Da war es wieder und plötzlich ganz dicht unter ihr: das Meer.
––Anette stand über die Reling gebeugt und starrte auf das Wasser, das in leichter Unruhe vibrierte: ein mildes Auf und Ab, das sie verwirrte, ohne ihr näher zu kommen.
––Schwindlig werden konnte einem davon. Die hypnotische Wirkung, die den Menschen bezwingt. Erst lähmt sie ihn, dann drängt sie ihn zu handeln: Hinunterspringen, dem Saugen, Ziehen nachgeben, dessen Macht nur dadurch zu brechen ist, dass man sich hinabstürzt. – Das war es.
––Drüben, auf der anderen Seite hätte sie noch das Winken sehen können und die lachenden Gesichter. Komisch, dass Menschen immer lachen, am Bahnhof, am Kai, dabei sind sie doch traurig. Oder ist Abschied etwas Lustiges?

Ich bin nicht verrückter als alle. Es hat mich nicht mehr mitgenommen, als es jeden andern auch mitgenommen hätte. Jetzt ist es vorbei. Wenn dieses Meer, wenn diese endlose Aneinanderreihung von Wellen hinter mir liegt, werde ich in Amerika sein, bei Richard. Ich winke nicht. Ich lache nicht. Ich weine nicht. Nichts, was ich zurücklasse, bedeutet mir etwas. Ich lasse niemanden zurück, der mir etwas bedeutet. Tote zählen nicht, und was an ihnen zählt, nehme ich mit. Richard freut sich auf mich. Er hat so lange auf mich warten müssen. Gleich, wenn ich da bin, werden wir heiraten.

Anette starrte auf das Wasser. Alles soll verschwinden. Der Hafen, die Stadt, die Küste, alles, alles! So gut ihr Lissabon auch gefallen hatte, sie war froh, dass ihr Aufenthalt nur kurz gedauert hatte. Denn diese Stadt gehörte auch zu der Welt, zu der sie nicht mehr gehörte. Es störte sie nicht, allein zu sein, allein zu reisen. Zum Teil mochten Benommenheit und Trotz die Ursache für ihre allgemeine Gleichgültigkeit sein, doch zum Teil war es auch ein neu gewonnenes Selbstvertrauen. Ich bin nicht verrückter als alle. Jetzt ist es vorbei.
––Ein Arm legte sich ihr um den Rücken.
––Sie fuhr herum.
––„Entschuldige. Hast du dich erschreckt?“ Der Mann war wahrscheinlich Anfang dreißig, etwas größer als sie und sah sehr sympathisch aus.
––„Wer sind Sie?“
––Er lächelte. „Rate mal! Dein Schicksal! Dein Verderben!“ Er lachte und zog sie an sich, um sie zu küssen.
––Sie wich zurück. „Was fällt Ihnen ein? Sind Sie wahnsinnig?“
––Der Mann stutzte. „Liebling!“, sagte er, „was ist los mit dir? Findest du es gut, unsere Hochzeitsreise mit so einem dummen Witz zu beginnen?“
––„Ich kenne Sie nicht!“, sagte Anette. „Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.“
––„Aber Liebling“, er sah sie an, immer noch liebevoll, aber scheinbar betroffen.
––„Woher kennen Sie mich? Ich habe Sie noch nie gesehen.“
––„Liebling, was soll denn das? Was versprichst du dir davon?“
––Sie zuckte hilflos die Achseln. „Sie müssen mich verwechseln“, sagte sie. „Es tut mir leid. Ich heiße Anette Tornsdorf. Ich wandere aus. Ich komme aus Düsseldorf und ziehe jetzt nach Boston, wo ich heiraten will.“
––„Anette, ist dir nicht wohl?“, fragte der Mann behutsam. „Komm, leg dich lieber einen Augenblick hin!“
––„Hören Sie“, sagte Anette ungeduldig, „mir ist sehr wohl. Ich habe Ihnen schon gesagt, es muss sich um eine Verwechslung handeln. Ich habe keine Lust, mir durch Sie diese Reise verderben zu lassen. Bitte hören Sie auf, mich zu belästigen, und nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich Sie nie zuvor gesehen habe und nie wieder sehen will!“ Sie wandte sich brüsk ab von seinem entsetzten Gesicht und ging zu ihrer Kabine. Erst im Gang fiel ihr ein, dass sie ihre Handtasche auf den kleinen Tisch gestellt hatte, unmittelbar neben ihrem Platz an der Reling. Sie lief zurück.
––Ihre Tasche war weg und der Mann auch.
––„Bleib jetzt ruhig!“, sagte sie sich, „ganz ruhig!“ Aber ihre Knie waren schon etwas wacklig, als sie quer über das Deck rannte. Sie öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter.
––Der Mann kam ihr entgegen. Er hatte ihre Tasche in der Hand.
––„Geben Sie mir sofort meine Handtasche zurück!“, sagte sie.
––Er hielt sie ihr hin. „Du hast sie stehen gelassen. Ich wollte sie dir gerade bringen.“
––Sie nahm die Tasche wortlos und lief an ihm vorbei. Als sie unten war, fiel ihr ein, dass ihre Kabine ja oben lag. Nur weil sie möglichst schnell von dem Mann hatte wegkommen wollen, war sie in die verkehrte Richtung gegangen. Sie stieg die Treppe wieder hinauf. Vorhin hatte sie gar nicht darauf geachtet, welche Nummer ihre Kabine hatte. Sie öffnete ihre Handtasche und holte den Schlüssel heraus. 319. Sie ging den Gang entlang. – Zu blöde. Man stellt seine Handtasche eben nicht einfach in die Gegend …
––Zwei Kinder kamen ihr lachend entgegen.
––311, 313, 315. Eigentlich hatte sie gedacht, ihre Kabine müsste auf der anderen Seite liegen, aber sie war wohl mit den Koffern aus der entgegengesetzten Richtung gekommen. 319. Sie schloss die Tür auf.
––Es war eine Kabine für zwei Personen. Der Mann lag auf dem einen Bett.
––„Was machen Sie hier?!“
––„Ich ruhe mich aus von deinen Kapriolen“, antwortete er.
––„Das ist meine Kabine“, sagte Anette.
––„Dann legen Sie Ihren Schlüssel neben meinen auf den Nachttisch und gehen Sie raus!“
––„Sie haben meinen Schlüssel vertauscht!“, schrie sie. „Geben Sie mir sofort meinen Schlüssel zurück!“
––Er sprang auf, stieß sie in den Raum und knallte die Tür zu. „Jetzt hab’ ich aber genug!“, brüllte er. Er schlug ihr heftig ins Gesicht. „Hör auf, die Verrückte zu spielen! Ich finde das nicht komisch. Wenn du allein sein willst, dann sag mir das vernünftig, und wenn du eine Kabine für dich haben willst, dann fragen wir den Steward, ob er noch eine frei hat.“
––„O Gott, er ist wahnsinnig“, stammelte sie. „Warum muss ausgerechnet mir das passieren? Hab’ ich nicht genug durchgemacht in der letzten Zeit?“
––‚Was sie redet, ist egal‘, dachte er. – Aber was denkt sie? Was glaubt sie wirklich?
––Sie öffnete ihre Handtasche und begann, aufgeregt zu kramen. „Sie haben meinen Pass gestohlen!“, schrie sie. „Sie haben mir meinen Pass gestohlen!“
––„Sag mal, willst du die Komödie wirklich so weit treiben? Hast du auch deinen Pass versteckt, damit ich deine Identität nicht beweisen kann?“
––Sie drehte sich wortlos um und lief hinaus.
––Kurz darauf klopfte es an die Kabinentür.
––Andreas öffnete.
––Sie starrte ihn an, mit bleichem, wutverzerrtem Gesicht.
––Er erkannte sie kaum wieder.
––Ein Steward stand neben ihr.
––„Anette“, sagte er, „was ist los? Kannst du uns das nicht ersparen?“
––„Ich kenne den Mann nicht!“, schrie sie.
––Der Steward sah Andreas zweifelnd an. „Die Dame behauptet, Sie hätten ihr Gepäck in Ihre Kabine geschafft und ihren Schlüssel weggenommen“, sagte er akzentfrei. Offenbar war er Deutscher.
––Andreas lächelte entschuldigend. „Meine Frau ist etwas überanstrengt“, sagte er. „Bitte verzeihen Sie! Hätten Sie eventuell noch eine Einzelkabine frei?“
––„Ja, wir sind nicht voll ausgebucht“, antwortete er.
––„Ich kann das nicht aushalten“, Anette stiegen die Tränen in die Augen. „Ich habe zu viel durchgemacht in der letzten Zeit.“
––Andreas zog sie an sich. „Beruhige dich!“, flüsterte er. „Es ist ja alles gut.“
––Sie weinte an seiner Schulter, während Andreas’ Arm fremd und tröstlich auf ihrem Rücken lag.
––Er nickte dem Steward zu und gab ihm ein Trinkgeld.
––Der Steward machte eine leichte Verbeugung und verschwand eilig.
––„Komm!“, sagte Andreas. Er zog sie in die Kabine und schloss die Tür.
––Sie ließ sich auf das unbenutzte Bett fallen und begann hemmungslos zu schluchzen. Endlich weinte sie, weinte, wie sie in den ganzen letzten Wochen nicht hatte weinen können, als sie, vom Schmerz ausgetrocknet, ihre Reise vorbereitet hatte.
––Andreas saß neben ihr und streichelte sie. Zärtlich, beruhigend.
––‚Er ist gut zu mir‘, dachte sie. ‚Er wird mir nichts tun.‘ Sie beruhigte sich ganz allmählich, drehte sich auf den Rücken und sah ihn an. „Wie heißen Sie?“
––Er lächelte, wie man nachsichtig über das mit allzu großem Eifer betriebene Spiel eines Kindes lacht. „Andreas“, sagte er. „Ich heiße Andreas, und du bist meine Frau.“

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Roman Samborskyi (Mann), PanicAttack (Frau), Vereshchagin Dmitry (Schiff) | ann_ounce (Bordkarte)

Hanno Rinke Rundbrief

35 Kommentare zu “4.1 | Eine Seereise

    1. Ich hätte auch erwartet, dass wir noch lesen, wie dieses „Playdate“ ausgeht. Aber im Grunde ist es wirklich schon klar, was zwischen Carola und Christoph passiert.

      1. Es wird wohl beim Spielen bleiben. Bei unserer neuen Protagonisten scheinen die Einsätze höher zu sein.

      2. Ja das Gefühl hatte ich auch sofort. Die Situation scheint hier deutlich ernster zu sein. Oder zumindest liegen die Nerven schon zu Beginn ein wenig blank. Bei ihr auf alle Fälle.

  1. Solche Wassermengen können wahnsinnig beeindruckend sein. Da merkt man immer wie klein man als Mensch eigentlich ist.

      1. Sie scheint neben der Spur, aber ihr Mann(?) macht auch einen seltsamen Eindruck. Man muss wohl erstmal abwarten wie sich das entwickelt.

      2. Denken kann man sich vieles, wissen nichts. Das ist im wahren Leben ärgerlicher als im Buch, in dem man noch hoffen kann, dass zumindest der Autor bescheid weiß.

    1. Na er müsste jedenfalls ein äußerst ausgefuchster Betrüger sein, wenn er den Schlüssel zu „ihrer“ Kabine hat und den Steward so einfach überzeugen konnte.

      1. Oh ein Trickbetrüger-Pärchen! Das wäre natürlich eine Erklärung des Ganzen.

      2. Es wäre sicher auch eine ziemlich spannende Geschichte. Aber ob es so kommt? Andererseits wer ist Andreas, wenn sie eigentlich zu Richard will?

    1. Vor allem bleibt wieder die Frage wer von beiden dieses Mal mit verklebten Flügeln am Strand enden wird.

      1. Wir sind ja erst im ersten Kapitel. Lustig wird es wahrscheinlich nicht, aber es ist ja nun wirklich noch zu früh um die Situation wirklich einschätzen zu können.

      2. Wenn ich an die ganzen der Not gehorchenden Besatzungen aus Fernost denke, fürchte ich, dass die meisten Seefahrten gar nicht lustig sind.

      3. Die Seefahrten sind ja meistens auch eher für die zahlenden Gäste amüsant (Flüchtlinge, die horrende Summen an Schleuser zahlen, zählen hier selbstverständlich nicht zu). Aber auch hier kann es natürlich zu Verstimmungen kommen. Beispielsweise wenn sich COVID über das Bordbuffet verbreitet oder das Wetter nicht mitspielt.

      1. Auch wenn die Bewertung schwierig ist: Die meisten Menschen sind einfach nicht verrückt genug. Es müsste halt bloß die richtige Richtung sein.

      2. Na das ist wirklich mal etwas wo ich zustimmen muss. Eine Prise mehr Verrücktheit würde vielen gut tun.

      3. Sind sie nicht alle schon ziemlich verrückt? Aber Sie meinen sicher eine andere Art des Verrücktseins.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

19 − vier =