„Ich habe die Grenze erreicht“, sagte Andreas. „Ich bin über alle Schatten gesprungen. Ich habe einen Gehirntumor. Unheilbar. Operation wäre zwecklos. – Klingt furchtbar, nicht? Furchtbar unecht! Erschrick nicht! Es stimmt ja nicht. Du bist nicht meine Frau, wenn man damit den Stempel und die Unterschrift des Standesbeamten meint. Hier!“ Er zog ihren Pass aus der Innentasche seiner Jacke und hielt ihn ihr hin.
––Sie griff hastig nach dem Pass und schrie: „Ich muss rein!“
––Er packte sie. „Warum schreist du?“
––Sie hielt ihren Pass umklammert. „Der Sturm!“ Sie versuchte, sich loszureißen. „Man hört kaum noch etwas.“
––„Wenn du nahe genug bei mir bist, kann ich dich hören, auch wenn du flüsterst“, sagte er.
––„Bitte, ich friere entsetzlich. Bitte lass mich los!“
––Er ließ die Arme sinken. „Die ganze Erzählung liegt in deiner Nachttischschublade“,
sagte er.
––Sie wandte sich um und ging auf die Tür zu.
––Er folgte ihr.
––Sie lief leicht gebeugt gegen den Sturm an. „Du wirst sie mir erzählen“, sagte sie. Ihre Stimme klang laut und tonlos. Der Wind verschluckte jede Nuance. Anette packte die Klinke und riss die Tür auf.
––Sie stiegen hinein. Die Tür flog hinter ihnen ins Schloss.
––„Nein“, sagte er, „du musst es lesen!“
––Sie antwortete nicht, sondern ging in die Richtung ihrer Kabine. Sie wunderte sich über sich selbst. Sie hatte sich und ihm einzureden versucht, dass sie wirklich seine Frau sei, nur weil sie plötzlich geglaubt hatte, ihn zu brauchen, ihn dringend zu brauchen, gleich unter welchen Umständen, gleich zu welchen Bedingungen. „Du hast die Schlüssel, nicht?“, fragte sie.
––„Ja. Willst du noch etwas trinken, um dich aufzuwärmen?“
––„Nein danke. Ich will gleich ins Bett.“

Das Schiff schwankte jetzt so stark, dass es ihr schwerfiel, das Gleichgewicht zu halten. Außerdem fühlte sie eine an Übelkeit grenzende Schwäche in sich aufsteigen. Sie fürchtete sich davor, mit ihm in einer Kabine zu schlafen, aber sie fürchtete sich noch mehr davor, allein zu schlafen.
––Die Menschen, die ihnen entgegenkamen, hatten leicht betretene Gesichter. Das Wetter hatte ihr Vergnügen getrübt.
––Andreas schloss die Kabine auf. Sie gingen hinein.
––Anette legte den Pass in ihre Handtasche.
––„Ich will, dass du eins weißt“, sagte Andreas, „ich liebe dich nicht. Ich liebe niemanden.“
––Anette starrte gedankenleer vor sich hin.
––„Lies es!“, bat er plötzlich. „Lies es jetzt! Gleich!“ Seine Worte klangen fiebrig, er betastete sie mit beschwörenden Blicken.
––„Nein.“ Sie hatte Angst vor diesen ausweglosen Schriften, vor der Endgültigkeit dessen, was er sich ausgedacht haben konnte. Anette begann zu zittern vor Kälte und Erschöpfung.
––Gegen das Bullauge wirbelte Regen: der aufgepeitschte Rhythmus eines verzückten Todestanzes. Das Meer unter ihnen sang, die Planken unter ihnen sanken, zusammen mit der Welt verschwand ihre Unwissenheit voneinander.
––Sie fielen sich in die Arme, sie spürten sich und Tränen zwischen ihren Gesichtern, von denen sie nicht wussten, wer sie geweint hatte.

In der Nacht wachte sie auf. Sie war gleich so wach, dass sie nicht sicher war, überhaupt geschlafen zu haben.
––Immer noch das heftige Schaukeln, der Sturm, das Meer. Aber durch das alles hindurch eine Stille, die die Dunkelheit zu sprengen schien.
––„Andreas!“, schrie sie. „Andreas!“ Sie griff nach dem Schalter.
––Licht. Die Wände brüllten auf sie ein, peitschendes Gelächter. Nein, nein, es war nur der Wind.
––Sie lag in einer Einzelkabine.
––Ihr Gepäck stand so, wie sie es gestern Mittag abgestellt hatte.
––Sie griff sich instinktiv an den Kopf und schloss die Augen. „Bitte nein, bitte nein“, flüsterte sie. „Ich muss es aushalten! Ich muss auch das noch aushalten!“ – Wir haben noch den Sekt aus seinem Kühlschrank getrunken, gestern Abend. Er muss mir ein Schlafmittel hineingeschüttet haben, während ich im Bad war. Darum bin ich auch so gelähmt im Kopf und auf so eine eigentümliche Art wach. Ein Schlafmittel, ja. Und dann hat er erst mich rübergetragen und dann meine Sachen. – Sie sprang aus dem Bett. Sie musste sich an der Wand stützen. Hastig riss sie den Morgenrock aus einem Koffer und taumelte in den Gang. 323, 321, 319. Sie pochte an die Tür. Sie klopfte lauter.
––Keine Antwort. Ohne Schlüssel ließ sich die Tür von außen nicht öffnen.
––Sie wankte den Gang entlang.
––Am Ende saß in einer Kabine der Steward. Es war ein anderer als am Nachmittag.
––„Oh, bitte“, sagte sie so beherrscht wie möglich, „meine Tür ist zugeschlagen, und ich habe keinen Schlüssel. Nummer 319.“
––Er stand auf. „Einen Augenblick!“ Er lief die Treppe hinunter, und sie zählte, um nicht denken zu müssen. Nach ein paar Minuten kam er mit dem Schlüssel zurück.
––Sie folgte ihm durch den Gang.
––Er schloss die Tür auf und machte Licht: Das Zimmer war leer, die Betten nicht bezogen.
––„Oh“, sagte sie, „ich habe mich geirrt.“ Sie klammerte sich an die Wand: „Ich … Ich weiß meine Zimmernummer nicht mehr.“
––Der Steward sah sie misstrauisch an. „Ist Ihnen nicht wohl?“
––„Doch, doch. Nur meine Zimmernummer … Ich habe nicht darauf geachtet. Ich hatte mir eingebildet, es war 319. Ein Irrtum. Es war ein Irrtum von mir. Ich habe eine Schlaftablette genommen wegen des Sturms. Ich bin das nicht gewohnt, wissen Sie. Darum bin ich ein bisschen … Ein bisschen verwirrt.“
––„Wie heißen Sie bitte?“, fragte der Steward.
––„Anette Tornsdorf“, es kam ihr mehr wie ein Wimmern als wie Sprechen vor.
––„Warten Sie bitte einen Augenblick, Frau Tornsdorf!“, sagte er und ging den Gang entlang zurück.
––Sie folgte ihm automatisch.
––Er wirkte vertraueneinflößend. Frisch gewaschenes Selbstbewusstsein und eine Glätte, die nicht schmerzt.
––Sie starrte ihn unverhohlen an.
––„Sie haben Nummer 328!“ Die gut geschulte Freundlichkeit seiner Stimme geriet leicht ins Wanken. Er lief wieder die Treppe hinunter und kam mit einem anderen Schlüssel zurück.
––Während sie hinter ihm herging, hatte sie die unsinnige Hoffnung, er würde Andreas’ Kabine aufschließen. Aber als er das Licht anknipste, erkannte sie das Bett, in dem sie eben noch geschlafen hatte, und ihre Sachen, ihre toten Sachen, die sie plötzlich hasste. Sie nickte. „Ja, das ist es.“
––„Kann ich sonst noch etwas für sie tun?“, fragte der Steward. Ein leichtes Lächeln erfasste seine Lippen, während die Augen sie vorsichtig musterten.
––„Danke“, sagte sie. „Danke, nein.“ Sie trat ein, ohne ihn noch einmal anzusehen und schloss die Tür hinter sich. Dann warf sie sich aufs Bett und weinte fassungslos. Sie konnte gar nicht wieder aufhören. Sie weinte, weinte, weinte, und es gab niemanden, der sie tröstete.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: PanicAttack (Frau, Kopf), Maridav (Frau, Körper), Elnur (Mann), Eky Studio (Bullauge), serdar_basak (Tür) | BOOCYS (goldenes Schild)

Hanno Rinke Rundbrief

32 Kommentare zu “4.4 | In der Kabine

    1. Ihre Phantasie scheint jedenfalls sehr rege zu sein. Ist Andreas nur in ihrem Kopf existent? Richard gar auch?

      1. Immerhin scheint die Fahrt mit dem Schiff real zu sein. Der Steward macht jedenfalls von alles Figuren den bodenständigsten Eindruck.

      2. Das ist natürlich auch nicht schwierig. So wenig wie er bisher vorkommt.

      3. Er scheint keine besonders wichtige Rolle zu spielen. Da macht’s ja Sinn, dass er weniger vielschichtig ist.

      4. Gibt es die selten oder ist das nur Vorurteil? Ich lasse mich gerne in einer passenden Erzählung eines Besseren belehren.

      1. Das kommt manchmal auch beides zusammen. Oder bzw. das Eine ergibt sich aus dem Anderen.

  1. Tränen, von denen sie nicht wussten, wer sie geweint hatte.
    Selbst wenn der Rest nur in ihrem Kopf stattfinden sollte … allein dieser Satz lohnt sich festzuhalten.

      1. Es kommt wie immer darauf an, was man daraus macht. Die eine kommt mit einer prallen Geschichte aus dem Supermarkt, der andere mit einer ermüdenden Schilderung von der Großwildjagd.

      2. Daneben ohne Frage, aber das heisst ja nicht, dass die Menschen, die so etwas machen, deswegen uninteressant sind. Ulrich Seidls ‚Safari‘ ist zum Beispiel ziemlich sehenswert.

      1. Offen bleibt aber trotzdem noch ob sie diese Pläne wirklich ausheckt um ihrem Unglück zu entkommen oder ob sich alles nur in ihrem Kopf abspielt. Quasi um das UNglück bearbeiten zu können.

      2. Ich dachte mittlerweile ist recht eindeutig, dass sich das Meiste in ihrer Vorstellung abspielt…

      3. Ihr selbst war es ja gar nicht mal so klar. Deswegen ja der Test mit dem Steward und der Zimmernummer…

      4. Ah das sind ja gute Neuigkeiten. Für Anette sowieso, aber natürlich auch für die Leser 🙂

      1. Und was den Autor angeht 😉 Haha! Schließlich hat der mit am meisten Spaß daran, die Leser mit der Handlung zu überraschen.

      2. Mein Freund Pali sagte immer: „Du bist zu sehr auf Effekte aus.“ Ich verstand ihn, habe in meinem Schreiben aber bis heute wenig daran geändert. (Ihm selbst kam es bei allem, was er sagte auf die Pointe an, und auch ich kann Erzählungen, die zu nichts führen, schlecht leiden, gerade weil man sie sich sehr oft anhören muss.)

      3. Abende mit nichtssagenden Unterhaltungen durchzustehen fällt mir immer schwerer. Meine Zeit wird mir dann doch zu schade. Belanglosigkeiten müssen ja wenigstens unterhaltsam sein.

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