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04 – Beelzebub und der Teufel

#07 | Rohes Fleisch

Eine Therapieart, um Raucher von ihrer Gewohnheit abzubringen, ist die elektrische Aversionstherapie. Sie wird in einer Schriftenreihe des Bundesgesundheitsministeriums als „Bestrafung eines unerwünschten Verhaltens, bisher vor allem bei psychischen Abhängigkeiten und sexuellen Perversionen angewendet“, beschrieben. Eine andere aversive Technik ist die „negative Übung“: Hierbei wird der Klient in einen kleinen, gut abgedichteten Raum gesetzt, der mit warmer, rauchiger Luft gefüllt wird. Er muss dann eine Zigarette nach der anderen rauchen, „bis ihm mehr oder weniger schlecht wird, bis zum Erbrechen.“
––Robert legte den Artikel zur Seite. „Vielen Dank für die Anregung, Ruth.“
––„Gern geschehen. Ich denk’ doch immer an dich.“
––„Wenn’s geht, möcht’ ich jetzt zehn Minuten Ruhe haben. – Was gibt’s denn heute zu essen?“
––„Matjes. Schmeckt furchtbar.“
––Robert riss die Folie vom Aluminiumbehälter. Es roch nach Fisch. Er schnitt ein Stückchen ab, versteckte es unter einer Kartoffel und beförderte die Gabel tapfer zum Mund. Der durchdringende, salzige Geschmack machte ihm auf eine abwegige Art Spaß. Ihm war nach Männern. Wie immer. Er freute sich auf Berlin. „Ruth, kannst du noch mal die Sedcard von diesem Typen für die neue Direct-Mailing-Kampagne von ‚Deport‘ raufbringen?“
––„Ist er dein Geschmack?“
––„Das auch. Aber es geht im Augenblick mehr darum, dass Dieter was für den ‚Lotos‘-Spot braucht. Zarte, ‚Lotos‘-gepflegte Frauenhaut und eine harte Männerpranke. Ich hab’ versprochen, ihm zu helfen, und ich dachte, das wär’ was.“
––„Robert, du bist ein Lüstling. Schade, dass ich so wenig davon habe. – Isst du deinen Hering noch auf?“
––„Nein, ich krieg’ ja in Berlin noch was zwischen die Zähne. Du kannst das Zeug wegnehmen.“

Martin schielte zur anderen Straßenseite hinüber.
––Ein alter Mann mit Brille und Schirmmütze stand vor dem, was in Amtsdeutsch ‚öffentliche Bedürfnisanstalt‘ und unter Schwulen ‚Klappe‘ heißt. Vielleicht war es Zufall, dass er da stand, vielleicht hoffte er darauf, dass ein langbeiniger Junge sich an die Pissrinne stellen würde und womöglich sogar abtasten ließ, mit Blicken, mit zaghaft gekrümmten Fingern.
––‚Es muss schlimm sein, alt zu werden und es versäumt zu haben – ja, was eigentlich: jung zu sein, seinen Marktwert auszunutzen, bewundert, geküsst, gewollt zu werden? Und ob es das Alter tröstlicher macht, bewundert, geküsst und gewollt zu haben? – Wahrscheinlich nicht, gerade deshalb muss man es tun: jetzt. Aber je fester man es sich vornimmt, desto sicherer wird es misslingen. Dann kann man später sagen: Ich habe nichts zu bereuen. Ich habe nichts versäumt. – Ich habe nichts gemacht. – Der Kerl auf dem Zigarettenplakat bleibt mir erhalten. Auch wenn ich schlaffbäuchig und schrumpelpimmelig bin. Wohl dem, der dann noch onanieren kann …‘ Er ging am Zeitungskiosk vorbei. Abseits von ‚Spiegel‘ und ‚Stern‘ und ‚Bunte‘ hing, halb verdeckt, die ‚him‘: Ein unbedarfter Junge posierte in lächerlicher Gespreiztheit. ‚Das‘, denken ‚Spiegel‘-Leser, ‚finden Schwule geil.‘ Verführerisch wie ein Gullydeckel. Martin sah auf. Die Linde fing an zu blühen. Herrlicher Duft in der Nase, große Schweinerei auf den Autodächern. ‚Wenn ich erst mein eigenes Studio habe – so etwas würde ich nie machen: spillerige Schnösel für klebrige Magazine knipsen. – Warum eigentlich nicht? Wenn es besser gemacht, wenn es gut ist? Anregen, Freude machen, verkaufen. Gut sein? – Armer Junge! Für ein Taschengeld, und vielleicht noch stolz drauf. Armer Junge? – Armer Kerl auf der Zigarettenreklame! Armer ‚Schultheiß‘, arme ‚Fakt‘-Frau! Armes Afghanistan!‘

Er ging in den Gemüseladen. Eine Gurke, ein halbes Pfund Tomaten. ‚Erdbeeren? – Warum nicht! Der Juni hat nur vier Wochenenden.‘
––„Die sind ganz toll. Französische.“
––Ein Bund Radieschen, drei Zitronen.
––„Na, nun wird es richtig Sommer, was? Soll ich Ihnen eine Tüte geben? – So. Vielen Dank! Auf Wiedersehen!“
––Das normale Leben der Unnormalen verläuft ganz normal.
––Beim Fleischer. Ein paar Scheiben Wurst, ein Kotelett.
––„Mein bestes Stück. Zergeht auf der Zunge. Das können Sie fast roh essen. Haben Sie schon mal rohes Fleisch probiert?“ Er erwartete keine Antwort. „Es soll ja Menschen geben, die so was machen. In Afrika oder Asien.“ Er hüllte das Kotelett in Pergamentpapier ein. Der Knochen schimmerte durch die Verpackung. „Man isst ja auch Schabefleisch und Hackepeter. – Alles Geschmacksache und eine Frage der Gewohnheit. – So, bitte sehr! Sonst noch was?“
––Die Stufen hinunter zum Lebensmittelgeschäft, eines, das noch den Namen ‚Kolonialwarenladen‘ verdient. Humanes Einkaufen: dieselben Konserven und dieselben Gläser wie im Supermarkt: eingefüllt, abgepackt, etikettiert. ‚Kühne‘, ‚Oetker‘, ‚Bassermann‘. Trotzdem.
––„Ich gebe Ihnen lieber von dem hier, da haben Sie mehr von. Zwanzig Gramm drüber?“
––„Nehmen Sie sich selbst weg! Suchen Sie sich die Schönsten aus!“
––„Haben Sie dreißig Pfennig klein? – Prima! Und arbeiten Sie nicht mehr so viel! Sie können’s sich doch einteilen. Gehen Sie etwas in die Sonne! Sie sehen blass aus heute. Auf der Flasche ist Pfand, das wissen Sie, nicht? Also, danke, Wiedersehen! Und schöne Pfingsten!“

Auf der Straße. Im Juni. Martin machte große Schritte. ‚Jede der rechteckigen Steinplatten nur einmal berühren. Diese mit dem rechten Fuß, die nächste mit dem linken. Zu beiden Seiten die kleinen, graublauen Pflastersteine, bis an die Hauswand, bis an den Bordstein. Berlin. Mehr Bürgersteig als Gehweg, eine Allee von Kastanien und Altbaufassaden, der Stuck abgeschlagen, früher, oder renoviert, kürzlich. Renovieren ist moderner als Neu-Bauen. Und teurer. Wer reich ist, kann sich Tradition leisten. Die Hausmarke, in Jahren gereift. Wer arm ist, lässt sich das gewisse Etwas einreden – beim Schokoriegel und beim Schaumwein. Champagner kommt ohne etwas aus. Alles Geschmacksache und eine Frage der Gewohnheit, an Bouletten kann man sich gewöhnen, an Gänseleber auch. Bitte sehr, zwanzig Gramm mehr. Sonst noch was? – Liebenswerte Menschen, die vielleicht entsetzt wären, wenn sie wüssten, wie ich wirklich bin. Verständnislos. Achselzucken? Schwanz ab? Rübe ab?‘
––Im Januar lief die amerikanische Holocaust-Serie. Alle waren erschüttert. Beim Sex ist das was anderes. Dass man Jude ist, dafür kann man nichts. Aber was man mit einem Trieb macht, das hat man zu beherrschen, denken sie.
––‚Ich kann mich ihnen nicht zumuten: Rücksichtnahme und Selbsterhaltungstrieb. Ich verstelle mich kaum, aber ich spare mich auf. Ich spare mich auf, für mich selbst, für heute Abend. Sie können mich nicht verstehen, sie brauchen mich nicht zu verstehen. Und ich werde ohne ihr Verständnis auskommen.‘ Gleichgültig, trotzig, hochmütig. Er war vor seinem Haus angekommen.
––Der Kerl auf dem Plakat saß noch genauso verheißungsvoll auf seinem Platz wie vorher. Die Ungerührtheit hatte etwas Aufreizendes. Und auch etwas Beruhigendes: Bis der Plakatkleber kam, würde er mit derselben Bereitwilligkeit Tag und Nacht im Gras hocken und – durch nichts schockierbar – seinen Blick in Martins Fenster rahmen.
––Ein leichtes Ziehen in den Hoden stieg aufwärts und nistete sich im Bauch ein. Martin nahm die Treppe hastiger, leicht gebückt vom Krampf. Er versuchte sich nach innen zu saugen, schloss mit größtmöglicher Konzentration die Tür auf, ließ die Tüten im Flur fallen und stürzte ins Bad. Als er das Fenster öffnete, sah er ein Türkenkind im Hof. Es saß in der Hocke und malte Kreise auf den Boden. ‚Nicht besser, nicht schlechter: anders als ihr.‘ Er ging ins Zimmer, mit nassen Händen, durchs offene Fenster und grüßte das Plakat. ‚Qualen und Lüste, von denen ihr nie wissen werdet.
Anders als ihr, mehr so wie die Rohfleischesser in Asien oder Afrika. Und doch wie ihr: Die eigene Verdauung liegt mir näher als Kreuzberg und Afghanistan.‘ Er ging zurück auf den Flur, griff die Tüten und brachte sie in die Küche.

Hanno Rinke Rundbrief

32 Kommentare zu “#07 | Rohes Fleisch

  1. Altes wieder herzurichten ist oft so viel schöner. Ob es modern ist wechselt hin und her. Aber teuer, ja das ist es leider auch.

    1. Der Sozialismus hat architektonisch nichts Herausragendes geschaffen. Immerhin wurde der Berliner Fernsehturm zum Wahrzeichen. Aber auch im Westen gefällt uns heute kaum noch etwas aus den 1960er Jahren, mir nicht mal die Neue Nationalgalerie.

      1. Aber Herr Rinke! Dabei ist van der Rohe doch wirklich einer der herausragendsten Architekten gewesen. Was stört sie an der Berliner Nationalgalerie?

      2. Immerhin ein Museum mit Charakter und keines dieser immer gleichen Neubauten. Aber alles ist natürlich Geschmacksache.

      3. Nichts stört mich, nichts begeistert mich. Ich geh halt zum Bilder-Ankucken nicht gern in den Keller. Dass Maria Ludwig Mies ein Nazi-Freund war, ist mir egal. Ich beurteile Werke nicht nach der Ideologie ihrer Schöpfer.

  2. Die negative Übung erinnert mich stark an Clockwork Orange. Kontrollierte Überdosierung bis zum Übelwerden.

  3. Wo der Unterschied zwischen Sushi und dem deutschen Mettbrötchen liegen soll frage ich mich auch jedes Mal wenn sich jemand über den Verzehr von rohem Fleisch oder Fisch wundert.

  4. Lächerlicher Gespreiztheit finden anscheinend nicht nur Spiegel-Leser für Schwule angemessen. Neulich gab es im Kino einen Trailer für ein queeres Filmfestival. Das sah aus als hätte eine heterosexuelle Werbeagentur der 90er daran gearbeitet.

    1. In den letzten Jahren hat sich wahnsinnig viel verändert. Auch in kleineren Städten sind Menschen aus der LGBTQ ein wenig selbstverständlicher geworden. Es gibt immer mehr Menschen im Showbiz, auf Werbeplakaten, junge Vorbilder wie Sam Smith, Lil Nas X, Gus Kenworthy, Tom Daley…
      Aber für den Mainstream sind Klischeebilder trotzdem immer noch interessanter. Ru Paul’s Drag Race schaut man sich im heterosexuellen Haushalt eben doch noch eher an als ein ernsthaftes schwules Liebesdrama.

      1. Der Mainstream kennt die meisten dieser Vorbilder natürlich höchstens am Rande. Und Drag shows schauen bestimmt die wenigsten. Aber klar, je normaler es vor allem für junge Menschen wird, je mehr entsprechende Formate z.B. bei Netflix auftauchen, desto einfacher lässt es sich erwachsen werden.

      2. Auch in den 70erJahren des vorigen Jahrhunderts gab es in meiner Umgebung keine Probleme. Gut, wenn man sich seine Umgebung aussuchen kann. Drag shows waren in England immer schon beliebt, sie haben allerdings mit Schwulsein so viel zu tun wie Harzer Roller mit Büffelmozarella.

      3. Ich hatte auch nie größere Probleme mit meiner Sexualität. Aber ich lese mindestens einmal die Woche von Übergriffen auf Pärchen, die händehaltend durch die Stadt gelaufen sind oder einfach zusammen an der Bushaltestelle saßen.

  5. „Anders als du und ich“ Originaltitel: „Das dritte Geschlecht“ war ein Spielfilm, der 1957 von der Freiwilligen Selbstkontrollenicht freigegeben wurde, weil er „das sittliche Empfinden des Volkes“ verletzte. Erst als im Nachdreh der Homosexuelle festgenommen wurde, gab es eine Freigabe ab 18 Jahren. „Anders als ich“ waren für mich die Spießer-Eltern des doch nicht (?) schwulen Sohnes, dargestellt von namhafen Darstellern der Zeit.

  6. Versäumen zu leben erscheint mir schlimm. Ganz unabhängig vom Alter. Die Jugend ist schon toll, aber es gibt auch später Tolles zu tun und zu entdecken.

      1. Das ist ohne Frage eine traurige Realität. Aber ich glaube, das wären auch nicht diejenigen, die sich am Ende ihres Lebens Vorwürfe machen etwas verpasst zu haben. Das fällt sicher eher denen zu, die es relativ einfach im Leben hatten und Chancen einfach haben verstreichen lassen.

  7. Wenn selbst Großkonzerne wie Philip Morris langsam aber sicher von selbst aus dem Zigarettengeschäft aussteigen ist die elektrische Aversionstherapie vielleicht eh nicht mehr nötig.

    1. Momentan soll das aber auch nur in Großbritannien passieren, nicht? Und statt regulären Zigaretten sollen vermehrt E-Cigarettes hergestellt werden. Auch nicht wirklich besser.

      1. Das hat mich auch gewundert. Man will den Fokus auf ‚Health‘ legen und trotzdem Alternativen zum Rauchen anbieten. Das ist doch ein etwas seltsame Mischung.

      2. Ich finde es ja trotzdem eine respektable Entwicklung, dass solch ein großes Unternehmen umschwenken will. Immerhin ein erster Schritt in eine richtigere Richtung.

      3. Das war immer der Vorteil des Kapitalismus gegenüber dem in Fünf-Jahres-Plänen ertrinkenden Sozialismus: Wenn etwas modern wird, wird es produziert, um es zu verkaufen, Gesundes oder Schädliches. Lenin glaubte, die Kapitalisten würden ihm noch den Strick verkaufen, an dem er sie aufknüpft. Falsch! Leider mussten sich die Sozialisten mangels Devisen ihr Grab selber schaufeln.

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