03 – Regen in der Wüste

‚Regen in der Wüste‘ handelt von einer Frau, die ihren Weg gefunden hat. Oder ist es ein Irrweg?

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#21 | Politur

Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören?

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#20 | Biedermeier

So, da habe sie ihn wieder! Die Packer setzten ab. Der finstere Apriltag verfinsterte sich noch mehr. Der Frankfurter Schrank stand wieder vor dem Fenster. Ein gefräßiger Krake, der das Licht mit seinen Saugnäpfen verschlingt. Herr Friedemann kam aus dem Hinterzimmer. Nun sei der Holzwurm hoffentlich beseitigt. Die Gaskammer habe er wohl kaum überleben können.

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#19 | Mittlere Reife

„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“ „Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“ „Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“ „Wie alt ist Ihr Sohn?“ „Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“

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#18 | Tote Vögel

Sie lag im Bett und sah abwechselnd auf die Uhr und aufs Telefon. Fünf nach elf. – Was ich besonders an ihm geschätzt habe, war seine Pünktlichkeit. – Sie ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen und erschrak. Bin ich jetzt völlig übergeschnappt?

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#17 | Mücken

„Einen Juden gleich nach dem Krieg zu heiraten, das war nach all dem Entsetzlichen ganz ungewöhnlich, na ja, schon deshalb, weil es kaum noch Juden gab.“ Sie lächelte schwach, Adelheid sah mit angespanntem Gesicht geradeaus, in den Wind und in den Sinn ihrer Worte. „Jetzt, rückblickend, frage ich mich, ob noch etwas anderes als Liebe mit im Spiel war.

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#16 | Am Deich

Sie nahm das Telefon und wählte. „Adelheid, es tut mir leid. Ich fühl’ mich überhaupt nicht wohl. Ich kann’ heute Abend leider nicht mitkommen ins Theater.“ „Ach, nicht so schlimm. Etwas mit dem Magen. Wenn es ein kurzes Stück wäre, würde ich auch gehen. Aber bis elf im Parkett sitzen, das halt’ ich, glaub’ ich, in meinem Zustand nicht durch.“

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#15 | Geschmackszerstörer

Sie überlegte mit geschlossenen Augen. Vom Meer hatte sie geträumt, von Felsen, sie schwebte über getrockneten Salzlachen und Distelgewächsen, eine schaukelnde Bewegung, ein Tretboot, die Hängematte in ihrem Garten, als sie noch zusammen in Nienstedten gewohnt hatten. Herr Friedemann versuchte, ihr eine Flötenvase in den Mund zu schieben. Sie wollte sagen: ‚Hören Sie doch auf damit!‘, aber es war ein Knebel, sie brachte keinen Ton heraus, und ein Schatten beugte sich über sie, schweigend.

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#14 | Selbstachtung

„Guten Abend! ... Ich wollte mal Ihre Meinung hören. Ich komme vom Alkohol nicht weg. Also nicht, dass ich Trinker bin. Aber ich denk’, es könnte mal dahin kommen, wenn nicht was passiert.“ „Wie viel trinken Sie denn ungefähr am Tag?“ „Das kommt drauf an. Aber sechs bis acht Flaschen Bier können es schon werden.“ „Und einige Korn dazu?“ „Ja, ein paar Korn auch.“

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#13 | Stimmen

Das Telefon klingelte. Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren. „Hallo!“ „Ja?“ „Martin, so etwas lässt sich nicht einfach mit einer Entschuldigung vom Tisch wischen!“ Die Scheiße liegt ja schon meterhoch auf dem Tisch, Frau Fischer! „Du hast es nicht so gemeint? Du hast es genauso gemeint, wie du es gesagt hast. Und du hast vielleicht sogar recht damit. Aber ich brauche Zeit, es zu verarbeiten.“

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#12 | Dressing

Donnerstag, den vierten April. „Wieviel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“ Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein. „Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“ Nein, eigentlich nicht. „Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“

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#11 | Banane

„Ja, schönen guten Abend! Ich ruf’ Sie an in einer Angelegenheit, also, ich war meinem Mann untreu.“ „Haben Sie mit Ihrem Mann darüber gesprochen?“ „Nein. Noch nicht.“ „Ahnt Ihr Mann etwas davon?“ „Ich glaube, nein. Aber er sagt manchmal, ich sei so komisch.“ „Dauert das Verhältnis noch an?“ „Nein. Das war gar kein Verhältnis. Das war, als ich zur Kur war ...

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#10 | Appetit

Mittwoch, den dritten April. Ab in die Gaskammer! Schön, dass sie ihn so schnell holen kämen. Der hätte ihnen hier noch großes Unheil anrichten können. Herr Friedemann lächelte zufrieden. Sie öffnete die Tür, und die beiden Träger balancierten den Frankfurter Schrank schnaufend durch den Eingang, schleppten ihn auf die Straße und stemmten ihn in den Möbelwagen. Sie pferchten ihn ein zwischen anderen Gegenständen, ließen die Klappe rasselnd zuschnappen und stiegen ins Führerhaus. Der eine gab Gas, der andere packte eine Stulle aus. Sie sah dem Transportwagen nach, mit beunruhigender Erleichterung.

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#09 | Gymnastik

„Ich bin neunundsiebzig Jahre alt und ich werde mit meiner Einsamkeit so schwer fertig.“ „Das ist ein großes Problem. Haben Sie Verwandte?“ „Mein Mann ist ums Leben gekommen, als ich vierundfünfzig war. Ich habe einen Sohn, der lebt in Amerika, und eine Tochter in Mainz. Aber außer zu den Feiertagen sehen wir uns nicht. Und die Anrufe alle paar Wochen, das ist schön, aber zu wenig.“

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#08 | Wochenende

Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Milch, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett. Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr. Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten. Es klingelte vier, fünf, sechs Mal. Etwas mit Martin?

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#07 | Gefestigt

Freitag, den neunundzwanzigsten März. Da begann es. Sie selbst setzte es in Bewegung, in aller Unschuld. Herr Friedemann stellte den Koffer ab. Wie er sich schon gedacht hätte, eine brauchbare Messingkrone habe er nicht auftreiben können. Die Zeit sei allerdings auch sehr knapp gewesen. Es täte ihm leid, dass er erst jetzt käme.

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#06 | Stattdessen

Donnerstag, den achtundzwanzigsten März. Da fing es schon an, harmlos wie viele Katastrophen. „Nicht doch, Othello! Lass mich noch ein bisschen schlafen! Es ist ja erst sechs.“ Othello war das egal. Sie stand auf, schleppte den Kater mit zärtlicher Eile ins Wohnzimmer, ging zurück, machte die Tür fest hinter sich zu und legte sich wieder hin. Sie dachte an den Jungen vom vorigen Abend.

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#05 | Der Entlassene

„Ist dort die Telefon-Seelsorge?“ „Ja.“ „Guten Abend!“ „Guten Abend!“ „Also, ich habe da ein Problem, mit dem ich nicht fertigwerde. Ich bin vorige Woche aus dem Gefängnis entlassen worden. Ich hab’ ein Jahr wegen Einbruch gesessen. Ich bin da in was reingeschlittert ... “

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#04 | Der Sohn

‚„Er liebt mich nicht!“, sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. In den letzten Tagen war es noch schärfer geworden. „Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!“, dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: „Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet.“‘

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#03 | Eine Urlaubsbekanntschaft

Der Würfelzucker fiel in die Tasse. Der Löffel stieß nach und stocherte in der braunen Flüssigkeit herum, bis der Klumpen zerstückelt war. Dann klirrte der Löffel auf die Untertasse. Zwei Finger mit sorgfältig lackierten Nägeln ...

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#02 | Ein Fremdkörper

Dienstag, sechsundzwanzigster März: Das war eigentlich noch ein ganz normaler Tag gewesen. Rückblickend gesehen vielleicht der letzte ganz normale Tag in ihrem Leben. Und doch war da schon zum ersten Mal dieses Gefühl von Bedrohung.

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#01 | Ein Lebensmüder

Montag, fünfundzwanzigster März neunzehnhundertachtundsechzig. Fastenzeit. „Ich ... Ich glaube, ich kann das Leben nicht mehr aushalten.“ „Das klingt schlimm. Sagen Sie mir, was Sie bedrückt!“ „‚Bedrückt‘? Der Druck bedrückt mich. Ich halte ihn einfach nicht mehr aus.“ „Was halten Sie nicht mehr aus?“ „Ich halte es nicht mehr aus, daran zu denken, dass ich noch so lange leben muss.“

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Hanno Rinke

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