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0808
04 – Beelzebub und der Teufel

#01 | Weil wir uns lieben

a) hochzeit halten

Die Hälfte der Anwesenden lachte spontan, und die andere Hälfte lachte mit, angesteckt oder aus Höflichkeit.
––Der Redner nutzte die kurze Pause zu einer kleinen, verschmitzten Verbeugung nach allen Seiten. Arglos. Nicht ohne Eitelkeit, aber trotzdem war es ihm wichtiger, die Gäste zu unterhalten, gepaart mit etwas Besinnlichkeit natürlich, als sich zur Schau zu stellen. Er brauchte es nicht darauf anzulegen, zu gefallen, denn er konnte sich des Wohlwollens aller ohnehin sicher sein. Das vereinfachte die Sache angenehm.

„Sehen Sie, meine lieben Freunde, es war mir natürlich immer klar, dass Sylvia eines Tages heiraten würde – wir sind eine altmodische Familie. Ja, Sie lachen. Warum lachen Sie? Ich weiß, dass die Ehe heutzutage durchaus nicht mehr das ist, was junge Leute in dem Maße anstreben, wie wir es damals taten. Sicher, auch wir sahen zu, dass wir uns – wie man es nannte – ‚die Hörner abstießen‘, aber es stand doch außer Zweifel, dass wir eine Familie gründen und Kinder erziehen wollten. Nun, erziehen will die heutige Jugend auch in hohem Maße, aber lieber ihre Eltern als ihre zukünftigen Kinder.“
––Kurze Lachpause.
„Bitte, ich will das nicht lächerlich machen. Wahrscheinlich ist das ein durchaus notwendiger Prozess. Ich spreche diejenigen unter Ihnen an, die zu meiner Generation zählen: Seien wir ehrlich, haben wir nicht alle von unseren Kindern gelernt? Haben wir nicht alle gelernt von ihrer Kritik, von ihrem Gefühl für Gerechtigkeit und immaterielle Werte? Sie haben uns etwas gezeigt, was wir während der schweren Jahre des Aufbaus – notgedrungen – verlernt hatten: zu leben. Nicht nur für den Fortschritt, sondern für ein Dasein in einer lebenswerten Umwelt. Meinem Gefühl nach sind einige von ihnen, bitte, zu unüberlegt, zu radikal vorgegangen. Trotzdem ist die Idee richtig. Wir stehen an der Schwelle zum vorletzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts. In neun Monaten haben wir 1980. Man muss – jetzt und hier – bereit sein, auch für die Zukunft einzustehen.
––Die Ehe ist ein Versprechen fürs Leben. Das heißt viel. Denn da kann viel passieren. Auch an Versuchungen. Wenn ich von Sylvias Reizen sprechen würde, könnten Sie mich als Vater für voreingenommen halten – die Attraktivität meines Schwiegersohnes kann ich, denke ich, unvoreingenommen beurteilen. Aber das ist nicht das, worauf es später, im Laufe des Lebens, ankommt. Ich glaube, dass ich beide – inzwischen auch Andreas – sehr gut kenne. Und ich habe das Vertrauen in sie, dass sie es miteinander schaffen werden. Das heißt viel. Es erfordert reife Menschen, die verzichten und verzeihen können. Zurückstecken und Rücksicht nehmen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Sylvia und Andreas solche Menschen sind.
––Eine Ehe einzugehen, erfordert Verantwortungsbewusstsein. Ich akzeptiere es, wenn junge Menschen in unserer von Unsicherheit gekennzeichneten Situation diese Verantwortung nicht auf sich nehmen wollen – und doch gebe ich zu: Ich bin stolz auf Sylvia und Andreas, dass sie es tun. Sicher sagen immer noch manche ihrer Freunde: Liebe ja, Ehe nein. Das heißt: Spaß ja, Verantwortung nein. Bitte, solange die Frau bereit ist, das mitzumachen …“ Die Art, wie er das sagte, forderte wieder ein paar – vorwiegend männliche – Lacher heraus. „Trotzdem. Ich bin froh über diese Ehe. Ich bin froh, dass wir eine so stimmungsvolle Trauung miterleben durften. Herr Pfarrer, dafür Ihnen ganz besonders herzlichen Dank – und ich bin froh, dass unser Brautpaar die Ehe wirklich als Sakrament sieht und nicht als Versuchsballon. Darüber hinaus bin ich sicher, meine Damen und Herren, dass Sie es einem konservativen Mann wie mir verzeihen, wenn er sich auf weitere Enkel freut.
––Unsere Familie hat eine gewisse Tradition – befürchten Sie nichts, ich bin weit entfernt, Sie mit Stammbäumen und Historie zu langweilen –, trotzdem möchte ich sagen, dass ich mich freue, mit dem heutigen Tag in Andreas einen ganz neuen Typus in unserer Familie willkommen zu heißen, jemanden, der nicht viel nach Althergebrachtem fragt, sondern die Ärmel hochkrempelt; und ich freue mich auch, Sylvia in seiner Familie genauso herzlich aufgenommen zu wissen. Was unsere ‚Sippe‘ angeht, so tut ihr ein bisschen kräftiges Blut sehr gut. Nein, nein, missverstehen Sie mich nicht, so degeneriert sind wir nun auch wieder nicht. Aber nachdem ich immer, na ja, vielleicht nicht das schwarze, aber das graue Schaf der Familie war – o doch, doch, Charlotte, gerade du solltest kein so entrüstetes Gesicht machen –, also, nachdem ich so lange als ein bisschen ‚erstaunlich‘ galt, freue ich mich ganz besonders darüber, einen Mann zum Schwiegersohn zu bekommen, der uns alle sicher noch in Erstaunen versetzen wird.“ Er hatte so akzentuiert, dass die Gesellschaft klatschen musste. Er nahm sein Glas auf, prostete Andreas zu, verbindlich, unnahbar – ein Stich gegen Andreas und seine Familie, ein Stich gegen die eigene Familie – zufrieden, ein bisschen spöttisch, sehr verträglich. „Sehen Sie, liebe Freunde, ich glaube an die Ehe. Ja. Wirklich. Ich scheue mich nicht, das zu sagen. Als vor über zehn Jahren alle vermeintlich fortschrittlichen Menschen sie für tot erklärten und den Gruppensex als die einzige Lebensform proklamieren wollten, bis auch der letzte Hinterwäldler glaubte, ein kurzes Glück per Kontaktanzeige finden zu müssen, da dachte ich still bei mir: ‚Wartet nur ab!‘ Allmählich geriet der kecke Spruch ‚Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‘ erst ins Abseits und dann auf den Abfallhaufen der Geschichte, genau wie die antiautoritären Kinderläden. Der gesunde Menschenverstand trat seinen Weg durch die Institutionen an und heute sitzt er wieder in der Chefetage.
––Meine Frau – und ich muss das einmal erwähnen – hat mir in einer inzwischen fast vierzigjährigen Ehe bewiesen, dass man selbst einen Mann als Partner ertragen kann, dem schon seine Lehrer ins Schulzeugnis geschrieben haben, dass seine zu ausgeprägte Kontaktfreudigkeit ihn an der nötigen Konzentration hindert.“
––Lachpause.
––„Bei aller Freude, meine Damen und Herren, den ich an meinem Beruf und an meinem Leben habe, habe ich mich trotzdem immer auf meine Frau ‚konzentriert‘. Das ist nicht mein, sondern ihr Verdienst. Und deshalb lassen Sie mich mein Glas erheben auf meine Frau; Andreas, auf deine Frau; auf all unsere Frauen, die uns Männer, die wir uns so leicht ablenken lassen, immer wieder zurückführen auf das Wesentliche: auf Sie, meine Damen!“
––Lachen, Gläser, Lippen. Der Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab. Wie schön sie sind: frisiert, gekleidet. Die Gesichter entspannt in einer gelassenen, keiner törichten Heiterkeit. Er spricht. Er spricht sie an. Sie fühlen sich gemeint. Und noch ihr Widerspruch bewundert ihn.

„Wissen Sie, liebe Freunde, wir waren nie ‚Avantgarde‘. Wir waren immer darauf aus, auf eine vernünftige Art Fortschritte zu erzielen. So hat die Familie, zu der ich gehöre, nie Sensationen gemacht, aber sich stetig weiterentwickelt. Und das, Andreas, ist es, was ich dir wünsche: diesen Sinn für eine vernünftige Weiterentwicklung, auch in einer Zeit, die der vorübergehenden Sensation so viel, ich würde sagen, zu viel Bedeutung beimisst.
––Euch wird nichts erspart bleiben. Warum auch? Aber ich kenne euch gut genug, um zu wissen, dass ihr es zusammen schaffen könnt. Ihr habt Ideen und Verantwortungsbewusstsein, und ich bin sicher, dass, wenn ich euch eine erfüllte Zukunft wünsche, ich etwas anspreche, was erarbeitet werden muss, aber was erreichbar ist. Ich möchte die Eltern meines Schwiegersohnes zu ihrem Sohn beglückwünschen – und natürlich zu meiner Tochter. Ich möchte meine Frau und mich zu unseren Kindern beglückwünschen und ich möchte Ihnen allen, die Sie gekommen sind, an unserer Freude teilzuhaben, danken für Ihre Anwesenheit und – mehr! – für Ihre Zuneigung!“
––Hände, Gläser, Lippen. Ein Hauch von Verlegenheit. Der Wein fließt und spült Empfindungen: auf – ab.
––In meinem Büro, meine Damen und Herren, arbeitet ein junges Mädchen. Sie trägt die Haare so, wie es uns früher als abschreckender ‚Struwwelpeter‘ gezeigt wurde und heute als ‚Afro-Look‘ eigentlich schon wieder aus der Mode ist. Sie lackiert sich die Fingernägel in Farben, von denen ich nicht weiß, ob es dafür überhaupt einen Namen gibt. Einmal fragte ich sie, und sie sagte, das sei nun gerade ‚Düne‘. Wenn ich ihre Rocklänge sehe, frage ich mich immer: Ist das jetzt gerade Mode oder der Protest dagegen? Eines Tages erwähnte einer meiner Mitarbeiter, dass dieses Mädchen heiraten wolle. Das nächste Mal, dass ich sie auf dem Flur traf, fragte ich sie: ‚Ich habe gehört, Sie wollen heiraten. Warum?‘ Sie sah mich verständnislos an und sagte: ‚Weil wir uns lieben.‘ Ich war beschämt und – ja! – glücklich. Sehen Sie, liebe Freunde und liebe Familie, das ist der Grund, warum die Ehe jetzt und weiterhin Berechtigung haben wird. Weil zwei Menschen, modern oder altmodisch, sich lieben, weil sie miteinander leben, eine Familie gründen und Kinder haben wollen. Weil die meisten von uns das wollen, ungeachtet all dessen, was Presse und radikale Intellektuelle sagen mögen.
––Seit Anfang Mai haben wir unter Margaret Thatcher wieder eine konservative Regierung in Großbritannien. Seit voriger Woche haben wir nach Walter Scheel wieder einen konservativen Bundespräsidenten. Ich bin nicht unglücklich über diese Entwicklung, denn die Kontinuität der Werte liegt mir am Herzen. Lassen Sie mich deshalb zum Abschluss meiner kleinen Rede mein Glas erheben auf die Liebe zwischen zwei Menschen, die Liebe in der Familie – auf unser junges Brautpaar!“

Hanno Rinke Rundbrief

40 Kommentare zu “#01 | Weil wir uns lieben

    1. Wahrscheinlich kommt das darauf an wie schwer solch ein Verzicht an einem nagt. Kompromisse müssen sicherlich sein, sonst hält eine Beziehung nicht lange.

      1. Auf einige Abenteuer sollte man schon verzichten, wenn es keine gemeinsamen Abenteuer sind. Auf seine Ruhe muss man auch verzichten können, wenn dem/der Partnerin der Sinn nach Abenteuern steht. Aber eine Fremdenlegionärin und ein Akten-Archivar heiraten ja ohnehin selten.

      2. Es kommt wohl wirklich darauf an ob es sich um Abenteuer und Launen handelt oder um tiefergreifende Sehnsüchte. Ein besseres Wort fällt mir dafür nicht ein.

  1. „eine Familie gründen und Kinder erziehen wollten“ oder eine Familie gründen und Kinder erziehen sollten“?

    1. Für manche Menschen ist das durchaus dasselbe würde ich sagen. Da ist ein idealisiertes Familienbild so eingeprägt, dass sich die gesellschaftliche „Vorgabe“ und der eigene Wunsch überschneiden.

      1. Eltern, die ihre Kinder nicht erziehen, machen es ihnen schwer im späteren Leben. Eltern, die ihre Kinder zu falschen Werten erziehen, allerdings auch.

      2. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wenn sich Kinder nicht dank sondern trotz ihrer Eltern später im Leben beweisen. Da fragt man sich dann wieviel Erziehung am Ende ausmacht.

      3. Das liegt dann wohl an der angeborenen Durchsetzungskraft der Kinder. Manche haben sie, andere nicht.Auch vor dem Feminismus gab es Frauen, die ihre männlichen Zeitgenossen um den Finger gewickelt haben. Außerdem: für Königin Elisabeth die Erste, Maria Theresia und Katharina die Große musste die Emanzipation nicht erfunden werden, für die schlesischen Weberinnen schon.

  2. Hochzeit, Beelzebub und Teufel. Eine Kombi, die gar nicht so selten zu sein scheint. Der Schwiegervater macht mir schon mal keinen sonderlich sympathischen Eindruck. Aber das kann selbstverständlich auch erstmal eine falsche Fährte sein.

  3. Haha, da hat sich er Brautvater wohlmöglich geirrt. Die antiautoritären Kinderläden gibt es jedenfalls auch 2021 noch.

    1. Die antiautoritären Erziehung geht davon aus, dass der Mensch grundsätzlich gut sei und dass man das Kind sich selbst entsprechend seiner Natur entfalten lassen müsse. Wer’s glaubt, wird selig oder enttäuscht.

      1. So richtig macht die Idee ja auch keinen Sinn. Schließlich werden die ‚Kinder‘ in der Natur, also der Tierwelt, ja auch erzogen. Von ganz alleine entwickelt sich da nicht viel. Jedenfalls wird man keine großen Überlebenschancen haben.

      2. Es gibt ja auch ein Mittelmaß zwischen autoritär und anti-autoritär. Man kann Kindern die eigene Weltsicht aufzwingen oder sie zum eigenständigen Lernen und Leben ermutigen.

  4. Radikale Intellektuelle sind gegen die Ehe! Hahaha! So ein kleines bisschen habe ich bei Konservativen ja auch immer das Gefühl, dass sie sich einfach nicht allzu sehr mit Dingen beschäftigen wollen. Da wird konserviert was eh schon da ist und jeder weitere Gedanke ist unnütz.

    1. Da kann ich nicht zustimmen. Wenn überhaupt könnte man die These aufstellen, dass die Mehrheit der Leute sich generell nicht eingehend mit relevanten Themen auseinandersetzt. Man ließt meistens Artikel, die bestätigen, was man eh schon denkt. Das ist rechts, links und in der Mitte das selbe Prinzip.

      1. Linksintellektuelle lesen nicht die ‚Bild‘-Zeitung, Hilfsarbeiter nicht ‚Die Zeit‘. Akademiker sehen ‚arte‘, Bildungsferne’RTL2′.
        Klischees? Warum etwas tragen, was mir nicht steht. Andere Meinungen hinnehmen, ohne sie zu (be)achten: Da gehen Toleranz und Gleichgültigkeit ineinander über.

      2. Im Fernsehen bekommt man durch die unterschiedlichen Programme immerhin noch ein Gefühl dafür, dass es verschiedene Sichtweisen zu einem Thema gibt. Durch die Algorithmen in den sozialen Medien wird einem hingegen mehr und mehr vorgesetzt, was man entweder eh schon kennt oder was verwandt erscheint. Andere Meinungen werden zum Großteil herausgefiltert. Ich finde das durchaus gefährlich.

    1. Allerdings funktioniert Veränderung manchmal eben nur durch radikale Schritte. Im Zweifel rudert man nachher dann wieder ein wenig zurück und relativiert den ersten radikalen Einschnitt.

      1. Oha! So hart hätte ich das nicht formulieren wollen, aber da ist natürlich unbestreitbar etwas dran.

    1. Dass Laschet so unbeliebt zu sein scheint beruhigt mich etwas. Dass aber die meisten Deutschen am liebsten Söder als Kanzler hätten beunruhigt mich dagegen.

      1. Aufregendes wird vom zukünftingen Amtsinhaber (kaum -in) nicht kommen, sondern von außen. Wie wird dann seine Reaktion ausfallen? Feixen, aussitzen – oder ausfallen?

      2. Alles keine sonderlich wünschenswerten Optionen. Aber eine davon wird es sicherlich werden. Mehr erwarte ich mir wirklich nicht.

      3. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich erstaunt, dass man fast nichts davon mitbekommt, dass momentan Wahlkampf ist. Ein paar Plakate in der Stadt gibt es wohl und die Aufregung über die beiden veröffentlichten Bücher habe ich auch mitbekommen. Aber sonst?

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