischer sei in letzter Zeit immer nachlässiger geworden. Wenn das nicht bald besser würde, bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich nach einer neuen Putzfrau umzusehen. Ob ihr nicht auch schon aufgefallen sei, dass nicht mehr anständig Staub gewischt würde.
––Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß. Ich wische auch manchmal hinter ihr her. Sie wird langsam zu alt. Sie sieht schlecht. Das ist das Problem.“
––Darauf könne man sich aber nicht einlassen.
––„Heute ist sie bei mir zu Hause. Sie kommt immer dienstags zu mir in die Wohnung. Also, ich gebe zu, ganz zufrieden bin ich auch nicht mehr mit ihr. Ich werde sie mal darauf ansprechen. An sich ist sie nämlich sehr hilfsbereit und gutwillig. Und vor allem ehrlich.“ Wie gönnerhaft das klang!
––Die Ehrlichkeit nutze nichts, wenn das Geschäft verdrecke – übertrieben ausgedrückt.
Schrecklich, Gerede über Dienstboten! Schon vor ihrer Ehe hatte sie das gehasst. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als die Tollpatschigkeit oder Drolligkeit von Menschen zu betratschen, die damals für sie und ihre Freundinnen einen Einblick in die Welt der einfachen Leute dargestellt hatten. Ein speckduftendes Gemisch aus Dünkel und Neugier. Was sie noch mehr ärgerte, war, dass Herr Friedemann recht hatte. „Sie saugt wenigstens den Boden und putzt die Fenster. Ich werde ihr mal etwas sagen. Sonst müssen wir uns eben nach einer anderen umsehen. Das wird aber nicht einfach. – So, ich muss jetzt noch die Abrechnung von gestern machen.“ Sie ging nach hinten. Das Telefon klingelte. Es stand vorn. „Gehen Sie?“
––Nein, sie solle gehen.
––Sie nahm den Hörer ab. Die Stimme kam ihr gleich bekannt vor, ohne dass sie sofort gewusst hätte, zu wem sie gehörte. „Ach, Sie sind es! Das ist ja eine Überraschung. Von wo rufen Sie an? Nein, eigentlich nicht. Wann? Ja. Ja, das müsste klappen. Gut. Also, dann bis später! Ich freue mich. Ja. Danke!“ Sie legte den Hörer auf und freute sich nicht. „Herr Friedemann, macht es Ihnen etwas aus, wenn ich heute schon um vier gehe?“
Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Peter Gudella (Fußboden), Steve Cukrov (Mann von hinten), Rawpixel.com (Frau von hinten), Grunge Creator (Staubpartikel), Svitlana Martynova (Pralinen)
Kühl und streng kann ich nachvollziehen. Natürlich nur wenn es um Design geht. Menschlich braucht es dann doch ein wenig Wärme und Leidenschaft.
Mancher Modernismus schießt für meinen Geschmack über das Ziel hinaus. Man muss sich ja trotzdem noch wohlfühlen. Vieles ist zwar schön anzuschauen aber nicht wirklich wohnlich.
Wohnlich war früher nicht gefragt. Couchtische, Sitzecken und Lampen gab es ja noch nicht. Erst ab dem Biedermeier wollte man es ‚gemütlich‘ haben.
Die Interpretationen was wohnlich nun wirklich bedeutet, gehen ja auch heute noch deutlich auseinander. Viel Farbe und viel Geschnörkel muss meiner Meinung nach nicht immer gleich auch gemütlich bedeuten. Manche dieser Einrichtungsserien im TV machen mich beispielsweise recht sprachlos.
Was man denkt, was man sagt und was man tut – die Zwischentöne machen die literarische Musik!
Ich habe sie zwar lange Zeit eingesetzt, aber ich bin mittlerweile gar nicht mehr davon überzeugt, dass ironische Komplimente überhaupt funktionieren.
Komplimente sind am schönsten wenn sie ehrlich und gerade heraus ausgesprochen werden. Warum soll man sich da hinter Ironie verstecken?
Weil, wenn das Kompiment ein Flirt ist, die Grenzen verschwimmen.
Ah ja das ist tatsächlich ein Argument. Flirt und Ironie sind aber ja oft auch nochmal zwei verschiedene Paar Schuhe.
Wohl dem, dem sie passen! Und der (weiblich).
Hahaha, gescheite Männer mit albernem Privatleben gibt es wirklich zu viele!
Frauen allerdings auch.
Die Work-Life-Balance ist halt nicht jedem gegeben.
Diese Dame macht mich neugierig. Auch wenn sie sich nicht um Sex kümmert.
Abwarten.
Die Neugier wird mit Sicherheit befriedigt werden. Die Dame möglicherweise auch.
Ich habe es wahrscheinlich sogar schon mal gesagt, aber ich mag wirklich wie sich der Blog nicht nur inhaltlich sondern auch visuell mit jeder Geschichte neu erfindet.
Die neuen Titelbilder gefallen mir auch sehr. Genau passend zu der bisher recht mysteriösen Protagonistin.
Danke. Wir knobeln auch immer ziemlich daran. Ich gebe das Lob weiter.
Eine richtig gute Putzfrau (oder Mann) zu finden ist ja auch eine schwere Aufgabe. Aber wenn man mal Glück hat, dann gibt es nichts besseres als eine saubere Wohnung und zusätzlich noch gewonnene freie Zeit. Das Investment lohnt sich immer.
Das Glücksgefühl einer sauberen Wohnung stellt sich allerdings auch beim Selbstputzen ein.
Das stimmt, aber wir oben gesagt, die gewonnene Zeit ist eben auch ein entscheidender Faktor.
Wenn geklaute Äpfel besser schmecken, lebt es sich vielleicht auch in fremd-geputzten Wohnungen ungenierter.
Hmmm, ein Schrank als gute Geschäftsgelegenheit?! Steckt da nicht doch noch mehr dahinter?
Die Geschichte fängt ja gerade erst an. Ob der Schrank da noch eine wahnsinnig große Rolle spielen wird, wird man sehen. Ich glaube die Dame und der Anruf werden eher im Fokus stehen 😉
Die Frage in welcher Beziehung der Anrufer von neulich und diese Frau zueinander stehen, steht jedenfalls immer noch im Raum…
Es muss ja auch weiterhin was zu erzählen geben. Ohne Geheimnisse und offene Fragen keine Geschichte.
Schrank und Telefongespräch werden beide nicht im luftleeren Raum stehenbleiben.
spannung 👀
Wenn es rein um die Möbel geht, dann kann Jugendstil (oder schöner Art Nouveau) ja durchaus funktionieren. Das Problem ist meistens, dass da insgesamt soviel Ornament zusammenkommt, dass das Auge schnell überfordert ist.
Meins ist es nicht. Aber zum Glück sind die Geschmäcker ja verschieden.
Man muss ja auch nicht gleich die ganze Wohnung in Jugendstil einrichten.
Fünfziger-Jahre-Retro mit Nierentischen ist (für mich) schlimmer.
Ach Gott, ja das ist wirklich furchtbar.
Sweet-Meat-Cup musste ich mal wieder googeln.
Konfektschale trifft es wahrscheinlich besser als süßer Fleischbecher 😉
Fleisch wird ja, nicht nur bei Veganern, sowieso selten zum Nachtisch mit Vanillesoße gereicht. Aber kreolisches Hühnchen mit Schokolade darf an heißen Tagen vor dem Ananas-Sorbet durchaus auf den Tisch kommen.