Martin machte sich seine Dunkelkammer ‚gemütlich‘. Gemüt hatte er ja reichlich. Der Griff zum Lichtschalter und zum Kofferradio. Fade-out des Dire-Straits-Songs ‚Setting Me Up‘. Ankündigung eines Interviews mit Mark Knopfler. Zeitansage. Nachrichten: Der Deutsche Bundestag hatte Richard Stücklen mit 410 gegen 40 Stimmen bei 19 Enthaltungen zum Parlamentspräsidenten als Nachfolger von Karl Carstens gewählt. Wegen Mord und Mordversuch in mehreren Fällen war die 31-jährige Irmgard Möller aus der RAF-Szene zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und im Centre Pompidou in Paris die Ausstellung ‚Paris–Moscou, 1900 bis 1930‘ eröffnet worden. Dann endlich eine vage Zukunftsaussicht: das Wetter.
Regen. Die Straßenbahn quietschte die Maximilianstraße entlang. München von oben.
––Robert saß in seinem glatten Büro, nur auf dem Schreibtisch war es kraus. Plastik, Glas, Chrom und Papier.
––Das Telefon klingelte. Der Kontakter ließ die Tür hinter sich offen und wartete, bis das Gespräch zu Ende war: „‚Rintra‘ hat die Reinzeichnung noch nicht bekommen. Aber die Anzeige muss heute raus.“
––„Was? Wann hast du sie denn abgeschickt?“
––„Vorgestern, per Express. Müsste eigentlich da sein. Aber Berlin dauert manchmal länger.“
––„Also, nach dem Ärger letztes Mal müssen wir unbedingt zusehen, dass die die Kopie okaygeben. Warum ging denn das nicht eher?“
––„Die haben doch drei Tage lang am Layout rumgefummelt. Die Schrift kam nie raus auf der Farbe.“
––„Das ist aber überhaupt nicht gut. Hättest du’s doch per Kurier geschickt! So komm’ ich da heute Abend hin, und Bielendorf sagt mir, er weiß von nichts.“
––„Also, eigentlich dürfte alles klar sein.“
––„Letztes Mal hätte auch alles klar sein dürfen. War es aber nicht. Kann die Anzeige nicht Montag rausgehen?“
––„Dienstag. Wir haben Pfingsten, und Dienstag ist zu spät. Hab’ schon nachgefragt.“
––„O. K. Warte noch bis Mittag, und dann gib sie raus! Telex Rintra, aber geh vorher noch mal jedes Wort durch!“
––„Das hatten wir doch schon gemacht.“
––„Spielt keine Rolle. Das ist dann eben letzte Fassung. Und lass es dir per Telex bestätigen.“
––Das Telefon klingelte.
––„Ja, natürlich. Gern. Aber heute geht’s leider nicht. Ich muss heute Nachmittag noch nach Berlin. Können wir Montag sagen? Ach so, ja. Dienstag.“
––Zwei junge Männer im Türrahmen. „Robert, wir hatten für die Serie von ‚Ducorps‘ doch ganz klar eine Bildlösung verabredet mit wenig Text.“
––Der andere hielt einen Bogen in der Hand. „Also, das hab’ ich ganz anders verstanden. Die Headline nimmt doch allein schon vier Zeilen. Irgendeine Aussage müsst ihr ja schließlich machen.“
––Robert sagte: „Zeig mal her!“
––Das Scribble wurde ihm hingelegt.
––„Tut mir leid, ich glaube, so geht das nicht.“
––Der Texter verzog befriedigt keine Miene.
––„Die Aussage muss mehr im Bild liegen.“
––Ein Mädchenkopf schob sich durch die Tür. „Gerd ist nicht hier?“
––„Den hab’ ich vorhin im Studio gesehen.“
––„Danke!“
––Das Telefon klingelte.
––„Nein, Herr Schober ist heute nicht da. Kann ich Ihnen helfen. – Wann? – Nächste Woche schon? – Oje! Versprechen kann ich’s nicht. – Ja, wir werden’s versuchen. – Okay. – Ja, ich melde mich noch mal.“ Er wählte drei Zahlen. „Robert. Ich weiß, es ist eine blöde Frage, aber kannst du noch was annehmen? – Bienert hat gerade angerufen. Das Zeug liegt wie Blei. Er will, dass wir nächste Woche eine zusätzliche Anzeige schalten, damit ihm sein Lager nicht platzt. – Ich weiß, dass es plötzlich kommt. Wir können es ja noch mal besprechen. Vielleicht fällt mir auch was dazu ein. – Kann ich’s ihm zusagen? – Du, Ralf, danke!“ Er ließ den Hörer aufs Telefon fallen. „Also, Peter, das Gesicht muss in jedem Fall größer raus. Der Ausdruck ist wichtig. Man muss richtig sehen, wie die sich freut, auch wenn man nicht hinguckt. Sonst hätte sie ja auch Kernseife nehmen können. Man muss auf Anhieb merken, dass Abwaschen Spaß macht mit ‚Linda‘. Die Zeile ist gut. ‚Linda: die Lösung!‘, das gefällt mir. Tut mir leid, Peter.“
––Ein Mann im Anzug sah um die Ecke. „Können wir das ‚Rintra‘-Gespräch um eine halbe Stunde verschieben? Ich muss noch mal rüber zu ‚Isarphon‘.“
––„Unmöglich. Ich bin so voll heute. Tut mir leid.“
––„Also gut, dann ruf’ ich an und sag’, ich komm’ später.“
––Eine Frau mit schwarzem Lacktablett. „So, Ihr Kaffee.“
––„Danke!“ Robert zündete sich eine Zigarette an und blätterte die Seite um. Dann wählte er eine Nummer. „Ja, ich bin’s, Peggy. Grüß Gott! Sag mal, ich les’ grad deinen Medien-Vorschlag für ‚Ducorps‘. Der Etat ist doch weit überzogen. – Nein. Neunzigtausend. – Nein, unmöglich. – Aber wieso gleich sechsmal? Dreimal reicht doch völlig. – Na gut. – Okay, ich wart’s ab. – Ja, schön. Servus!“
––Das Telefon klingelte. Die Straßenbahn auch. Das leuchtende Grün der frischen Blätter hob sich augenfällig vom graustumpfen Himmel ab. Das aluminiumgerahmte Model lächelte abwehrend auf den Schreibtisch herunter. Die Stehlampe stellte ihr kühlkühles Design zur Schau. Der Aschenbecher hatte die Form einer geöffneten Hand. Robert drückte die Zigarette am Daumen aus. Die Ziffer der Uhr sprang um. „Kannst du in einer Stunde noch mal anrufen? – Natürlich mach’ ich das für dich. Aber jetzt muss ich in ein Meeting. – Ja, fast. Sprechen wir nachher drüber. – Ja. Bis dann!“
Martin nahm die Negativstreifen aus der Pergamin-Tasche und wischte sie mit dem Antistatiktuch ab. Er öffnete den Kopierrahmen vorsichtig, nachdem er die Glasplatte eingesprayt und abgewischt hatte. Dann klemmte er die Negativstreifen mit der Schichtseite nach oben auf dem Glasdeckel fest. Er schaltete die Lampe des Vergrößerungsgeräts ein und schob den Kopf so hoch, dass der ganze Kopierrahmen beleuchtet war. Bevor er die Raumbeleuchtung aus- und die Dunkelkammerlampe anknipste, prüfte er noch einmal die Temperatur der Bäder. Dann nahm er einen Bogen Fotopapier aus der Packung, führte das Blatt in den Schlitz der Glasplatte ein und schloss den Deckel des Kopierrahmens. Er drehte die Blende des Vergrößerungsobjektivs auf die größte Öffnung, legte den Kopierrahmen auf das Grundbrett und stellte die Belichtungsschaltuhr auf fünf Sekunden ein. Nachdem die Lampe die Uhr automatisch ausgeschaltet hatte, nahm er das Papier aus dem Kopierrahmen und schob es in die Schale mit dem Entwickler. Während er das Papier mit der Zange bewegte, beobachtete er, wie es sich langsam färbte. Es entstanden Flecken, Muster, Konturen. Winzig kleine Bilder, der unerkennbare Ablauf eines erstarrten Zeremoniells.
––Nach anderthalb Minuten hob er den Abzug mit der Zange hoch und ließ die Flüssigkeit in die Schale abtropfen. Dann zog er den Abzug für zehn Sekunden durch das Stoppbad und legte ihn ins Fixierbad. Während der Kontaktstreifen in der Lösung schwamm, nahm er die Negative des nächsten Films aus den Pergamin-Taschen. Neun Filme hatte er zu verarbeiten: Negativ einlegen, Fotopapier einlegen, belichten, entwickeln, stoppen, fixieren, wässern, trocknen. Wenig zu denken, viel zu tun, und als er das Licht wieder einschaltete, lag geschrumpft, erstarrt, lautlos in Schwarz und Weiß die Hochzeit vor ihm: Gelächter, Gerüche, Gefühle: auf – ab.
––Er legte den ersten Kontaktstreifen unter die Lampe und tastete mit dem Vergrößerungsglas oberhalb der einzelnen Bilder entlang.
––‚… Ja, Sie lachen. Warum lachen Sie? Ich weiß, dass die Ehe heutzutage nicht mehr das ist, was junge Leute in dem Maß anstreben, wie wir es damals taten …‘
––‚Wenn Sie sich wohlfühlen, trinken Sie oder trinken Sie nicht?‘
––Er sah sich das Gesicht mit dem Bart an. Das einzige Gesicht für ihn. Unter all den Fotos, Fossilien, Fassaden. ‚Er hatte aufgesehen unter dem Blitz. Einen Augenblick lang. Überraschung? Wohlwollen? Mehr?‘
––Martin schob das Vergrößerungsglas weiter. Totes Leben in Briefmarkenformat. Ein gespenstisches Lachen, eine Geste, zum Krampf gefroren. Bedeutungslose Miniaturen und dann wieder: ‚Aber auch mitten in der Stadt gibt es in München so nette Lokale.‘ – ‚Ja, die gefallen mir auch sehr gut.‘ – ‚Sehen Sie, er hat auch gemerkt, wie fotogen Sie sind.‘ – Selbst auf dem Kontaktabzug sah man, dass seine Augen klein waren. Aber die beiden Punkte füllten unter dem Vergrößerungsglas den Raum aus. ‚Warum wird in einer fensterlosen Kammer die Einsamkeit unendlich, wenn man diese Augen sieht? Wäre dieses Gesicht nicht auf Papier, sondern greifbar, fassbar – wäre es überhaupt fassbar?‘ Er schob das Glas weiter. ‚Fröhliche Menschen in allen Schattierungen. Die gesittete Fröhlichkeit von Menschen, die wissen, was sich gehört.‘ Er ging den Kontaktstreifen noch einmal von vorn durch und markierte alle Bilder, bei denen er glaubte, dass sich eine Vergrößerung lohnen würde.
––Nur auf einem der Bilder füllte dieses Gesicht das ganze Foto aus. Eine Aufnahme ziemlich gegen Ende, als alle schon ein bisschen beschwipst und – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – locker geworden waren. Martin fühlte sich jetzt genauso enthemmt wie die Menschen unter seinen Händen. Auch Fotografieren macht trunken. Einen Augenblick per Kopfdruck festhalten, so wie man ihn sieht. Ein Ausschnitt, vielleicht gestellt, sicher subjektiv, aber doch: Ein Klick – und jetzt, Tage später, kehrt dieser Augenblick zurück. Winzig klein, ein Schemen, der sich entwickeln, vergrößern, gestalten lässt.
––Er spürte, dass die Versuchung wie eine Nadel in ihn einstieß. Eine Injektion, ein Schreck, den er für eine Sekunde in seiner Blutbahn wahrnahm, ein vorübergehender Schauer, dann war es vorbei. Aber jetzt war eine neue Ebene erreicht, ein plötzlicher, winziger Schritt aufwärts, den babylonischen Turm der Lust empor, ein ganz, ganz kleiner Schritt nur, äußerlich kaum erkennbar, aber ein entscheidender Schritt: der erste.
Begegnungen können trunken machen. Dass das Fotografieren dafür ein gutes Medium sein kann, keine Frage.
Man kommt zumindest mit einer Unzahl an Menschen in Kontakt. Ob da am Ende spannende Begegnungen drunter sind, kommt wahrscheinlich ganz darauf an.
Zumindest in der Erzählung scheint das ja ganz gut funktioniert zu haben. Immerhin klettert der Fotograf bereits den „Turm der Lust empor“.
Die Erzählung nennt sich ja auch sicherlich nicht umsonst Beelzebub und Teufel
Seit jeder alles mit seinem Smartphone ablichtet, bleibt für Trunkenheit keine Zeit mehr. Die Trunkenheit ertrinkt in der Bilderflut.
Gerade deshalb bleiben Clubs, in denen das Fotografieren verboten ist, so ungewöhnliche Orte. Man kann die tägliche Informationsflut zumindest für einen Abend oder ein Wochenende vergessen.
Falls diese Clubs jemals wieder aufmachen dürfen :/
… wenn die Herde durchgeimpft ist. Auch gegen Mutanten.
also niemals
Man muss auf Anhieb merken, dass Abwaschen Spaß macht mit ‚Linda‘ 😂 Hahaha!
Wenn man dem Konsumenten einreden kann, dass ihm etwas Spaß machen wird, konsumiert er. Auch der Sozialismus versuchte das, was es gerade mal gab, als besonders erstrebenswert darzustellen. „Nimm ein Ei mehr!“
Die Abläufe in der Foto-Agentur – das klingt gleichermaßen anstrengend wie realistisch.
Ein ehemaliger Freund arbeitete in Düsseldorf in einer Marketing-Printagentur. Was er damals von seinem Job erzählt hat klang tatsächlich sehr ähnlich wie oben beschrieben.
Ich recherchiere immer ziemlich gründlich…
Viel Bild, wenig Text. Das könnte eigentlich genauso gut 2021 sein.
Das Video eines unangebrachten Lachers prägt sich nachhaltigen ein als eine wohlformulierte Rede: Bild schlägt Wort. Ob deshalb die Wahlslogans gar nicht erst versuchen, unterscheidbare Inhalte zu vermitteln?
Ich glaube man weiss einfach, dass Laschet (wenn überhaupt) nur eine Chance hat, wenn man auf große Diskussionen verzichtet. Es gab ja zumindest genügend Skandale um Baerbock um dafür die Weichen zu stellen.
Jetzt kommt Söder als Last-Minute-Joker und alles wird besser. Scherz.
Für manche: Wunschtraum.
Momentan tippe ich tatsächlich am ehesten auf Scholz. Obwohl er in der SPD ist. Aber am Ende kann noch viel passieren. Afghanistan zum Beispiel.
Afghanistan ist eine westliche und in der Visa-Erteilung gerade auch deutsche Schande. Aber ob das an der Wahlurne interessiert?
Ich glaube Außenpolitik zählt selten. Das eigene Befinden geht immer vor.
Fotografen müssen doch auch ungemein an den Corona-Beschränkungen zu knabbern haben. Jedenfalls gab es in den letzten zwei Jahren sicher nicht besonders viele Familienfeste, Konzerte etc. zu dokumentieren.
Heute wird ja sowieso nonstop mit dem Smartphone dokumentiert. Da haben es die traditionellen Fotografen eh schwer. Die dürfen höchstens noch das offizielle Hochzeitsfoto schießen. Den Rest übernehmen die Hochzeitsgäste doch selbst.
Journalismus geht noch. Und Portrait.
Anscheinen liegt das durchschnittliche Gehalt eines Fotografen bei ungefähr 35.000€ im Jahr. Das könnte ohne Frage besser sein, ich hätte aber sogar schlimmeres erwartet.
Sind im Durchschnitt die Starfotografen und die Abgehängten enthalten? Dann hat am Ende keiner 35.000€ verdient.
Das ist ja immer das Problem bei solchen Mittelwerten. Wirklich aussagekräftig sind die letztendlich nämlich nicht.
Ein erster entscheidender Schritt, aber bis es zur nächsten Begegnung der beiden kommt, wird es sicher noch ein paar weitere benötigen.
Vor allem bin ich gespannt wie teuflisch es am Ende wirklich werden wird.
Die Hölle hat viele Kammern.
Noch bleibt auch noch die Frage offen für wen die Begegnung überhaupt zur Hölle wird. Fotograf, Brautbruder, oder beide. Und dann müsste man noch schauen ob die Hölle wirklich eine Qual ist, oder ob einfach ein höllisches Vergnügen daraus wird.
Es kommt ja bald der nächste Teil. Da weiss man vielleicht schon ein wenig mehr…
Ein ganz, ganz, ganz klein wenig.
18.00Uhr.