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04 – Beelzebub und der Teufel

#15 | Ziemlich christlich

Sie tranken einen Schluck Bier, gleichzeitig, ohne dass der eine es dem anderen vor- oder nachgemacht hätte. Sie hatten keinen Durst, beide nicht.
––‚Er mag mich‘, dachte Martin, ‚aber das macht mich nicht froh, sondern unsicher. Weil er meine Eitelkeit befriedigt, oder weil ich ihn nicht enttäuschen will?‘ – Mein Gott, was an mir ist noch spontan? Ich habe mehr übrig für die Ernsten als für die Unbekümmerten, aber nicht, weil ich selber so vergrübelt bin, sondern bloß, weil ich sie aufregender finde, aufregender anzusehen.

Der Junge sah ihn prüfend an. Er fragte sich wohl auch, wie es weitergehen sollte. Jetzt dehnte sich sein Mund und er lachte auf, strahlend verlegen. Verliebt? Alles kann so schnell umkippen von Spaß in Entsetzen. Und dann werden aus den im Jubel erstarrten Gesichtern der Reklamebilder eingefrorene Fratzen, verdammt dazu, den Schrei zu unterdrücken und weiterzujubeln. – „Wie bist du an den Auftrag gekommen, auf der Hochzeit zu fotografieren?“
––„Mein Bruder ist ein guter Freund von Andreas.“
––„Welcher Andreas?“
––„Der Mann deiner Schwester.“
––„Ach so, ja. Natürlich.“
––„Du hast wohl kein sehr enges Familienleben?“
––„Nicht mehr seit ich in München wohne. Außerdem gibt es noch zwei Andreasse in meinem Freundeskreis, eine Zeit lang fiel den meisten Eltern wohl kein anderer Name mehr ein.“
––„Und wenn du hier bist, wohnst du dann bei deinen Eltern?“ – ‚Warum frage ich das?‘, dachte Martin.
––„Nein, nicht immer. Zurzeit wohne ich im Hotel. Das ist bequemer.“ – Ob er mitkommen würde ins Hotel? Würde ich mitgehen in seine Wohnung? – Angst vor der Schnelligkeit. Angst vor der gedankenlosen Routine, jemanden kurz und zärtlich zu verschleißen, der für eine qualvolle Ewigkeit bestimmt ist. – „Und du? Lebst du allein?“
––„Ja. Ich bin vor zwei Jahren bei meinen Eltern ausgezogen. Ich konnte das nicht mehr. Einerseits wollte ich ihnen nichts vormachen, auf der anderen Seite hätte ich nicht mit ihnen zusammenleben können, wenn sie gewusst hätten, dass ich schwul bin. Diese Mischung aus Sorge und Mitleid …“
––„Empfindest du ’s so?“
––„So empfinde ich es nicht nur. So ist es. Aus der Entfernung lässt sich das eher ertragen. Als ich dann weg war von zu Hause, hab’ ich es meiner Mutter irgendwie beigebracht. Schonend, wie eine Todesbotschaft: Gerade ist deine Schwiegertochter gestorben.“
––Martin lächelte schmerzhaft. – Es tat noch weh.
––„Erst hat sie geheult, dann hat sie gesagt, sie hätte sich sowieso schon so was gedacht, und zum Schluss hat sie gesagt: ‚Hauptsache, du wirst nicht unglücklich.‘ – Als ob man als Hetero immer glücklich wäre. Na ja, ganz rührend, eigentlich, aber schwer zu ertragen. Dann hat sie noch gesagt, ‚ich hab’ ja nichts dagegen, aber dir entgeht so viel.‘ Das hat mich richtig geärgert. Als ob es nur auf die Geschlechtsteile ankäme. Zärtlichkeit ist Zärtlichkeit!“
––„Und Lust ist Lust.“
––„Auch das. Und das hängt nicht ab von Brüsten oder, äh, Schleimhäuten. Nur von Empfindungen und von der Art, wie man zueinander ist.“
––„Du musst mich nicht überzeugen! Ich bin schon schwul. Und rechtfertigen musst du dich auch nicht.“
––„Tut mir leid. Aber das macht mich immer wütend. Wer keinen Schnaps mag oder keine Zigaretten oder keine Männer, dem entgeht auch viel, aber keiner jammert darüber.“
––Robert gefiel der Eifer des Jungen, und so blieb er ernst.
––„Na ja, irgendwie hat meine Mutter sich damit abgefunden. Später hat sie’s dann meinem Vater gesteckt. Der muss wohl ziemlich ausgerastet sein. Am Telefon hat er losgepöbelt. Ich hab’ gleich aufgelegt. Aber ich kam mir so schmutzig vor. Danach bin ich zum ersten Mal auf eine Klappe gegangen. Ein tristes Erlebnis. Ich war ein halbes Jahr lang nicht mehr zu Hause. Eines Tages rief mein Vater dann in der Wohngemeinschaft an, in der ich damals lebte, und sagte, ich soll doch wieder mal kommen. Muss ihn das Überwindung gekostet haben! Wir waren zu fünft in der Wohnung: drei Männer und zwei Frauen. Als er anrief, war gerade eine der Frauen am Telefon. Da hat er dann gleich neue Hoffnung geschöpft. Wer das denn gewesen sei … – Die sind alle irgendwie so fixiert. Ich weiß nicht, ist das eine Generationsfrage? Meinem Bruder war das ganz egal. Der hat nur ‚Na und?‘ gesagt. Aber dem ist sowieso alles egal.“
––Robert war es, als müsse er den Ernst des Jungen schützen. Der Ernst geht schneller verloren als das Lachen. „Sei nachsichtig mit ihnen! Unsere Eltern haben es wirklich schwer mit uns. Und wir mit ihnen. Zigeunerkinder kommen wenigstens aus Zigeunerfamilien und Juden aus jüdischen. Aber wir fallen da mehr oder minder durchschnittlichen Eltern ins Nest, als Kuckuckseier. Oder wenn das schöner klingt: als schwuler Schwan unter die Enten. Ratlosigkeit auf beiden Seiten. Da muss man sich dann eben seine eigene Zugehörigkeit suchen. Aber das muss man sowieso. Schwulsein ist da nur eine schmerzliche Hilfe.“ Robert holte mit einem Griff seine Zigaretten aus der Tasche. Er brauchte nie an sich rumzukramen, er wusste immer, wohin er was gesteckt hatte. „Rauchst du?“
––Martin schüttelte den Kopf.
––Robert zündete ein Streichholz an.
––„Und wie geht es bei dir?“, fragte Martin.
––Robert zuckte die Achseln. „Ich kann mich eigentlich nicht beklagen. Meine Eltern sind sehr umgänglich. Konservativ wie die meisten, die es aus eigener Kraft zu was gebracht haben. Der Glaube daran, dass es die eigene Kraft war, ist wohl das Konservative dabei. Sie sehen mein Leben trotzdem ziemlich nüchtern. Inzwischen ist das natürlich kein Thema mehr zwischen uns. Aber früher – ich hatte immer das Gefühl, wenn ich mit einem Prinzen gekommen wäre, hätte meine Mutter einen Hofknicks gemacht, und wäre ich mit einem Stricher gekommen, hätte sie mich verstoßen. Ich habe beides nicht gemacht – und beides gehabt.“ Robert sog an seiner Zigarette. „Ich habe immer noch ein vertrautes Verhältnis zu meinen Eltern, wenn Vertrauen heißt: nicht wissen und trotzdem sicher sein.“
––„Du hast es viel einfacher gehabt, mit solchen Eltern“, sagte Martin.
––Robert schnippte die Asche auf den Fußboden. „Ich weiß nicht, ob irgendjemand es einfach hat, ich glaube nicht. – Das klingt furchtbar belehrend, was?“
––Martin stimmte nicht zu und widersprach nicht.
––Robert sprach weiter: „Sicher ist es angenehm, bei liberalen Eltern im Wohlstand aufzuwachsen, nur merkt man das ja nicht, weil man es für selbstverständlich hält. Vergleiche stellt man erst später an. Na ja, eine Start-Erleichterung ist es trotzdem, das stimmt schon. Aber überschätzen darf man es auch nicht. Erstens lernt man weniger gut, sich durchzusetzen und außerdem … Unsere Eltern haben uns nur beigebracht, das Leben zu genießen, nicht, es zu ertragen. Meine Schwestern sind dementsprechend geworden. Glatt und glücklich. Nichts dagegen zu sagen. Sie genieren sich etwas, meinetwegen, immer noch. Sonst haben sie wenige Probleme. Vielleicht misslingt mal eine Soße oder sie streiten sich darüber, ob eine Opernkritik gerechtfertigt war, wie gesagt, einfach hat es niemand … Sie halten engen Kontakt untereinander. So wie sie wäre ich auch geworden. Wäre eigentlich gar nicht so schlimm, aber ich denke trotzdem, ich muss Gott auf Knien danken, dass er mir ihr Los erspart hat und mich geschaffen hat, wie ich bin.“

‚Herr Pfarrer, dafür Ihnen ganz besonders herzlichen Dank!‘

„Ihr seid ziemlich, äh, christlich, nicht?“, fragte Martin.
––„Ja, meine Familie, ja. Das gehört doch fast dazu, wenn man konservativ ist. Im besten Einvernehmen mit allen Institutionen.“ Robert ließ die Kippe fallen und zertrat sie. „Ich bin eben so eine Art Missgeburt aus Christentum und Kapitalismus.“
––„Eine Missgeburt? Warum eine Missgeburt?“
––„Homosexualität ist eine Abweichung von der Schöpfungsordnung, ein seelischer Defekt. Das sagt – wörtlich! – die christliche Soziologie. Das steht mit anderen Worten schon in der Bibel.“ Robert lächelte und er beendete sein Lächeln, indem er die Flasche an die Lippen setzte.
––Will er etwas herunterspülen oder sich Mut machen oder ist er so gelassen, wie er scheint? – Martin versuchte, in dem Gesicht zu lesen. Er hatte den ganzen Tag über kaum etwas anderes getan. Ein Archäologe beim Entziffern verschlüsselter Inschriften. „Und du selbst“, fragte Martin, „woran glaubst du?“
––Robert warf ihm einen spöttischen Blick direkt in die Augen. „Ich bin hier schon auf alle möglichen Touren angesprochen worden. Aber wie ich’s mit der Religion halte, wollte bisher noch keiner wissen. Schläfst du nur mit Protestanten?“
––Martin senkte den Kopf. Vielleicht war diese Abwehrreaktion gegen alles oberhalb der Gürtellinie hier üblich. Kaltschnäuzigkeit? Verlegenheit?
––Robert spürte, dass er den Jungen getroffen hatte, und das machte ihn selbst betroffen. „Früher war ich sogar sehr religiös“, sagte er. „Irgendeine perverse Leidenschaft hatte ich eben immer schon. Damals war’s die Kirche. Meine ganze Kindheit habe ich mir versaut mit meiner Angst vor Sünde und Hölle. Die göttliche Ordnung! Aufgebaut auf Drohungen, wie jede Ordnung. Alle Regeln wollte ich befolgen. Der Beste wollte ich sein, auch immer schon. Und das hieß damals für mich: der Frömmste. Komisch. Der Allerangepassteste wird schließlich doch wieder zum Außenseiter. Und Außenseiter sind eben Gift für jede Ordnung.“ Er zeigte mit dem Kopf zur Tür. „Da draußen stören sich viele noch immer an den harmlosen, superangepassten Schwulen, und hier drinnen würde jeder stören, der sich selbst für sexuellen Durchschnitt hält. Falls das jemand tut.“
––‚Pfiffig!‘, dachte Martin.
––Robert trank einen Schluck.
––„Und jetzt?“, fragte Martin.
––„Was ‚jetzt‘?“
––„Ich meine, glaubst du jetzt noch an all das?“
––Robert sah Martin fest an: „Ich glaube, dass es das alles gibt: Gott und Teufel, Himmel und Hölle. Alles in uns selbst. Alles in diesem Leben, alles, sogar hier in dieser Kneipe.“
––‚Ist das wirklich seine Religion?‘, dachte Martin. – Ob das ausreicht, um weitermachen zu können? Er sah auf die Wände, die Bilder. – Immerhin ist es mehr, als ich glaube. Oder nicht?

Hanno Rinke Rundbrief

35 Kommentare zu “#15 | Ziemlich christlich

  1. Kann man jemanden verschließen? Oder wissen dass eine Person für die Ewigkeit bestimmt ist? Das klingt schon im Ansatz nach einem bösen Ende.

      1. Ich habe ja eigentlich das Gefühl, dass man das Tempo gar nicht immer wirklich bestimmen kann. Wenn es einen überkommt, dann überkommt es einen.

      2. Kommt wohl auch wieder mal darauf an, wie die eigenen Erwartungen ausfallen und was man überhaupt unter verschleißen versteht…

  2. ‚Alles in uns selbst‘ ist hier wohl der entscheidende Satz. Jedenfalls wenn ich meinen persönlichen ‚Glauben‘ als Referenz nehme.

      1. Oder weil sie nicht wissen, wo/wie sie suchen sollen? Ihre Interpretation wäre ja ziemlich traurig.

  3. Sexuellen Durchschnitt klingt erstmal ziemlich öde. Aber ob es so etwas überhaupt gibt? So richtig sicher, bin ich ja nicht.

  4. Viele, die es aus eigener Kraft zu was gebracht haben, könnte man als konservativ einstufen. Das gilt auch heute noch würde ich sagen. Nur was ist dieses ‚etwas‘? Das meint ja dann meistens bereits ein konservatives berufliches oder persönliches Ziel.

    1. Ich kenne genauso viele Liberale, die es aus ‚konservativer‘ Sicht zu etwas gebracht haben. Den Zusammenhang sehe ich persönlich nicht.

      1. Stolz oder zerknirscht sein können Konservative, Progessive, Desinteressierte. Aber wer das, was er wollte, erreicht hat, neigt dazu, seinen Weg für allgemeingültig zu halten.

  5. Wer wirklich glaubt, der muss zwangsläufig auch der Frömmste sein wollen. Alles andere wäre ja nicht konsequent. Ausleben tun das bestimmt die wenigsten. Aber zumindest das Prinzip sollte doch so gelten.

    1. Ich glaube wenn man religiös ist, dann macht man seinen Glauben nur mit sich selbst und Gott aus. Was und wie die anderen glauben interessiert da nicht besonders.

      1. Nur ich und Gott – das ist protestantisch. Der Katholizismus will dringend die Kirche dazwischenschalten. Ohne Beiche und Kommunion klappt das auch mit der Erlösung nicht. Der Frömmste sein zu wollen, dieser Ehrgeiz ist Hochmut: die erste Todsünde. Ehrgeizlosigkeit, also Faulheit, ist die siebente Todsünde. Zu beichten gibt es also immer was.

      2. Ach ja, da haben Sie natürlich wieder recht. Jedes Extrem sollte natürlich vermieden werden. Das Mittelmaß ist immer ungefährlicher und leichter im Zaum zu halten.

  6. Das ist ja genau der Denkfehler: Wer keinen Schnaps mag oder keine Zigaretten oder keine Männer, dem entgeht eben gar nichts.

    1. Das würde ich auch so sehen. Man mag ja stattdessen möglicherweise Bier, CBD und Frauen. Oder noch irgendetwas anderes, das einem Freude bringt.

    2. Wer zufrieden ist, der vermisst selten was. Nur wer bereut oder zweifelt denkt, dass ihm etwas entgeht. Das dürfte bei sexueller Orientierung allerdings nicht wirklich eine Rolle spielen. Oder?

      1. Klar, man sucht in dem Moment ja ganz konkret. Aber eben auch nach genau dem, was man braucht. Wenn’s nicht funktioniert verpasst man zwar etwas, aber eben nicht das, was die besorgte Mutter meint.

      1. Keine Frage. Die Eltern wissen oft gar nicht, was sie ihren Kindern damit antun.

      2. Eltern möchten, dass ihre Kinder fühlen, wie sie selbst. Vielleicht möchten wir alle das. Anders fühlen ist schwerer zu akzeptieren als anders denken.

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