Christoph war jetzt allein.
––Die Sonne stach. Die Luft war reglos. Die Erde fieberte.
––Christoph atmete die Hitze ein. Seine Haut brannte.
––Von den Mimosensträuchern quoll ein weicher, einschmeichelnder Geruch herüber. Irgendetwas wie Gefräßigkeit lagerte oberhalb der Palmen und Ziegel, durchsichtig im Grell des Hochsommernachmittags. Wesenlos, das Fehlen von Schatten, von Konturen, von Greifbarem. Um den Kern herum schwamm alles Zögern aufgelöst, Dunst. Und der Kern, der kleine gläserne Punkt, blitzte störrisch und schneidend. Anteilnahme ist, selber zu leiden: Protest gegen Unrecht. Auflehnung gegen eigenes Schicksal.
––Christoph starrte auf die blendend weiße Wand und übte den gnadenlosen Blick, mit dem man Frauen einredet, dass man sie heute noch will.
––Chico begann, leise zu winseln.
––„Ach sei ruhig!“, sagte Christoph.
––Der Hund erhob sich und zog an der Leine.
––„Halt’s Maul, Köter!“
Chico machte ein paar unbändige Sprünge und begann, hemmungslos zu bellen.
––„Blödes Vieh!“, sagte Christoph und ging auf den Hund zu. „Erst zeigst du ganz deutlich, was du willst, und markierst den skrupellosen Draufgänger, dann kneifst du vor ihr, wenn sie nur die Hand hebt und bettelst um Gnade. – Das ist mies, mein Lieber, ganz mies!“ Er beugte sich hinunter.
––Chico packte seinen Arm mit den Vorderpfoten und leckte über seine Hand.
––„Ach was, ich trau’ dir nicht!“, sagte Christoph.
––Der Hund sprang vor ihm auf und ab, reckte die Schnauze in die Luft, ließ die Zunge hin und her gleiten, wedelte mit dem Schwanz und scheuerte sich unter wohligem Knurren an seinen Waden.
––Christoph streckte die Hände nach dem Körper, nach dem Kopf, nach den Beinen, er spürte warmes, seidiges Fell.
––Der Hund passte sich den Bewegungen an, entwand sich seinen Griffen, beugte sich unter Christophs Händen, schnellte herum, leckte und sog an seinen Fingern und rieb den Kopf an Christophs Beinen. Ein plötzliches Scheppern ließ Chico herumfahren. Mit zwei Sätzen war er am anderen Ende seines Radius und bellte rau gegen die Tür.
––Die blecherne Glocke läutete zum zweiten Mal.
––Der Hund riss an der Kette und kläffte heiser.
––Christoph ging durch das Wohnzimmer in den Flur und sah durch die Gitterstäbe des offenen Fensters nach draußen.

Ein junger Mann, mit dunklem Lockenkopf und schmalem Gesicht, in verwirrend weißem Jeansanzug. Erstaunen schwamm hinter den langen Wimpern. „Aaa …“, machte er, ein schwer deutbarer Laut der Überraschung, vielleicht der Verlegenheit, bevor er in hastigem Spanisch eine Frage stellte, von der Christoph nur ‚Señora Benedikt‘ verstand.
––„No“, sagte er.
––Sie sahen sich eine Sekunde lang an, dann zuckte der Spanier die Achseln und murmelte ein paar Worte, während er mit gesenktem Kopf davonging. An der Gartenpforte drehte er sich noch einmal um und bemerkte, dass der Ausländer sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Er zuckte wieder die Achseln und verschwand hinter der Mauer.
––Christoph atmete tief durch. Plötzlich hatte er Lust, das Meer zu sehen. Er zog sich ein Hemd über, holte seine Schlappen und schlurfte den staubigen Weg hinunter zum Strand.
––Es war wirklich nur ein ganz kurzes Stück, vorbei an schmerzend weißen Mauern, die von duftendem Gestrüpp überragt wurden. An den Häuserwänden wucherten Blüten. Äste und Zweige, mit Farben übersät, gesprenkelt, griffen nacheinander, nach Ziegeln, nach Steinen.
Christoph schleppte sich vorwärts: Die Luft stand, drückend, lastend, sengend. Stumpf blinkender Schotter, rissige Erde. Das Schweigen der menschenlosen Landschaft, in das sich allmählich Meeresrauschen hineinfraß.
––Und da war es, das Meer: leer, flach, weit. Weiter als der unbeschränkte Himmel über dem flüssigen Horizont. Wellen gegen den Strand. Wellen, Wellen: schäumend, drängend, versichernd, drängend, schäumend. Die gleichmäßigen, beharrlichen Stöße eines entschlossenen Liebhabers. Der Strand allerdings war eine Enttäuschung: kleinere und größere Steine, ein graues, breites Band, glühend heiß und öde.
––Christoph überquerte das trostlose Geröll, zog sein Hemd aus, schlüpfte aus den Schlappen und tastete sich zögernd vor. Wachsam betrachtete er das Meer wie einen Gegner.
––Das Wasser spülte zu ihm hin, lockend, drohend. Spritzer loderten um seine Füße. Die wuchtige Phalanx der Wellen kämpfte gegen ihn an. Gischt und rauschendes Kriegsgeschrei. Salzig, bitter.
––Seine Knöchel verschwanden im Brodeln. Der Boden geriet mehr und mehr in Bewegung, tat sich auf, krümmte sich, zahllose feindliche Kuppeln, Gräben, Berge, Täler. Dicht vor ihm wölbten sich die Wogen, kühl und berauschend.
––Da riss er die Arme hoch, warf sich nach vorn und schwamm mit schnellen Stößen hinaus.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Mockup Cloud (Mann), Roman Samborskyi (Kopf der Figur im weißen Anzug), Apollofoto (Körper der Figur im weißen Anzug), Graffixion (Glocke), Chansom Pantip (Blumen), LIAL (Papier) | cynoclub (Hund),

Hanno Rinke Rundbrief

31 Kommentare zu “3.5 | Brandung

  1. Die Gegend, in der Carola da lebt, wird so lebendig, man könnte fast meinen sie gehört neben ihr selbst und Christoph zu den Hauptcharakteren.

    1. um den hund geht es ja wirklich nicht. aber, dass er das tier gleich mit köter anspricht klingt trotzdem nicht so nett.

      1. So etwas kann auch Zärtlichkeitsform sein. Ich habe schon Eltern gehört, die ihre Kinder als ‚kleine Scheißer‘ bezeichteten. Nicht mein Stil. Aber auch wir haben früher anerkennend gesagt: „So ein richtiges Stück Dreck!“ Gemein ist halt manchmal ganz geil.

  2. Es macht auf jeden Fall schon wieder Lust auf Urlaub. Am besten fern ab von Pandemie und Mund-Nasen-Bedeckungen.

      1. Die 7-Tage-Inzidenz ist mit 2.156,5 in Spanien gerade viermal so hoch wie in Deutschland. Just saying…

      2. So richtig glücklich scheint sie nicht zu sein. Aber so richtig unglücklich wiederum auch nicht. Ich warte noch ein paar Kapitel mit meiner Einschätzung.

  3. Señora Benedikt scheint immerhin zu versuchen glücklich zu sein. Eine Garantie, dass das auch klappt, gibt es ja leider nicht.

    1. Was soll sie denn auch anderes tun? Alleine dort unten in Spanien? Mehr als ihr Glück versuchen kann sie ja nicht.

      1. Nein, mehr als ihr Glück versuchen, kann sie nicht. Wäre aber in Oslo genauso – und selbst im Sauerland, umringt von Verwandten. Das Glück muss in der Entscheidung liegen.

      2. Eben. Deshalb finde ich es ja ganz logisch, dass sie im sonnigen Spanien bleibt. Die Probleme sind ja eh überall dieselben. Weglaufen ändert dann auch nichts.

    2. Eine Garantie gibt es höchstens bei Haushaltsgeräten. Selbst ungeimpfte Stars können nicht sicher sein, dass man ihnen alles durchgehen lässt, jedenfalls nicht in Australien.

      1. Naja, er war ja schon immer mehr eindrucksvoller Sportler als ein Sympath. Ob sich durch die Australien-Sache wirklich so viel ändert?

      2. Tja, falls er tatsächlich seinen Test gefälscht hat um ohne Impfung einreisen zu können, wäre seine Karriere sicher erstmal ziemlich gestoppt.

      3. Tja, nun muss er ausreisen. Seiner Karriere wird das aber auch nichts anhaben. Als 20-maliger Grand Slam Champion braucht man sich wohl keine Sorgen über so etwas machen.

      4. Djokovics Chutzpe imponiert mir fast: „Ich bin ein Star, lasst mich hier rein!“ Aber die Konsequenz der australischen Regierung imponiert mir noch mehr.

      5. Ich fand es auch recht beeindruckend wie er versucht hat sich einfach mit Gewalt an den Regularien vorbeizudrücken. Richtig, dass die Australier dagegen halten!

  4. Vielleicht hilft diese ‚feindliche‘ Meereslandschaft Christoph ja zu sich selbst und ein bisschen mehr Ruhe und Entspanntheit zu finden.

      1. Oder Carola und Christoph finden sich. Aber ich habe nicht so richtig das Gefühl, dass sie eine ähnlich schöne Zeit erleben würden wie die Hauptdarsteller, der letzten Geschichte. Obwohl es selbst da ja kein wirkliches Happy End gab.

      2. Die Buchtitel ‚Niemals und auch dann nicht‘ und ‚Die Zeit der Ringelblumen ist vorbei‘ sprechen nicht wirklich für ein Happyend im Heimatroman-Sinne.

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