„Guten Abend! Es fällt mir nicht ganz leicht, offen zu sprechen.“
––„Das ist ganz normal. Lassen Sie sich Zeit!“
––„Wir haben große Sorgen wegen unseres Sohnes, meine Frau und ich.“
––„Wie alt ist Ihr Sohn?“
––„Achtzehn, er wird dieses Jahr neunzehn. Aber der Junge ist uns völlig über den Kopf gewachsen, in jeder Beziehung. Vorige Woche ist er – ja, wie soll ich das nennen? – weggelaufen. Ausgezogen.“
––„Geht er noch zur Schule?“
––„Von der Schule ist er weggeblieben.“
––„Er ist noch nicht volljährig.“
––„Ja, soll ich etwa die Polizei holen? Dann ist es doch ganz aus.“
––„Wissen Sie, wo Ihr Sohn jetzt lebt?“
––„In irgend so einer verfallenen Bude, mit Freunden zusammen.“
––„Warum ist Ihr Sohn ausgezogen?“
––„Er hat gesagt, mit uns wolle er nichts mehr zu tun haben. Meine Frau ließe sich vom ‚kapitalistischen Konsumterror‘ beherrschen, so nennt er das. Kapitalistischer Konsumterror! Wie kommt man auf so was? Das ist doch nicht auf seinem Mist gewachsen! Mein Gott, ist es denn so schlimm, wenn man es etwas schön haben will, nach allem, was wir durchgemacht haben? Gut essen und einigermaßen nett wohnen, das ist doch nicht zu viel verlangt. Schlafen Sie etwa auf Matratzen mit Apfelsinenkisten als Möbel?“
––„Nein, das tue ich nicht, aber ich bin auch keine achtzehn mehr.“
––„Wohnen Ihre Kinder vielleicht so?“
––„Nein, ganz und gar nicht.“
––„Na also! Und ich … Ich bin ja für ihn sowieso ein Nazi.“
––„Warum?“
––„Warum? Das will ich Ihnen sagen: Weil ich ’39 gleich in den Krieg gemusst habe und sechs Jahre lang Soldat war, deshalb!“
––„Haben Sie Ihrem Sohn das nicht erklären können?“
––„Haben Sie schon mal mit ’ner Dampfwalze geredet? Der lässt einen ja gar nicht zu Worte kommen. Der quasselt einen zu und dann knallt er die Tür.“
––„Seit wann hat Ihr Sohn solche Ansichten?“
––„‚Ansichten‘ nennen Sie das? Ich nenne das ‚Wahnsinn‘. Und das kriegen die auch noch beigebracht auf der Schule, von diesen jüngeren Lehrern, die hetzen die Jungs doch regelrecht auf. Wie schuldig ihre Eltern seien, und was weiß ich nicht alles. Hätten wir ihn bloß nach der Mittleren Reife abgehen lassen, dass er was Vernünftiges wird!“
––„Urteilen Sie jetzt nicht selbst so pauschal, wie Sie es Ihrem Sohn vorwerfen?“
––„Wissen Sie, ich habe sechs Jahre lang meine Knochen hingehalten, zweimal verwundet, und hinterher hab’ ich hart gearbeitet, sehr hart. Und jemand, der von nix ’ne Ahnung hat, von dem muss ich mich jetzt beschimpfen lassen.“
––„Nur dieser jemand ist Ihr Sohn.“
––„Ja. Er ist mein Sohn. Anfang fünfzig haben wir geheiratet, und dann kam auch schon der Junge. Zwei Jahre später der nächste. Und nun fragen wir uns natürlich, was wir falsch gemacht haben. Wie das kommen konnte, dass er so geworden ist. Der Jüngere ist ganz normal. Noch.“
––„Vielleicht hat es manchmal an dem notwendigen Verständnis gefehlt.“
––„Er hat doch immer alles bekommen. In Maßen. Also, verzogen haben wir ihn nicht. Ich war ja oft weg. Aber meine Frau hat sich doch immer gekümmert. Wir können das einfach nicht begreifen, dass wir ihm plötzlich völlig egal sind oder schlimmer – wenn man das genau ausdrücken will –: Er verachtet uns.“
––„Er ist in einem schwierigen Alter. Und die jungen Leute heute machen einen besonders schwierigen Prozess durch. Aber ich verstehe Sie. Ich habe selbst einen Sohn, mit dem es zurzeit nicht leicht ist. Wir haben in der Gemeinde eine Elterngruppe gegründet, die sich gerade mit diesem Thema sehr ausführlich befasst. Wollen Sie sich vielleicht die Adresse aufschreiben?“
Was denn mit ihrem Sohn sei, fragte ihre Kollegin.
––Sie wünschte sich die graue Trennwand zurück und sagte: „Ach, nichts. Ich wollte ihm nur etwas Trost geben und nicht bloß eine Anschrift.“ Glücklicherweise klingelte ihr Telefon gleich wieder, so dass die Lüge nicht wie ein Schrank im Raum stehen blieb.
––„Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
––„Guten Abend! Ich wollte mich mit Ihnen mal über meinen Mann unterhalten.“
––„Ja.“
––„Mein Mann behandelt mich, wenn man das mal so sagen kann, wie ein Tier, wie ein Stück Vieh.“
––„Das klingt aber sehr hart.“
––„Ja, das tut es wohl. Ich kriege kein freundliches Wort von ihm, kein bisschen Gefühl. Es ist so, als ob er mich nur benutzt. Er beutet mich sozusagen für seine Zwecke aus.“
––„Und Sie finden keinen Gefallen daran?“
––„Wie bitte?“
––„Ich meine, Sie sind darüber sehr beunruhigt.“
––„Ja. Ich weiß nicht, wie ich das länger ertragen soll. Mal wird es ja auch zu viel.“
––„Haben Sie schon einmal mit Ihrem Mann darüber gesprochen, dass Sie diesen Zustand nicht mehr aushalten können?“
––„Ja, das hab’ ich. Aber er hat nur gesagt: Wenn’s dir nicht passt, kannst du ja gehen.“
––„Sie wissen, dass Ihr Mann da auch vom Gesetz her im Unrecht ist?“
––„Ja, aber das ist mir keine Hilfe. Ich hab’ ja keinen Richter in der Wohnung, der meinen Mann dazu verurteilt, mich anders zu behandeln. Ich hab’ ja auch nichts gelernt. Wie soll ich denn mein Geld verdienen?“
––„Wie ist es zu dieser Entfremdung zwischen Ihnen gekommen?“
––„Wissen Sie, es klingt bitter, aber ich glaube, es war nie anders. Nur: Am Anfang war ich so dumm und verliebt, dass es mich nicht gestört hat, dass es mir gar nicht aufgefallen ist.“
––„Sehen Sie das nicht vielleicht ein wenig krass?“
––„Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich glaube, nicht. Wissen Sie, er beschimpft mich. Er sagt immer ganz schreckliche Wörter zu mir, also so schlimm, Sie können sich das gar nicht vorstellen.“
––„Was für Wörter?“
––„Ach, so Ausdrücke, ordinäre Ausdrücke.“
––„Zum Beispiel?“
––„Sie wollen doch wohl nicht, dass ich das hier wiederhole?“
––„Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie! Ich werde Ihnen die Adressen einiger Eheberatungsinstitute geben. An eines davon sollten Sie sich wenden. Notieren Sie bitte …!“ Sie legte den Hörer auf. „Ich glaube, ich kann nicht mehr“, sagte sie.
––Ihre Kollegin sah auf von ihrem Kreuzworträtsel. Das habe sie kommen sehen. Sie habe es wirklich übertrieben. Dreimal die Woche sei selbst für eine gründlich geschulte Kraft hart. Es sei kein Wunder, dass sie es nicht zusätzlich zum Beruf durchhalten könne. Sie selbst, obwohl sie schon viel länger dabei sei, sei mit zweimal in der Woche gründlich bedient.
––„Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich habe das Gefühl, ich strahle weder Festigkeit noch Zuversicht aus. Und das Schlimmste: Ich glaube, das Schicksal dieser Menschen ist mir gleichgültig.“
––Sie solle sich darüber keine Gedanken machen. So etwas gäbe es. Das sei ganz natürlich. Es gehe auch wieder vorbei. Am besten fahre sie jetzt nach Hause und nehme ein heißes Bad. Und dann müsse sie ein, zwei Wochen aussetzen mit der Seelsorge. Sie könne sicher sein, dann sehe sie alles wieder mit ganz anderen Augen.
––„Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.“ Sie stand auf.
––Ihre Kollegin sagte, sie werde ihr Telefon mit bedienen oder es einfach klingeln lassen.
––Sie nickte.
––Ihre Kollegin zögerte. Vielleicht irre sie sich, aber sie glaube, eine Veränderung an ihr bemerkt zu haben seit vorletztem Freitag. An den beiden Tagen, an denen sie sich seither wieder gesehen hätten, sei sie schon nicht mehr wie früher gewesen. Wenn sie ganz ehrlich sein solle: Sie habe den Verdacht, die kurzen Gespräche damals seien keine falschen Verbindungen, sondern anonyme Anrufe gewesen. Aber falls es ihr unangenehm sei, darüber zu sprechen, habe sie natürlich volles Verständnis.
––Ihre Hand griff nach der Tischplatte.
––„Sie haben recht. Es war wirklich ein anonymer Anruf. Ich wollte nicht darüber reden, weil es so … so schmutzig und ekelhaft war. Pornografisch.“ Sie schüttelte sich, als hätte sie eine schwere Last abzuwerfen. „Seither habe ich jedes Mal, wenn das Telefon läutet, Angst, dass es wieder dieser Mann ist.“
––Ihre Kollegin war nicht sonderlich beeindruckt. Den kenne sie. So etwas gäbe es eben, man dürfe es sich nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Sie habe ihn auch schon in der Leitung gehabt. Ihre frühere Kollegin habe er sogar eine ganze Woche lang belästigt. Die sei einfach nicht energisch genug aufgetreten. Schließlich habe sie ihm gesagt, ihr Anschluss würde überwacht und er bekäme es mit der Polizei zu tun, wenn er noch einmal anriefe. Dann sei wieder Ruhe gewesen. Für ein paar Monate. Schallendes Gelächter sei übrigens auch ein gutes Mittel, falls man das zustande brächte. Während des letzten halben Jahres hätten sie jedenfalls Ruhe vor ihm gehabt. – Sie sähe aber wirklich schrecklich blass aus, sie müsse gleich ins Bett gehen. Was ihr persönlich immer sehr geholfen habe, sei …
––Ihr Telefon läutete.
––„Evangelische Telefonseelsorge. Guten Abend!“
Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Praisaeng (Obstkiste), rawf8 (Matratze), Victori_A (Kerzen), Asier Romero (Teenager), Anton Starikov (Schlafsack), Alexandr Bognat (Rucksack), 5m (Mann), Golubovy (zerbrochenes Glas), Tawin Mukdharakosa (Telefon im Abbinder)
Es ist ja völlig normal, dass die Jugend gegen die Elterngeneration rebelliert. Alles andere müsste einem Sorgen machen. Damals genau wie heute.
Andere Meinungen hatte ich manchmal. Rebelliert? Nein. Ich hatte Pech. Meine Eltern waren einfach nicht schlimm genug.
Ich glaube diese Rebellionen passieren auch gemeinschaftlich bzw. im Durchschnitt der Gesellschaft. Jeder einzelne hat da zum Glück seine eigenen Gedanken und setzt auch seine eigenen Schwerpunkte.
Wenn sich die Jugend (als Ganzes) einfach mit dem Status Quo abfinden würde und keine Träume für die Zukunft hätte, würde mich das jedenfalls erschrecken.
Träume kann man immer haben: Alb- oder Wunsch-. Ideen sind besser.
Ohne Ideen geht es nicht. Aber die kommen ja manchmal erst, wenn ein Traum vorausgegangen ist und sich ein klares Ziel formuliert hat.
Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass vieles, dass eigentlich eine recht klare und auch überzeugende Idee sein sollte, trotzdem nur Traum bleibt. Das politische Kalkül der Politiker kann einen ebenso erschrecken wie die Unvernunft und Unbelehrbarkeit der Menschen.
Es passiert ja schon einiges, aber eben langsamer als sich ein Mensch mit seiner begrenzten Lebensdauer wünscht,
Wer wie ein Tier behandelt wird, dem nützt eine Eheberatung wohl herzlich wenig. Da kann man nur die Koffer packen und so schnell wie möglich ausziehen.
Heute haben Frauen eine Ausbildung und sind selbstständiger. Trotzdem. Manche Menschen ertragen Demütigungen eher als eine Freiheit ohne Perspektive.
Dass dieser Schritt schwierig sein kann verstehe ich auch. Allerdings öffnen sich die Perspektiven auch selten solange man in so einer vergifteten Beziehung lebt.
Für viele kommt da wohl einfach die Angst alleine zu sein in den Weg.Und nicht zuletzt ist man ja meistens auch in den Partner, der einen schlecht behandelt, verliebt.
Nicht loslassen zu können oder zu wollen, ist schlimmer als eine ungewisse Zukunft. Aber im Alter?
Was wohl erschütternder ist? Dass man von einem anonymen Anrufer sexuell belästigt wird, dass man Lust daran empfindet, oder dass man feststellen muss nur eine Gesprächspartnerin von vielen zu sein?
Dann bleibt es wohl belanglos.
Bzw. wird es auf einen Schlag wieder.
Das heisst man kann davon ausgehen, dass die Verkäuferin / Seelsorgerin sich einen neuen Weg suchen wird um Sinn in ihrem Leben zu finden. Der Anrufer kann die Lösung dann ja nicht sein.
Finden oder sich abfinden, das ist die Frage.
Das ist bestimmt auch eine Frages des Charakters. Die einen können die Dinge so akzeptieren wie sie sind, die anderen sind durchweg auf der Suche nach Alternativen und Neuem.
Die Welt braucht beides. Die Suchenden sind unterhaltsamen,
glücklicher nicht unbedingt.
Manchmal muss man auch einfach zwischen beidem hin und her wechseln. Vielleicht sucht man eine Weile nach Neuem um dann festzustellen, dass man sich doch mit dem Bekannten arrangieren kann.
Gleichgültig dürfen einem die Menschen natürlich nicht sein. Aber persönlich zu Herzen nehmen darf man sich die Schicksale ebenso wenig, sonst geht man kaputt.
Wie diese Mischung funktionieren soll, Einfühlungsvermögen trotz nötigem Abstand, bleibt mir immer ein kleines Rätsel. Gut, dass es Menschen gibt, denen Berufe dieser Art leichter fallen.
Ich kann auch nur Gleichgültigkeit oder Betroffensein. Aber stimmt das? Bei der Unwetterkatastrophe in Westdeutschland trifft doch beides nicht zu.
Ich finde so etwas wie die Flutkatastrophe, also im Grunde materielle Probleme, etwas einfacher zu handhaben. Also nicht für die Betroffenen natürlich, um Gottes Willen. Ich meine lediglich als Zuhörer und Helfer. Die emotionalen Zustände sind einfach etwas klarer zu fassen, als wenn jemand Drogenabhängig ist oder in einer Beziehung geschlagen wird.
Auf Schläge reagiere ich extrem empfindlich, aber ich würde lieber mal geschlagen als mein Haus mit allem darin zu verlieren.
Teilweise gab es Berichte von Menschen, die gerade mit dem Hausbau fertig waren. Und nun ist alles futsch und die Versicherung greift noch nicht. Was für ein emotionales Drama!
Da ist man doch froh, in einem reichen Land zu leben, in dem Staat und Mitbürger zumindest finanziell helfen können.
Ohne Frage! Man vergisst viel zu schnell, wie gut es uns hier geht. Viele unserer Probleme sind tatsächlich Probleme von Privilegierten.
Ich habe das Gefühl, die Hauptfigur der Erzählung kümmert sich ja auch zum Teil um die Probleme anderer Menschen, damit sie sich weniger mit den eigenen auseinandersetzen muss. Jedenfalls ist mir das so ein relativ bekanntes Verhaltensmuster.
Das kenne ich in der Art auch. Aber die Verkäuferin beschäftigt sich ja sogar relativ viel mit sich selbst und ihrer Situation. Sie hat zwar noch keinen Ausweg gefunden, aber die Probleme sind ihr ja eigentlich bewusst.
Sie würde sich aber sicher nicht gern als Verkäuferin bezeichnen lassen. Bei diesem Wort dächte sie eher an Süßwaren oder Strumpfhosen als an eine Rokoko-Kommode für 20.000€
Aber Antiquitätenhändlerin ist sie ja doch nicht so richtig…
Kundenberaterin in Kunstfragen…
So wie der Vater am Telefon redet, hat man das Gefühl, dass das Problem nicht beim Sohn liegt.
In alles, was man hört, schleichen sich ja eigene Erfahrungen oder zumindest Ansichten ein.
In der Tat. Schwarz-weiße Wahrheiten sind ja überaus rar.
Schwarz-weiß ist nichts, grau auch nicht. Aber irgendwann muss man eine Entscheidung treffen, und die darf auch nicht kunterbunt sein.
Da zahlt es sich aus, wenn man weder zu überstürzt noch zu zögerlich ist, sondern einen klaren Kopf behält. Einfacher gesagt, als manchmal getan.