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0309
04 – Beelzebub und der Teufel

#12 | Zur Schau gestellt

Robert trank den letzten Schluck Grand Manier aus und bedankte sich für die Einladung.
––Bielendorf steckte die Rechnung ein und die Kreditkarte.
––Dann standen sie auf und gingen zurück zur Halle. Im Vorbeigehen streifte Robert mit mattem Blick die Nahrungsmittel hinter der Glasvitrine gleich am Eingang des ‚Grills‘: Ein rohes Rinderfilet und einige Fische mit Glupschaugen demonstrierten dem scheidenden Gast, dass das, was er so kunstvoll dekoriert vom weißen Teller genossen hatte, nicht an Sträuchern gewachsen war, sondern Sterben voraussetzte. „Setzen wir uns noch einen Augenblick in die Bar?“

‚Wenn du einen weiteren Eindruck von der HAB und deren Umfeld gewinnen willst, unseren weiteren Vorstellungen von einem Schwulenzentrum im Besonderen und der Emanzipationsbewegung im Allgemeinen, dann schreib uns bitte kurz eine Karte oder ruf uns über das Rosa-Telefon an! Vielleicht macht es dir Spaß, bei uns mitzumachen. Das wäre natürlich besonders schön.‘
––Martin stand vor der Tür. Er spiegelte sich im Aluminium.
––Eine kurze Pause zum Sammeln, zum Straffen.
––Aus dem Inneren drang wie aus dem Bauch eines Nachtfisches heraus ein Knurren: Synthesizer-Percussions, überschäumende Lebensfreude, vibrierende Spannung. – Leer wird’s sein und fade. Irgendwie hat es doch was Erniedrigendes, sich da so reinzudrücken.
––Ein hochnäsiger, aufgebrezelter Neunzehnjähriger haucht „Abend!“ hinter seiner Garderobe hervor und wirkt beleidigt, weil man die Jacke nicht ausziehen will. Dann geht man weiter und ist in einem Raum, in dem man –
––Zwei Jungen, denen man ansah, wo sie hinwollten, kamen über die Straße. – Also los! Martin atmete mitteltief durch und öffnete die Tür.

Robert und Bielendorf saßen auf winzigen Stühlchen an einem winzigen Tischchen. Auf einem winzigen Tellerchen lagen Salznüsse. Um sie herum hatten weitere Riesen im Kinderzimmer Platz genommen. Hermann Mückenheimer unterhält sie am Piano. Und der Barkeeper fragte: „Bitte sehr?“

Disco. Martin lehnte an der Wand. Es war schon recht voll. Der Anfang vom Wochen-Ende. Ihm fiel das Wort ‚dekorativ‘ ein, es fiel ihm in den Schoß und sorgte dort für Betäubung. Dafür begann sein Kopf, unfreundliche Gedanken auszubrüten: Dekorative Menschen sind gerne unter sich, das aber dann in Rudeln. Sie registrieren einander, beäugen einander, sie beneiden einander und sind kontaktfreudig, untereinander. Jetset, Gayset. Die Stuyvesant-Generation geht frischwärts ihren Weg.

Die beiden Bars. Flachhübsche Boys hantieren flink.
Ein Griff, ein Glas, zack, eine Flasche.
Der Öffner klickt, ein Blechstück fällt zu Boden,
zack, zack!, fünf achtzig, Wechselgeld.
Verspiegelte Fassaden und Gesichter,
zack, zack!, halb leere Gläser, volle Aschenbecher.
Ein Bier, zack, noch ein Bier, zack, hast du’s passend?
Die eine Hand hält hin, die andre greift.
Licht blinkt, Licht blitzt aus hundert Birnen.
Hier rot, da grün, grellweiß und violett.
Ein Blitz, ein Blick, dann Dunkel, dann ein Blitz,
zack, ein Gesicht, zack, zack!, ein Hinterkopf.
O Baby, Brüllen in den Rhythmus, in die Bässe.
Elektrisch, elektronisch, Arme wirbeln.
Die Tänzer, elektronische Ekstase. Zack, zack!, come on,
zuck, zuck, o Baby, Baby, Baby.
Erdbeben und Gewitter, Hitzewellen.
Schwitzende im Taifun, Achseln und Schenkel.
Die Elemente elektronisch, magisch, mystisch
heraufbeschworen: Wippen, Stampfen, Brodeln.
Orkane toben. Sensation des Psycho-Pseudo.
Zurückgedrückte Köpfe, Schultern, Knie.
Zack, zack! Verzückt, verzickt zucken die Tucken
im Tropenkoller, Reggae, Superfieber.
Hingebungsvoll verzogene Grimassen,
die Muskeln straff, hinten und im Gesicht.
I love me, heaven knows, oh, how I love me!
Das offne Hemd und der verschlossne Blick.
Allein im Schlenkern aller eingepfercht, zu zweit, zu dritt,
die Tennisschuhe wippen auf der Aluminiumfläche,
die Hände klatschen: clap! Es blitzt und blitzt.
Bewegungen gerinnen wie Gefühle.
Zeitlupe, zack, Fade-in, Fade-out.
Jeans spannen sich um Hüften, Hosen schlabbern.
Come on, come on! Alles ist Glas und Chrom.
Fühl nicht, denk nicht, sei Glas, sei Chrom, sei Fläche,
come on, come on and dance and dance and dance!

Martin merkte, dass er nicht eins war mit seiner Umgebung und ließ diesen Abstand nachgerade genüsslich zu. Wenn der Schneidersitzer aus dem Plakat statt auf Martins Haus auf diese Disco starren müsste – was würde er denken? Da kommen auf siebzehn junge Gays zwei junge Girls, die aggressive Weiblichkeit in so schrillem Maße zur Schau stellen, dass sie ihren Freunden die Show stehlen und noch den eingefleischtesten Hetero in die Flucht treiben können. Nur die, die im Drachenblut der Gleichgeschlechtlichkeit gebadet haben, bleiben unbeschadet und müssen nicht Reißaus nehmen vor den Waffen solcher Frauen, sondern pflegen eine Art irrer Kameradschaft mit ihnen, die beiden zugutekommt und beide unbefriedigt lässt.
––Daneben gibt es das Gros gepflegter junger Männer, mehr oder minder ausgelassen. Sie tragen modische Pullover mit hochgeschoppten Ärmeln. Wenn sie jünger sind, Schüler der Oberstufe, haben sie Polohemden an mit aufgesticktem Krokodil und fühlen sich denen überlegen, die es noch immer problematisch finden, schwul zu sein.
––Die etwas markigere Spielart ist auch vorhanden: Studenten mit Bärten und Kordhosen. Dann die paar konservativen Herren in Anzug und Schlips, die glück- und hilflos an einem Drink nippen und mit ihren Blicken vergeblich versuchen, Magnetfelder zu erzeugen.
––Und natürlich die Altgewordenen, die sich für Junggebliebene halten. Sie haben die schicksten Klamotten, die beste Figur, die gepflegteste Haut. Sie tanzen am wildesten und schreien am lautesten.
––Ein paar Exoten kommen auch vorbei. Sie stammen aus Asien oder Südamerika oder aus dem Corps de Ballet. Sie können ganz selbstvergessen tanzen und danach fröhlich, zufrieden und allein weggehen: ausgetobt.
––Das also sind – mehr oder weniger – die Zutaten des – mehr oder weniger – scharfen oder laschen oder süßen Disco-Fast-Foods. Und jeder will Big Mac sein. Das nicht ganz alltägliche Leben der Unnormalen verläuft ganz alltäglich. ‚Übertreibe ich?‘, dachte Martin. ‚Wenn schon! Alle übertreiben hier, also ist es keine Übertreibung mehr, es ist nur die nächste Ebene.‘
––Ein einziger ‚Der isses‘ wär jetzt mehr wert als zehn Na-ja-vielleicht-Typen. Aber ‚Der isses‘ ist nun mal nicht da, und so wäre es klüger, wieder zu gehen, nachdem man sich ausgetanzt und vielleicht dem Lärm noch ein paar Worte zugeschrien hat, die echolos in einem Gesicht verschollen sind. Den Kampf ums Da-Sein vorbei sein lassen, das Feld räumen.
––Begegnungsstätten wie diese leben davon, dass man genau das nicht tut. Man gibt sich weder die Blöße noch geschlagen. Denn: Es geht ja unablässig die Tür auf, und es bedarf ja nur eines ‚Der isses‘, ein einziger reicht völlig aus. Solange also noch ein bisschen Übersicht gegeben ist – am Wochenende meist vor zwölf –, klammern sich zahllose Blicke in stundenlang geübter Gleichgültigkeit an den Eingang, das Tor zum Glück.
––Dann gehen Übersicht und Blicke verloren. Die Wartenden lehnen an der Wand und machen sich vor, sie warteten nicht mehr. Sie ertragen die Körper derer, die sich teilnahmslos oder schroff vorbeischlängeln und sehen ihre einzige Hoffnung darin, so zu tun, als hätten sei keine.
––Martin wusste: Solch ernüchternde Einsichten kommen einem Fruit Juice vom Baum der Erkenntnis gleich. Er hielt die Nase prüfend in den Disco-Himmel. Sein Instinkt sagte ihm: Der Wind dreht nicht. Das bleibt so. Hier will mich keiner. Hier will ich keinen. Hier dörre ich aus. Die Nacht ist lang, das Leben ist kurz – raus aus dem Paradies, rein ins Irdische! – Wohin? Er wusste, dass er es wusste. Aber er konnte sich bescheinigen, dass er es erst mal auf die sanfte Tour versucht hatte.

Robert verabschiedete sich von Bielendorf. Nachdem das rein Geschäftliche erledigt war, hatten sie sich bei Whisky on the Rocks und paprikatisierten Kartoffelchips angeregt unterhalten. Zunächst noch über ihr Fachgebiet: das die Siebziger-Jahre prägende Phänomen ‚Freizeit‘, nach der ‚Fress- und Bekleidungswelle‘ der Fünfziger-Jahre und der ‚Einrichtungs- und Auto-Welle‘ der Sechziger-Jahre. Die neuen Auftraggeber der Werbeindustrie: Banken, Versicherungen, Parteien und Verbände. Der Marlboro-Mann, der seine Marke auf den dritten Platz der Absatz-Rangliste nach ‚Lord Extra‘ und ‚HB‘ geritten hatte. Die lila Kuh als Markenzeichen für ‚Milka‘: Eine Farbe schafft ein Produkt. Danach waren sie allgemeiner geworden: der Stopp für den Entsorgungspark Gorleben. Jogging als neue Massenbewegung. Borussia Mönchengladbachs Sieg im UEFA-Pokal und Berti Vogts Zukunft – und dass die Bundesbank heute den Lombardsatz angehoben hatte. Dann war ihnen der Gesprächsstoff ausgegangen.
––Bielendorf hatte zur Uhr gesehen und gesagt: „Ja, ich glaube …“
––Robert hatte dem Barkeeper gewinkt und die Rechnung unterschrieben.
––Der Page öffnete die erste Glastür. Bielendorf drehte sich noch einmal um und hob leicht die Hand. Dann stieß er die zweite Glastür auf, nahm die drei flachen Stufen mit lässig schnellen Schritten und ging nach rechts ab. Zum Ku’damm.
––‚Ob er jetzt einen draufmachen geht?‘, dachte Robert. Er drückte den Fahrstuhlknopf. ‚Na, ich bestimmt. Er wird heute Nacht vielleicht seiner Frau erzählen: Tut mir leid, Liebling, es ist leider später geworden. – Ich werde morgen früh niemandem etwas erzählen.‘

Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “#12 | Zur Schau gestellt

    1. Es muss ja auch nicht jede Kameradschaft zum Sex führen. Es gibt ja die unterschiedlichsten ‚Lüste‘, die befriedigt werden wollen.

  1. Man erinnere sich als Milka Ritter Sport verklagte, weil sie ebenfalls Schokolade in lila Verpackung anbieten wollten…

      1. Das war doch anders herum, nicht? Milka wollte quadratische Schokoladentafeln verkaufen und Ritter Sport hat sich gewehrt.

  2. Elektronische Ekstase ist auf alle Fälle etwas, dass während der letzten anderthalb Jahre zu kurz gekommen ist. Sowas lässt sich ja auch nicht allein zuhause reproduzieren.

      1. Hahaha, oh ja, Vielen Dank. Diese Szene kann ich mir all zu gut vorstellen.

  3. Ein einziger reicht meistens aus. Aber was wenn man eben eine ganze Nacht im Club verbringt…und den einen doch nicht findet?! Vergeudete Energie?

      1. Oh das ist ein ziemlich guter Gedanke. Das werde ich mal versuchen mir als Ziel zu nehmen.

    1. Die ausgetobten Exoten sind sicherlich auch ohne Begegnungen glücklich. Nicht weil sie Exoten sind, sondern weil sie sich ausgetobt haben.

  4. Ich denke ja immer, dass man zum Aufreißen in Bars geht, zum Tanzen in den Club. Aber es gibt sicher auch andere Ideen von Nachtleben.

      1. Vor allem klingt „Fühl nicht, denk nicht, sei“ genau richtig. Egal was man dem „sei“ hinten anstellt.

  5. Altgewordene Junggebliebene sind toll. Die meisten werden ja eher schon alt während sie eigentlich noch jung wären. Mir ist ersteres mit Abstand lieber.

      1. Sie würden wahrscheinlich höchstens kurz mit dem Kopf schütteln und weiter klicken. Besser so.

    1. Ich frage mich immer was es eigentlich heißen soll sich dem Alter angemessen zu verhalten. Andererseits ist es natürlich auch schlimm, wenn jemand verkrampft versucht sich gegen das Älterwerden zu wehren.

      1. Na, sich einfach so verhalten wie man sich fühlt und Druck zu verspüren jung aufzutreten sind eben zwei verschiedene Dinge.

      2. Trotzdem bleibt ja die Idee, dass es eine „richtige“ Art alt zu werden gibt, ziemlich bescheuert.

      3. Es passiert natürlich den besten von uns. Mehr kann ich ja nicht beurteilen, aber ihre Texte fühlen sich nach wie vor nicht alt an Herr Rinke.

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