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1.1 | Nichts Besonderes
Eine Schar Kinder läuft über das Feld,
barfuß, mit bunten Kerzen.
Der Wind bläst die Lichter aus.
Sie wirbeln auseinander.
Fühlst du dein Herz klopfen?
Er hustete.
––Sie malte sich die Lippen.
Er lag auf dem Bett und onanierte lustlos ein bisschen an sich herum.
––Prüfend betrachtete sie ihren Mund.
Die gleichförmige Bewegung ermüdete ihn, und er legte sich gelangweilt auf die Seite.
––Sie war zufrieden; zweifellos war sie nicht eitel, aber es schien ihr wichtig, gepflegt auszusehen.
Er hustete noch mal: Entweder hatte er gestern Abend zu viel geraucht oder er hatte sich draußen in der Nacht erkältet. Scheiße!
––Ein letztes Mal fuhr sie sich, fast mechanisch, durch die Haare: Die Frisur saß korrekt.
Er spuckte auf den Fußboden und schmiss sich mit einer ruckartigen Bewegung zur Wand.
––Sie nahm ihre Schlüssel vom Bord, griff ihre Handtasche, löschte das Licht im Flur, trat hinaus ins Treppenhaus und schloss ihre Wohnungstür ab.
Er tastete sich einen Kaugummi vom Nachttisch, ohne sich umzudrehen.
––Mit ruhigen Schritten stieg sie die Treppe hinunter, das regelmäßige Klappern ihrer Absätze im Ohr und eine Melodie, die sie beim Kaffeekochen im Radio gehört hatte.
Er knautschte schmatzend auf dem Pfefferminzgeschmack herum.
––Sie zog den Griff der Haustür, ging auf die Straße und trat ihren Weg zur Haltestelle an.
„Widerlich, dieses Kaugummi, zum Kotzen!“
––„Ein ekelhaftes Wetter, ich hätte doch besser den anderen Mantel angezogen und ein Tuch umgebunden, meine Frisur ist hin.“
Er klebte das Kaugummi unter die Bettkante.
––Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass es zu spät war umzukehren.
Er rülpste.
––Sie lief schneller.
Seine Nase war ziemlich verstopft, ganz klar: Erkältung.
––Sie hatte die Haltestelle erreicht und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
Wenn ihm nun die Nase laufen würde, statt … Gott, wie komisch!
––Der Bus kam, sie ließ eine alte Dame vorgehen, stieg ein, zeigte ihre Monatskarte, hielt nach einem Sitzplatz Ausschau, fand wie üblich keinen und stellte sich in den Gang, direkt vor einen Jungen, der sie aufsässig musterte und sitzen blieb.
Inzwischen bemühte er sich, in den Flecken auf der Tapete Gesichter zu sehen.
––„Flegel!“, dachte sie.
Er zog die Schlafanzughose hoch.
––Fünf vor acht hielt der Bus am Berliner Tor.
Seine Bettdecke klebte, weil ihm ein Glas Cognac umgekippt war, neulich.
––Sie ging über die Straße, betrat das Gebäude, grüßte den Pförtner und fuhr mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock.
Er dreht die Bettdecke um.
––Nachdem sie Frau Matthei Guten Morgen gesagt hatte, setzte sie sich an ihren Arbeitsplatz.
Er war wieder eingeschlafen.
––Um halb neun kam ihr Chef, sie stand auf und gab ihm die Hand.
Er träumte vom Fliegen.
––Ihr Chef verschwand in sein Zimmer, sie ging auf die Damentoilette, um Wasser zu holen.
In weichen Kurven schwebte er über die Stadt, die namenlos, beziehungslos unter ihm lag.
––Sie goss Wasser in die Kaffeemaschine und beantwortete die durch die geöffnete Tür gerufene Frage ihres Chefs.
Ein Kitzeln in der Magengegend: Er sank.
––Ihr Chef hatte die Unterlage nicht gefunden, sie ging zu ihm und griff das Papier aus dem Stapel, der rechts auf seinem Schreibtisch lag.
Die Erde kam näher, näher, aber er fürchtete sich nicht vor dem Aufprall.
––„Möchte wissen, wer das da hingelegt hat“, brummte ihr Chef eine schlecht gelaunte Unterstellung.
Er glitt in einen anderen Traum hinüber.
––Sie ging wortlos ins Vorzimmer zurück, nahm den Kaffeetopf, goss ihrem Chef und sich eine Tasse ein und brachte ihm seine Tasse mit einer höflich-freundlichen Floskel.
Er saß auf einem Boot, das über die Wüste segelte.
––Sie schlürfte von ihrem Kaffee und versuchte etwas zu entziffern, das sie gestern Abend auf ihren Stenoblock gekritzelt hatte.
„Quatsch“, dachte er im Schlaf.
––Der Bote kam mit der Post; sie sagte Guten Morgen, wobei sie nicht zu lächeln vergaß, sortierte die Umschläge und brachte ihrem Chef, was er sehen musste, mit ein paar netten Worten.
Er wachte auf, öffnete die Augen und sah deutlich die Fratze in einem der Tapetenflecke.
––Ihr Chef las den ersten Brief, schrieb etwas an den Rand und gab ihn ihr zur Weiterleitung.
Er hatte aufgehört, Gesichter zu sehen und dachte sich jetzt Foltermethoden aus.
Den nächsten Brief las er ihr laut vor, mit entrüsteter Stimme.
Jemandem den Rücken mit Nadelstichen durchsieben und dann Essig über die Haut gießen.
––Er diktierte ihr etwas mit leicht gerötetem Gesicht.
Jemandem den Kopf kahlscheren und die eigenen Haare in den Mund stopfen.
––Sie nahm in Steno eine interne Notiz über die Angelegenheit auf.
Jemanden in einer durchsichtigen Hängematte auf den Bauch legen und in ein nach oben gerichtetes scharfes, riesiges Messer sehen lassen.
––Ihr Chef hatte sich zu einem Rundschreiben durchgekämpft, über dessen Stil er sich lustig machte, indem er mit erhobener Stimme ein paar Stellen vorlas, die von mangelndem Ausdrucksvermögen zeugen sollten.
Und nun die Verankerung der Hängematte langsam lösen, ganz langsam.
––Sie lachte herzlich.
Er rekelte sich unter Prusten und Gähnen.
––Mit flinken Fingern schrieb sie auf ihren Stenoblock, was ihr Chef mit fester, selbstbewusster Stimme diktierte.
Er sprang mit einem Ruck aus dem Bett.
––„‚Obzwar‘?“, dachte sie, „das werde ich nachher in ‚obschon‘ umändern!“
Nicht gerade ordentlich, sein Zimmer – du lieber Gott!
––„Heute“, durchschoss es sie plötzlich, „heute!“
Er schob ein Buch mit dem Fuß beiseite.
––Sie hatte es doch die ganze Zeit gewusst, warum blitzte es auf einmal mit solcher Gewalt durch sie hindurch?
„Kacke!“, sagte er; er fand, das ließ sich besser aussprechen als ‚Scheiße‘, obwohl ‚Scheiße‘ sich besser denken ließ.
––Es war ja nichts Besonderes, sie würde natürlich nicht hingehen und – Schluss.
Er zog die Gardinen auf und sah, dass schlechtes Wetter war.
––Jetzt hatte sie einen halben Satz verpasst, aber sie würde ihn wohl rekonstruieren können.
Er öffnete das Fenster, es war kühl und nieselte.
––„Mit freundlichen Grüßen und so weiter“, sie nickte.
„Am Meer müsste man sein. Der graue Himmel, das graue Wasser, der salzige Sand – dann wären Sturm und Regen und alles egal“, dachte er.
––Ihr Chef wollte nach dem nächsten Schriftstück greifen.
Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah runter auf den tristen Hof.
––„Um halb zehn sind Sie bei Doktor Schneider“, erinnerte sie ihren Chef.
Über dem Hof aber sah er Dächer und über den Dächern eine Art Himmel: weich, grau, verlogen vielleicht, aber wenigstens nicht hart – eben weich und grau.
––„Ach ja, natürlich“, ihr Chef griff nach einem Plastikordner und blätterte ihn durch, schnell, aber aufmerksam, während sie ins Vorzimmer zurückging, um die Briefe zu tippen.
Er zog sich seine Jeans und das Hemd an, ein Paar frische Strümpfe, zur Feier des Tages.
––Als ihr Chef, die Mappe unter dem Arm, vorbeilief und die Tür knallte, sah sie kurz auf, eine reine Reflexbewegung.
Zur Feier des Tages … plötzlich war er nicht sicher, ob er die Kraft aufbringen würde, wenn es dazu käme.
––Das Telefon klingelte.
Einfach die Augen zumachen und – los!
––Sie nahm ab und sagte, dass ihr Chef nicht da sei.
Druck geben.
––Sie machte einen Termin für drei Uhr aus.
Ja, einfach abdrücken, sich fallen lassen, dann müsste es gehen.
––Während sie weitertippte, zwang sie sich, nur auf das Rattern der Schreibmaschine zu achten.
Aber wahrscheinlich würde es gar nicht dazu kommen.
––Eine eigentümliche Form von Aufregung stieg in ihr hoch und sie ärgerte sich darüber, weil sie wusste, dass es keinen Grund dafür gab.
Wenn doch … Vielleicht sollte er lieber ein bisschen aufräumen.
––Sie würde nicht gehen, bestimmt nicht.
Er stöberte wahllos in seinen Sachen herum, verschob, verrückte, stapelte.
––Dass sie sich überhaupt so weit darauf eingelassen hatte!
Als der Wasserkessel pfiff, war eine ihm eigene Form von Ordnung zustande gekommen.
––Bis zu einem gewissen Grade war es Nellys Schuld – hätte sie ihr damals nicht den Ausschnitt gezeigt …
Als er pinkelte, musste er grinsen.
––Natürlich Nelly, mit ihrer beneidenswert naiven Einstellung zum Abwegigen, für sie war es ein Spaß, etwas, das man belacht und vergisst, für Nelly …
Während er ein Brötchen kaute und die zähe Masse mit Kaffee herunterspülte, fragte er sich, ob er anspruchsvoll sei.
––Zweifellos hatte sie selbst es auch zum Spaß getan, aber trotzdem …
Er hatte einen besonderen Geschmack, also war er nicht anspruchslos.
––Es war beschämend, es war ungeheuerlich.
Natürlich, für gewisse Dinge konnte man sich bezahlen lassen.
––„Erpressung“, kam es ihr in den Sinn, „nicht auszudenken: ihr Beruf, ihre Kollegen, ihr Leben.“
Irgendwie fühlte er sich in der Falle.
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Die Zeit der Ringelblumen ist ohne Frage vorbei. Die Lesepause im Blog zum Glück auch. Ich wünsche einen schönen Sonntag in die Runde.
Zurück!
Der Kaugummi unterm Bett macht mir den Chef sofort unsympathisch. Aber ich sollte mich vielleicht nicht zu früh festlegen. Bei Rinke verschiebt sich der Blick auf die Situation meistens eh noch einmal.
Die Zeit der Kaugummis ist mittlerweile ähnlich vorbei wie die der Ringelblumen, oder? Ich sehe das jedenfalls viel seltener als in meiner eigenen Jugendzeit.
Ich nehme immer vier Extra Professionals auf einmal: zur Mundertüchtigung.
Herr Rinke, bitte verzeihen Sie, aber bei vier Kaugummies auf einmal würde ich meinen Kiefer aushebeln.
Die sind wirklich klein. Unzerkaut alle zusammen wie ein Dominostein und zerknautscht wie ein Bissen Kaiserschmarrn.
Mir ist der Kaiserschmarrn viel lieber. Wenn ich schon kaue, dann will ich auch schlucken, nicht spucken.
Versteh ich! Mein Hausarzt rät: Schokolade im Mund verteilen und dann ausspucken! Sei gesünder. Aber was man in den Mund nimmt, will man doch auch schlucken – Wörter und Körperteile ausgenommen.
Ich bin zwar selbst kein großer Kaugummifreund, aber der Kauer und Knatscher ist hier nicht der Chef sondern der Herr im Bett 😉
Der ‚Chef‘ ist Student. Ich hoffe, das ist kein Spoiler.
Ah der diktierende oder der von Michael Thiel als Chef wahrgenommene kauende?
Der Satz für Satz im Wechsel mit der Sekretärin agierende Mensch ist von Beruf Student. Der Chef der Sekretärin ist in seinem Beruf wesentlich bedeutender als in dieser Erzählung. Über seinen Kaugummikonsum weiß ich nichts.
dieses nebeneinander, wie es zu beginn beschrieben wird, das ist wirklich passend. genau so passieren solche morgen.
Ja, so ein Alltagsmorgen passiert mehr, als dass man ihn bestimmt: Routine. Nur in der Gegenüberstellung der beiden unterschiedlichen Protagonisten erzählenswert. (h. ist übrigens kein Pseudomyn von mir und – sowie ich weiß – nicht mit mir verschwägert.)
Oh, ich mag wie hier fortlaufend zwischen den beiden Perspektiven hin und her gesprungen wird. Man muss sich richtig konzentrieren damit man die jeweilige Person langsam vor seinen Augen entstehen lassen kann.
Ich fand es machte gleich Spaß den Text mehrmals zu lesen. Einmal wie gedruckt im Wechsel, dann nochmal die einzelnen Stimmen für sich.
So habe ich ihn auch geschrieben.
Sehr spannend geschrieben und die Charaktere gleich zu Beginn so griffig herausgearbeitet. Ich sehe beide Protagonisten fassbar vor mir und konnte mich sofort auf die Tagesabläufe einlassen. Sehr lebensah zu meinen Erinnerungen von meiner alten Arbeit als Chefsekretärin. Ich hatte einen unausstehlichen, besserwisserlichen, ständig rülpsenden Chef, der mich von überall anrief und nur die schrägsten Diktate durchgab. Aber vielleicht gehört es auch zur Chefsache unausstehlich zu sein.
Nee, man kann auch Chef sein ohne sich seinen Angestellten gegenüber blöd zu verhalten. Aber in dem Fall interessiert mich eh mehr was mit IHM und IHR passieren wird.
So soll es sein.
Ob Geschmack immer auch gleich Anspruch ist …?
Die beiden sind nicht unbedingt identisch, aber sicherlich sehr nahe Verwandte.
Man kann aber anspruchslos sein und trotzdem Geschmack haben. Erst recht kann man Ansprüche stellen und entsetzlich geschmacklos sein.
Wer anspruchslos ist verzichtet allerdings auf Geschmack und gibt sich mit allem zufrieden, was ihm vorgesetzt wird.
Na ja, Anspruchslosigkeit macht das Leben möglicherweise manchmal einfacher. Wer sich eher am Erfolg orientiert, der wird aber sicher mit einem gewissen Anspruch deutlich weiter kommen.
Anspruch auf etwas haben und Ansprüche stellen, das ist ja zweierlei. Ich denke, bei uns herrscht ein recht ausgeprägtes Anspruchsdenken.
In der Tat. Und die Ansprüche scheinen auch immer weiter anzusteigen. Was heute noch als Besonderheit wahrgenommen wird, gilt Morgen schon als selbstverständlich.
Corona zeigt: Wir haben nicht nur Anspruch auf Impfung, wir haben auch Anspruch darauf, mithilfe ausgeklügelter Marketing-Strategien aufgeklärt werden. Erst hat der Staat versagt, weil er nicht genügend Impfstoff geordert hat und dann, weil er uns nicht genügend anbettelt hat, uns den Impfstoff spritzen zu lassen. Aber zwingen soll er uns auch nicht. Armer Staat!
Und nun soll der Impfstoff gedeckelt werden => auch wieder nicht richtig. Es ist wirklich mühsam es allen recht zu machen.
Ziel ist ja auch vorrangig die Pandemie endemisch werden zu lassen. Nicht jeden happy zu machen.
Es wird über kurz oder lang eine Impfpflicht geben müssen. Ich sehe keinen anderen Weg der uns nicht noch über Monate im Fast-Lockdown hängen lässt.
Es hätte die Impfpflicht gleich geben müssen. Mehr dazu in meinem nächsten Runfbrief.
Man könnte einfach sagen, dass das Wort veraltet ist – aber ganz unabhängig davon klingt obzwar einfach grässlich.
Obschon obzwar grässlich ist, kann es zweifelsfrei als Alternative zu obschon und obgleich genutzt werden. Ich habe es aber auch seit langer Zeit nirgendwo gehört.
Der Witz ist, dass beides blöd klingt. Man sagt ‚obwohl‘ und muss nicht mal gendern.
Sie denkt an Erpressung. Er fühlt sich in der Falle. Gespannt wie es weiter geht.
Beide machen mich zumindest schon mal neugierig…
„Nichts besonderes“ ist die Art von Rinke-Überschrift, die einen mit großer Sicherheit in die falsche Richtung lenken. Es gab ja selten eine Erzählung, in der nichts Besonderes passiert wäre…
Es wird ein running gag werden.