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04 – Beelzebub und der Teufel

#11 | Auf der Kippe

Martin streifte das überschüssige Wasser von den Fotos und legte sie zwischen Fließpapier zum Trocknen.

Robert stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit dem riesigen, flauschigen Handtuch ab, ein Weiß wie von einem Brautkleid.
––Das Essen wird so ungefähr bis zehn dauern und danach sitzen wir wahrscheinlich noch etwa eine Stunde zusammen. – Gut! Genau die richtige Zeit! Er zog sich an, abendlich gedeckte Farben, fuhr mit der Hand durch seine nur noch leicht feuchten Haare, rückte vorm Spiegel den Krawattenknoten zurecht, zupfte am rechten Hemdsärmel, damit der Manschettenknopf aus Mondstein besser zur Geltung kam, und verrieb Eau de Toilette erst in seinen Händen, dann in seinem Gesicht. Er sah auf die Uhr: fünf Minuten vor der Zeit, also Zeit. Er schaltete das Radio aus – nie Fernsehen im Hotel; das machen bloß Vertreter –, steckte das schwere Feuerzeug ein, das zusammengefaltete Storyboard, die Zigaretten, wie immer ein sauberes Taschentuch und fuhr, pünktlich, auch wie immer, mit dem Fahrstuhl hinunter zur Halle.

Martin starrte wieder auf das Plakat. Sich hineinsteigern, bis es wahr wird. Sein Blick krabbelte geschäftig wie ein Käfer vom Gesicht hinunter in die Hose und wieder hinauf. Ein Kreisen. Äußerlich, innerlich. Ihm war, als setzte die Dämmerung ein. Die Straße wurde stiller. Sein Blick krabbelte instinktsicher vom Schoß hinauf und wieder herunter. Da saßen sie beide im Schneidersitz, mit verschränkten Beinen und sahen einander unverwandt an. Zwischen ihnen entstand eine Spannung, eine Zärtlichkeit. Fast war es, als hätten sie einander greifen und umarmen können, fast. Martin riss den Kopf herum. Auf dem Boden lag der Handzettel, er hatte den Papierkorb knapp verfehlt, und so hatte Martin ihn zur Strafe neben seinem Bestimmungsort liegen gelassen.
––‚Die HAB ist eine homosexuelle Emanzipations- und Aktionsgruppe, in der es verschiedene kontinuierliche Arbeitsgruppen gibt:
– Wehrt-Euch-Gruppe, die sich mit vielen Aspekten der Schwulenunterdrückung beschäftigt,
– Kulturgruppe, die sich ein Repertoire von Songs, Sketchen usw. erarbeitet, auch für Straßentheater,
– KC-Gruppe, die ein Kommunikationszentrum aufbauen will,
– Rosa Hilfe, die sehr vielfältige Aktivitäten entfaltet und sich besonders um schwule Problemfälle kümmert,
– Berufstätigengruppe, die sich mit dem Thema ‚Schwulsein am Arbeitsplatz‘ befasst.
– Nusskuchen-Gruppe, die im persönlichen kleinen Rahmen bestimmte Themen bespricht.‘

Robert und Bielendorf saßen einander gegenüber – im ‚Grill‘. Hier war alles noch viel gedämpfter: die Beleuchtung, die Beschallung und die Unterhaltungen. Die Stimmen der Kellner waren etwas tiefer als im ‚Restaurant‘ und die Preise etwas höher. Aber es ging ja ohnehin so gut wie alles auf Geschäftskosten, auch wenn es eigentlich privat war. Die beiden Herren hatten bereits gewählt. Selbst die Kerzenflamme zwischen ihnen wurde durch einen silbrigen Schirm abgemildert.
––Der Ober hob mit behutsam-flinkem Griff die Sherry-Gläser vom Tischtuch und stellte die etwas gekünstelt angerichteten Vorspeisen vor sie hin: Serviervorschlag. – Ein Piccolo kam mit der Weinflasche. – Er hielt die Flasche etwas vage in halber Höhe, das Etikett nach oben, damit beide es begutachten konnten, denn er wusste nicht, wer von beiden Männern der Gastgeber war. Beide nickten unbeteiligt, und so wusste er genauso wenig, wem er den ersten Schluck zum Verkosten eingießen sollte.

Martin hatte sich aufs Bett geworfen. Hose und Unterhose waren bis zur Kniekehle runtergestreift. Die rechte Hand lag auf dem rechten Rippenbogen, der linke Zeigefinger kreiste im Bauchnabel. Durch die Bewegungen seiner Finger übte er einen unterschiedlich starken Druck aus, der als Reiz fühlbar wurde und so auf ganz mechanische Weise Lust erzeugte. In seiner Fantasie verschwammen der Mann von der Hochzeit und der auf dem Plakat miteinander. Sie hatten, so wie er sie sah, eine gewisse Ähnlichkeit. Beide waren gängige Typen von Frisur und Bart her. Im Gesicht des einen steckte mehr Charakter, dafür war der andere größer, bunt und von Kopf bis Fuß zu sehen. Bei allem, was man sowieso nicht hat, muss man die Vorteile nüchtern abwägen. Martin merkte, dass er seinen Körper mit ein, zwei Griffen zum Höhepunkt bringen könnte, je länger er sich auf den Mischmann konzentrierte, den Kopf, die Schenkel. Aber er wollte nicht. Er wollte sich nur hochkitzeln. Bis zu einem Schwebezustand, der gefährlich war, weil eine unvorsichtige Bewegung schon zu viel sein konnte: Dann kam unweigerlich der leidige Orgasmus – und dann die Ernüchterung. Und dann könnte er gleich zu Hause bleiben. Aber das wollte er nicht. Nicht heute Abend.
––‚Zum einen suchen wir ein gemeinsames Dach für die verschiedenen Gruppenaktivitäten, zum anderen soll einmal monatlich ein HAB-Plenum veranstaltet werden, auf dem eine Übersicht über die laufenden Arbeiten und weitere Initiativen besprochen wird – und einmal im Monat eine Fete. Weitere mögliche Aktivitäten:
– eine Gruppe für ältere Schwule,
– eine Theoriegruppe,
– eine Coming-out-Gruppe,
– Selbsterfahrungsgruppen,
– eine Film-und-Foto-Gruppe,
– eine Bastel-und-Nähgruppe,
– eine Plakatgruppe und anderes mehr.‘

Robert schnitt ein Stück von dem Kalbsrücken-Steak ab und schob etwas Morchelrahmsoße auf das Fleisch, bevor er die Gabel zum Mund führte. Er kaute und nickte, während Bielendorf redete. Dann nahm Bielendorf einen Bissen und nickte, während Robert redete. Sie hörten sich selbst und ihrem Partner aufmerksam zu und fanden, dass alles, was der andere sagte, ebenso schlüssig war wie das, was sie selbst zu sagen hatten, nur vielleicht nicht ganz so gut formuliert. Wenn einer sich von seinem Wortrausch etwas länger tragen ließ, hatte der andere Gelegenheit, zwischendurch einen Schluck Wein zu trinken, um anschließend, beflügelt, selbst ein wenig ausgiebiger zu sprechen, während der Vorredner nun seinerseits, eifrig nickend, zum Glas griff. Sie waren schon vor dem Dessert einig geworden und jeder war glücklich, den anderen überzeugt zu haben.

Martin lag nackt in der leeren Badewanne, die Beine über dem Kopf, und starrte auf den Rest von sich. Dann stand er auf und legte sich flach auf die Holzbohlen. Was ließ sich noch machen? Mit einem Gürtel? Einem Olivenglas? Einer Kerze? Er befand sich inzwischen in einem Zustand nüchterner Raserei. Etwa so wie jemand, der sich gerade entschlossen hat, eine Abmagerungskur abzubrechen, und nun alles in sich hineinfrisst, was der Kühlschrank hergibt. Er zog, drückte und presste. Alles in Ordnung, solange ich nicht losballere. Er balancierte eine Weile am Orgasmus entlang, auf der Kippe. Aber es war nur noch ein Reiz und kein Rausch mehr. Überdreht. Er brauchte eine neue Stimulanz für seine Fantasie. Da unten lief alles nur noch automatisch. Es wurde sowieso Zeit, sich zurechtzumachen für den Abend.
––‚Für das Schwulenzentrum brauchen wir einen gut funktionierenden Organisationstrupp. Vor allem brauchen wir noch sehr viel Geld, um einigermaßen angemessene Räume finanzieren zu können und auch, um einzelne Aktivitäten der Gruppe finanziell zu unterstützen. Zurzeit finanziert der Verein zur Förderung der HAB e. V. über Mitgliederbeiträge die bisherigen Aktivitäten. Für größere Räume brauchen wir aber sehr viel mehr Geld. Deshalb rufen wir alle Interessenten auf:

S P E N D E T

auf das Konto des Vereins zur Förderung der HAB e. V. Über einmalige Spenden freuen wir uns, monatliche Spenden helfen uns natürlich zuverlässiger. Das kann über Dauerauftrag laufen oder noch besser mit beiliegender Lastschrift-Einzugsermächtigung.‘
––Martin ließ das Flugblatt los und es segelte, die Schrift auf dem Kopf, in den Papierkorb. Bei wie viel Nettoeinkommen im Monat würde er sich wohl zu einer Lastschrift-Einzugsermächtigung entschließen, um Nusskuchen-Gruppen und Selbsterfahrungsgruppen älterer Schwuler zu ermöglichen helfen? – Martin suchte nicht lange nach einer Antwort, aber schon etwas intensiver nach Geldscheinen und dem Personalausweis zwischen den Papieren auf seinem Schreibtisch: Wenn man umgefahren wird oder in eine Razzia gerät, ist es doch besser, wenn man sich ausweisen kann. ‚Gesäßtasche‘, dachte Martin, während er den Ausweis einsteckte; Papiergeld in die linke Seitentasche, Münzen in die rechte und den Nothunderter in den Strumpf. Der Spiegel im Flur zeigte noch das gleiche Gesicht wie das Foto im Ausweis. Beim Führerschein hätte man das nicht mehr sagen können, aber den brauchte er ja jetzt nicht. Nur die Hausschlüssel und seine eigene Aufgeschlossenheit brauchte er: Schlüssel, Geld, Ausweis – alles da. Er schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
––Schon im Treppenhaus war es anders. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man Einkaufen geht oder auf die Jagd. Ob man sich etwas verpacken lässt oder selbst jemanden einwickeln will. Wie die Finger am Geländer entlanggleiten, die Sohlen über die Stufen federn! Der Körper ist leichter, der Kopf noch nicht: erwartungsschwer. Der Kohlgeruch im Korridor stört überhaupt nicht, die Kühle auf der Straße stört erst recht nicht. Etwas Sieghaftes weht in der Luft. Nach der Einsamkeit des Zimmers ist das die Welt – ihrem Eroberer zu Füßen. Der Bus kommt auch gleich. Mein Gott, ich hab’ gar nichts gegessen! Umso besser, dann wirkt der Alkohol schneller, und auch der Kopf wird leicht.

Hanno Rinke Rundbrief

37 Kommentare zu “#11 | Auf der Kippe

  1. Kohlgeruch im Treppenhaus erinnert mich an meine Nachbarn in Recklinghausen vor vielen Jahren. Da war der Geruch allerdings wirklich furchtbar.

  2. Dass Organisationen, die sich um schwule Problemfälle kümmern Namen wie ‚Rosa Hilfe‘ haben, hat mich als Jugendlicher immer davon abgehalten mit solchen Orten in Kontakt zu treten.

      1. Der Kurs sollte sich vielleicht auch eher an ignorante Mitarbeiter richten. Nicht an die Betroffenen selbst. Die haben ja selten ein Problem damit.

      2. Ich wollte schon sagen … sich in einem problematischen / ignoranten / feindlichen Umfeld zu bewegen bringt ja allein schon Probleme mit sich. Da kann man kaum problemlos durch navigieren.

  3. Gerade weil ’sich hineinsteigern, bis es wahr wird‘ so gut funktioniert, sind diese Internet-Algorithmen so teuflisch. Da kriegt man ja dann auch die immer selben Gedanken vorgesetzt, bis man irgendwann völlig in eine Idee hineingesteigert ist.

    1. Ds ist man meistens ja auch vorher schon. Aber es hilft natürlich sich immer im selben Dunstkreis zu bewegen.

    2. Ich habe ja das Gefühl, wer grundsätzlich seine Neugier behält, der lässt sich auch von vorgesetzten Nachrichtenartikeln nicht übermäßig beeinflussen. Aber vielleicht ist das zu naiv gedacht.

      1. Das Optimum. Allerdings entwickelt sich das Urteilsvermögen meistens auch nur wenn vorher genügend Neugier vorhanden war.

  4. Ich finde ja ehrlich gesagt weder Radio noch Fernsehen im Hotel angebracht. Also zuhause eigentlich auch nicht. Beides langweilt mich mittlerweile ziemlich.

      1. Dafür gibt es ja auch noch Zeitungen und das Internet. Aber grundsätzlich kann doch jeder hören und schauen wo er Lust drauf hat. Wer gern fernsieht, dem kann man doch die Freude lassen. Hotel oder nicht.

  5. Solche Gespräch (Robert / Bielendorf), wo sich jeder gegenseitig überzeugt, sind zwar äußerst selten, aber dafür sooo befriedigend.

    1. Ich halte mich mit meiner Meinung noch zurück bis wir am Ende der Erzählung angekommen sind 😉

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