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2209
04 – Beelzebub und der Teufel

#20 | Bestimmung

Martin ruckte hin und her. – Gott sei Dank bin ich so besoffen, dass ich nicht schnell komme! Für dieses Arschloch geb’ ich meinen mühsam aufbewahrten Saft nicht her, das ist es nicht wert. Das alles hier ist nichts wert. Aber nach Hause kommen, ohne abgespritzt zu haben?
––Der andere begann, schwer zu atmen und sich fester an ihn zu krallen.
––Sich bemühen, im anderen etwas auszulösen, wenigstens im anderen, Nächsten-Liebe. Die Gemeinde stöhnte und keuchte. Meine lieben Zuhörer. Unsere Brüder: in Afrika oder Asien. In Afghanistan, in der homosexuellen Aktionsgruppe, im Fummelraum. – Martin zuckte in dem fremden Leib. – ‚Ich bin schon etwas: Ich bin Columbin.‘ Blumen gießen, Brot schneiden.
––hochzeit halten: zwei menschen – kontaktstreifen in der dunkelkammer.
––Martin fühlte, intensiver als jedes Gefühl, dass er nichts fühlte. Und dann schoss er los, spritze seinen ganzen Saft in diesen hungrigen, dürren Arsch hinein.
––Sie lösten sich. Sie drückten sich die Hand.
––Martin ging.
––Der andere blieb.
––Martin stolperte die Treppe hinauf. Nach oben, ans Licht. Dahin, wo die Männer beieinanderstehen, lachen, saufen – und dasselbe wollen wie die da unten. Flüchtige Begegnungen.
––Robert stand im Kreis von Gleichaltrigen. Sie redeten und rauchten. Robert nahm einen tiefen Zug aus der Flasche, er sah Martin und nickte ihm zu.
––Martin nickte kurz zurück. Ein übermächtiges Gefühl packte ihn, es kam ihm wie Hass vor. Er schob sich durch zur Theke. „Noch ein Bier!“ Der Flaschenhals stieß hart gegen seine Zähne.
––„Verzeihung!“, sagte jemand.
––Martin merkte, dass Robert ihn beobachtete und versuchte, gleichgültig auszusehen. Sie hatten sich nichts vorzuwerfen.
––Wahrscheinlich wäre der Kerl vom Zigarettenplakat auch nicht besser gewesen. Warum nicht wirklich gleich onanieren? Oder den Abend vorm Fernsehen verbringen? Eine Pleite, die man gleich als Pleite erkennt, ist erträglicher als eine, die man sich nachträglich eingestehen muss. ‚Ich bin schon wer. Ich bin Columbin.‘
––Robert beobachtete ihn immer noch.
––Martin war nicht sicher, ob er die Tränen unterdrücken könnte. – So ein Quatsch! Auch das noch! Bin ich etwa verliebt in ihn? Und wenn ja, warum sag ich ’s ihm nicht? Der ganze Abend ist Scheiße. Dass ich mich so drauf gefreut habe, war das Beste dran. – Martin spülte einen großen Schluck Bier die Kehle runter und sog tief Luft ein. – Was auch immer ich suche: Spaß, einen Freund oder mich selbst: Es wäre verkehrt, die Suche aufzugeben.
––Robert hatte sich von den anderen gelöst und strich an ihm vorbei, Martin tat, als sähe er es nicht. Er hatte immer noch Angst loszuheulen. Bewundern, Küssen, Ficken. Die Musik dröhnte ihm in den Ohren. Den Tom-Männern auf den Plakaten schienen die Schwänze immer mehr zu schwellen und die Köpfe immer mehr zu schrumpfen.
––Robert ging wieder die Treppe runter. Er musste pissen. Außerdem hoffte er, dass der Abend noch nicht vorbei sei. Der Junge wirkte jetzt noch verkorkster als vorhin. – Vielleicht hätte ich ihn einfach in den Arm nehmen sollen und sagen: Lass uns gehen! Es wäre nicht schlimm gewesen, wenn er Nein gesagt hätte. Schlimm hätte es nur werden können, wenn er mitgekommen wäre. – Robert holte seinen Schwanz raus und pinkelte ins Becken. Neben ihm stand der runtergekommene Bursche, der ihm schon vorhin aufgefallen war. Er war tatsächlich gut gebaut. Robert sah ihm zu, wie er seinen Schwanz langsam und regelmäßig wichste und dabei ungerührt die Wand vor sich anstarrte. Robert griff hin. Der andere ließ die eigene Hand sinken und verließ sich auf Robert, der deren Werk fortsetzte.
––‚Was wäre schlimmer‘, dachte Martin, ‚wenn mein Vater mich hier sehen könnte oder meine Mutter?‘ Schwer zu entscheiden. Aber der Schmerz der Mutter wäre wohl doch unerträglicher als die Verachtung des Vaters. Würde ich für meine Freiheit kämpfen? Kann man für Fummelräume auf die Barrikaden gehen wie für Afghanistan? Für die Möglichkeit, sich den Ort, an dem man verzweifelt, selbst wählen zu dürfen? Bautzen oder Berlin oder Babylon. Kann man sich mit dem Unglück abfinden, wenn das Glück vorbei ist? Was war Glück? Gegensatz und Gegensatz gesellt sich gern. Gleichheiten ziehen sich an. Ich spinne. Ich bin besoffen. Bin ich unglücklich?
––Nachdem sich Robert eine Weile stumm beschäftigt hatte, sagte der andere ausdruckslos: „Gehen wir zu mir?“
––Robert sagte kurz: „Ja.“ Er fragte sich, was ihn zu dem Burschen trieb. Vielleicht diese Gleichgültigkeit, die alles mit sich machen ließ, vielleicht nur die Angst davor, sonst mit dem Jungen zu gehen, ohne ihn lieben zu können.
––Martin lehnte in der Ecke, als sie kamen.
––Robert hatte gehofft, ihm nicht zu begegnen. „Na, Beelzebübchen, wie war’s in der Schwanzothek? Hast du ’s schon mal zu dritt getrieben? Wir können’s zu dritt machen.“ Er wusste nicht, ob er es aus Bosheit sagte oder weil er hoffte, dass der Junge mitgehen würde.
––Der andere war stehen geblieben und wartete ab.
––Martin schüttelte den Kopf und feixte: „Ich hab’ schon genug gehabt für heute. Viel Spaß!“
––‚Sieh mal an!‘, dachte Robert. – Sex, Sex, Sex. – Er ging noch einmal dicht auf Martin zu und sagte: „Wir sitzen beide im selben Boot. Wir fahren nur in entgegengesetzter Richtung.“ Dann drehte er sich um und folgte dem anderen auf die Straße. – Orpheus geht.
––Männer saßen knutschend an der Theke. Zwei lehnten am Flipper-Automaten und leckten sich durchs Gesicht. Ein verschwitzter Glatzkopf torkelte rülpsend vorbei.
––Martin starrte immer noch auf die Tür. Flüchtige Begegnung. – Es war meine Schuld. Ich habe alles falsch gemacht. Noch könnte ich ihnen hinterherrennen. Atemlos. Wäre doch toll! Alles doppelt. Zwei Schwänze, zwei Ärsche. Morgen kann ich darüber lachen oder daran zerbrechen. Ich wünsche mir beides nicht. – Er sah auf die Uhr. Busse und Bahnen fuhren nicht mehr. Er würde eine Taxe nehmen.
––Robert lief mit dem Burschen. Ihre Hacken knallten auf dem Pflaster. In keinem Fenster brannte eine Lampe. Die Straße war leblos, eng und fahl von erstem Licht. Der Sonnabend vor Pfingsten dämmerte an. Schweigend gingen sie ihrem Geschäft entgegen, Robert einen halben Schritt hinterher. – Wie zur Schlachtbank. Wahrscheinlich hat er auch wieder Spitzendeckchen auf dem Teakholz-Nachttisch. Ich kann noch umkehren. Das hier wird sowieso nichts. Warum hat es nicht geklappt mit dem Jungen? Wäre bestimmt besser gewesen. Oder wäre es genauso gelaufen wie mit Johannes? Alles noch mal von vorn? Die penible Ordnung, die unsinnige Selbsterfahrungsgruppe, die ständige Eifersucht? Wir konnten uns nicht mehr ertragen zum Schluss: er mich nicht und ich ihn nicht. Seine Eifersucht war irgendwann umgekippt in Abneigung. Ich würde das nicht noch einmal durchmachen wollen. Bin ich dem Jungen deshalb ausgewichen? Er war intelligent, hübsch und sympathisch. Hat mein Schwanz das nicht gemerkt oder hat er sich dafür nicht interessiert? Oder hat zum allerersten Mal mein feiger Kopf meinen draufgängerischen Schwanz beherrscht? Fängt mein Kopf allmählich an, zu behindern, statt zu ermöglichen? Das mag sogar eine Hoffnung sein. Aber warum bleibe ich dabei so kalt? Habe ich nicht mehr zu geben oder will ich nicht mehr geben?
––Das Urteil ist gleichermaßen vernichtend.
––Es wäre leicht gewesen, ganz leicht. Er wollte mich. Ich habe mich ihm versagt. Ich habe mich uns versagt. Ich habe versagt. Stattdessen laufe ich neben diesem Kerl her. Vielleicht schubst er mich in einen Hauseingang und wühlt meine Taschen nach Geld durch. Vielleicht stößt er mir gleich ein Messer zwischen die Rippen. Wenn ich jetzt wegliefe, wäre es schon zu spät. Er würde hinter mir her rennen und mich zu Boden stoßen. Oder achselzuckend verschwinden. Warum gehe ich immer noch neben ihm her? – Robert sah an ihm herunter. – Weil er genau das ist, was ich will. Weil er die Figur hat und die Ausstrahlung, die mich geil machen. Weil er sich fabelhaft ficken lassen wird und weil ich schon fühle, wie sich mein Schwanz wieder in der Hose regt: bei dem ja. Vielleicht ist das Verrat an dem Jungen, aber nicht an meiner Bestimmung. Es ist einfach so, und danach muss ich mich richten. Sicher, eines Tages werden sie vielleicht die Hotelzimmertür aufbrechen. Dann finden sie meine Manschettenknöpfe aus Mondstein auf dem Nachttisch und mich irgendwo im Rinnstein, mit zerschlagenem Schädel. Das war dann der Einsatz. Und das Leben ist der einzige Einsatz, der zählt.
––Martin sah in die Flammen. Drei Uhr nachts. – Und ich hätte ihn haben können.
Jetzt, allein in meinem Zimmer, wird das Verlangen so übermächtig, dass ich weiß: Ich hätte ihn haben können. Aber das Verlangen kann nicht groß genug gewesen sein. Also keine Tränen, keine Ausbrüche, um mir nachträglich zu beweisen, dass ich nicht der Eisbubi bin, der ich war, der Kühl-Gekünstelte, der Alufolien-Abenteurer, der sich lange frisch hält, der blasierte Idiot, der auf einen Hosenschlitz starrt und darüber schwätzt, dass Schwule viel zu viel an Sex denken. War ich schuld? War er schuld? Keine Vorwürfe! Keine Rechtfertigungen! Keine Ausbrüche, keine Tränen! Kerzen! Die Musik in meinem Kopfhörer. Verständnis für mich und für die Musik und für die Kerzen: ein Licht, das weniger bewirkt, als es verspricht. Und doch dieses Licht: eine Art von Lebendigkeit, die danach schreit, sich zu bestätigen. Eine unerweckte Zärtlichkeit, ein Verharren. Nichts, das mich schmerzen müsste, nichts, das erwähnenswert wäre. Nichts. Vier Uhr morgens. – Ich hätte ihn haben können. Und ich weiß, ich habe nichts versäumt. Martin wandte den Blick von den Kerzen und sah aus dem Fenster. Dämmerung. Die Musik gellte in seinen Ohren, aber er wusste, dass es im Raum still war. Er sah auf das Plakat. Das Plakat starrte zurück, ein Lächeln auf den Lippen. Ein sinnliches Lächeln, das ihm galt – oder dem Genuss der Zigarette.

An dieser Stelle verabschieden wir uns von unseren beiden Streitern und überlassen sie ihren unterschiedlichen Schicksalen. Ein bisschen enttäuscht sind wir wohl alle, dass es mit ihnen nichts geworden ist. Denn auch wenn wir im wahren Leben skeptisch sind – in so einem allgemein zugänglichen Blog hätten wir gar nichts gegen ein saftiges Happy End. Doch noch ist ja nicht aller Nächte Morgen. „I’m ready for the eighties“, singen die Village People, und die Gemeinde jubelt mit, ohne zu ahnen, was dieses neue Jahrzehnt vielen von ihnen bringen wird: den Tod. Noch tobt das Leben. Gefühle? ’79? Still ruht der See! Und wer das nicht aushält, der werfe den ersten Stein!

E N D E

Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “#20 | Bestimmung

  1. Ein Happy End wäre natürlich was gewesen. Aber warum sollen die Leser befriedigter sein als die Hauptdarsteller.

  2. Genug für heute und vielleicht sogar genug für immer? Martin scheint weiterhin nicht der Typ zu sein, dem solche Orte viel Freude bringen.

      1. Es gibt Orte, die mit einem Besuch abgefeiert sind. Ich war einen Tag lang in Disneyworld und eine Stunde lang in S’Alenal.Traumatisiert bin ich nicht, wiederholungsfreudig auch nicht. Andere zieht es immer wieder dorthin. Ob die Orte uns aussuchen oder wir uns die Orte, ist mir nicht ganz klar.

  3. Dass Robert Angst davor hat, mit dem Jungen zu gehen, ohne ihn lieben zu können, bzw. dass dies mindestens als Möglichkeit in den Raum gestellt wird, finde ich überaus traurig. Wer so gehemmt lebt, muss es ja wahnsinnig schwer haben.

    1. Ich hätte mir auch erhofft, dass es den beiden zumindest gelingt noch einen weiteren Schritt zu machen. Auch wenn ich kein wirkliches Happy Ende erwartet hätte.

      1. Es ist halt schwierig seine Energien gleichmäßig zu verteilen. Erfolg in allen Lebenslagen. Schön wäre es.

      2. Erfolg im Privaten klingt ja eh schon verkrampft. Zufriedenheit oder Glück gefällt mir deutlich besser.

      3. Glück ist kurz, aber immer mal wieder möglich. Das Dumme an der Zufriedenheit ist, dass sie nichts will. Das lähmt. Oder man schreibt wie ich mit 19 in einem Gedicht: „Ich bin zufrieden mit der Ungenügsamkeit.“ Glaubte ich damals.

      4. Die Frage ist ja dann: stört es den Zufriedenen, dass er sich nicht von der Stelle bewegt?

  4. Ich verstehe was Sie meinen. Obwohl es schon amüsant ist, dass Sie hi sichtlich der letzten zwei Kapitel von gehemmt reden 😉

  5. Ob Vater und Mutter selbst mal in einer ähnlichen Situation waren? Den empfundenen Schmerz bzw. die Verachtung würde das vielleicht gar nicht mal beeinflussen.

      1. Ich möchte mir meine Eltern wirklich nicht in Swingerclubs oder Ähnlichem vorstellen. Ganz egal wie ich meine Sexualität selbst auslebe.

  6. War ich schuld? War er schuld? Oder war es vielleicht keiner von beiden? Manchmal sollen solche Begegnungen ja auch einfach nichts werden. Da bemüht man sich so gut es geht und trotzdem läuft alles schief.

      1. Schicksal kann man sich im Nachhinein auch immer gut sagen, wenn man keine Verantwortung übernehmen will. Das Problem ist dann natürlich oft, dass es beim nächsten Mal auch nicht besser klappt.

  7. Das Verlangen war ja vielleicht sogar groß genug. Nur hat die Kommunikation zwischen den beiden halt überhaupt nicht funktioniert. Scheinbar weder verbal noch physisch.

    1. Wenn das gegenseitige Verlangen tatsächlich groß genug ist, dann sollten solche Probleme ja eigentlich überwunden werden können, nicht? Gerade da liegt doch oft der Unterschied.

      1. Manchmal ist es Anziehung bei der ersten Begegnung. Der Biss in ein Croissant. Manchmal entwickelt sich etwas langsam. Das ist wie Zwieback: weniger aufregend, aber haltbarer.

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