„Nein, vielen Dank, wirklich nicht! Ich krieg’ keinen Bissen mehr runter. Es war wirklich ausgezeichnet, aber jetzt muss ich aufhören, sonst schlafe ich ein.“
––Carola lächelte geschmeichelt.
––Der Kerzenschimmer und das Alter gaben ihr etwas Geheimnisvolles; ein Zauber, der besonders an Abenden wie diesem zur Geltung kam und von vier Gläsern Sangria eher gedämpft als unterstrichen wurde.
––Sie saßen eine Weile wortlos und träumten in den Abend, der auf der Terrasse ausruhte für den Trubel der Nacht.
––„Herrlich ist es hier“, sagte Christoph.
––Sie nickte. Und plötzlich fühlte sie, dass ihre Chance darin bestand, dass er vielleicht nicht die Führer- und Beschützerrolle übernehmen wollte.
––Grillen begannen zu zirpen.
––Christoph war etwas benommen. Nicht ganz zufrieden, nicht ganz verwegen. Träumen und im Traum handeln. Lippen. Nur Lippen spüren wollen. Kein Eindringen, kein Weitermüssen. Nur Lippen, zärtlich und voll, die warme Berührung der Schwinge eines Vogels, der gleich aufsteigen könnte und doch bleibt, an nichts gebunden, aus freiem Entschluss, jede Sekunde ein Geschenk. Diese Lippen spüren und den Wein, der durch sie hindurchglitt, ahnen, was hinter ihnen schlummert, lauert, drängt.
––„Ich will noch mal in den Ort.“ Christoph war aufgesprungen, fast gewaltsam.
––Carola blinzelte. „Gut, ich hol’ mir nur schnell eine Jacke.“
––„Nein, nein“, sagte er hastig. „Verzeih mir! Ich muss einen Augenblick allein sein. Nur ein Spaziergang. – Es war alles so viel, so neu … Sei mir nicht böse!“
––Eine Sekunde lang war sie wie gelähmt vor Enttäuschung. Dann lächelte sie. „Aber natürlich, das ist doch ganz klar. Ich kann dich gut verstehen. Falls ich schon schlafe, wenn du zurückkommst, schließ bitte die Haustür ab!“
––„Oh, ich bleib’ nicht lange. Nur eine halbe Stunde oder so …“
––Carola nickte und griff nach einer Zigarette. „Viel Spaß!“, sagte sie.

Wie glitzernder Modeschmuck. Wertlos, aber effektvoll. Als wäre der Himmel auf Proportionen bedacht, so schienen die Sterne verstreut. Flackernde Punkte. Einverstandenes Zwinkern, das durch den Abstand der Lichtjahre zu eigenartiger Würde erstarrte.
––Christoph watete durch eine Landschaft aus Düften. Vielleicht war er betrunken. Vielleicht war er unglücklich. Es war doch später geworden, und er war nicht sicher, ob er das Haus wiederfinden würde.
––Die Sträucher sangen in Gerüchen. Ganz still war die Dunkelheit. Der Ort lag hinter ihm. Weit. Tot. Wesenlos.
––Er hatte nichts gewonnen, aber – letzten Endes – auch nichts verloren.
––Das Haus.
––Er erkannte die Umrisse. Er sah die Pforte, den Steinweg. Leise drückte Christoph die Klinke. Vorsichtig tappte er in den Flur.
––Hinter der Tür zum Wohnzimmer schimmerte ein schmaler Lichtspalt. Eigenartig verhaltene Geräusche drangen heraus. Hecheln und dumpfes Schlagen.
––Die Wellen brachen sich grell. Schneidend, blendend, tobend. Jedes Mal, wenn sich das Wasser überschlug, heulte es gepeitscht auf. Ein Blitz aus Gischt und Gewalt, gierig, gefräßig, ein Ziehen, Würgen. Aufgelöster Wirbel, der alles zerstörte in tosender Wiederholung. Wegspült, fortreißt, vernichtet. Abgründe klafft, Hügel türmt, Mahle, Schächte, Gräber.

Ein Vogel mit verklebten Flügeln. Er schwimmt erschöpft: auf den Kämmen, in den Tälern. Sein Flattern bleibt erfolglos. Einsam auf den Wellen, gegen die Wellen, die ihn tragen und überrollen. Stumm kämpft er gegen die Bewegung an, fügt sich, lehnt sich auf, gibt nach. Schwimmt. Das Meer und der Himmel. Morgen liegt er am Strand.

Christoph öffnete die Tür.
––Der Raum badete in warmem Licht.
––Carola lag im langen, grünen Kleid auf dem Boden und flüsterte eine unverständliche Melodie von Worten. Mit beiden Händen umfasste sie Chico, der ihr in gebremster Erregung das Gesicht leckte.
––Als Christoph das Zimmer betrat, drehte der Hund sich um. Er blieb mit offenem Maul stehen, am ganzen Leib vibrierend. Carola riss den Oberkörper in einem Ruck hoch. „Oh!“ Langsam stand sie auf. Mit einer wirren Bewegung strich sie die Haare zurück und fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht. Sie stöhnte eigentümlich, während sie sich auf Christoph zu bewegte. Dabei sah sie sehr schön aus. Sehr zerbrechlich.
––Er ging lautlos an ihr vorbei und kniete neben dem Hund nieder, der ihm seine feuchte Schnauze entgegenhielt.
––„Er will spielen“, sagte sie hilflos, „immer will er spielen.“
––Christoph drehte den Kopf nach ihr um, ganz langsam. Und plötzlich lächelte er. „Wenn ich ehrlich bin – ich auch … – Olé!“

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Wellnhofer Designs (Frau Kopf), FashionStock.com (Frauenkörper, grünes Kleid), Mockup Cloud (Mann, Kopf), Viorel Sima (Mann, Körper), steamroller_blues (Hund), OoddySmile Studio (Papier), Susan Schmitz (Badewanne) | alitellioglu (Vogel)

Hanno Rinke Rundbrief

33 Kommentare zu “3.7 | Spielen

  1. Ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass Carola und Christoph in irgendeiner Art zusammenfinden. So langsam merke ich, dass der Punkt in dieser Begegnung gerade ist, dass sie es nicht tun.

      1. Ich versuche jedes Mal wenn ein toller Film ins Kino kommt meine Erwartungen zurückzuschrauben. Klappt fast nie. Ich bin meistens enttäuscht.

      2. Das Beste ist man liest keine Kritiken, schaut keine Trailer, sondern lässt sich einfach überraschen.

      3. So ganz aufs Geratewohl lasse ich mich bei Kino-Filmen nicht ein. Ich lese immer bis knapp vor dem Spoiler, worum es geht, dann habe ich genug getan, um die Enttäuschung in Grenzen zu halten. Beim Zappen im TV kann man sich dagegen überraschen lassen. Nur muss man manchem Zeit geben, um zu wirken (auf Tele5 und RTL2 eher selten).

    1. Carola tut mir aber auch ein wenig Leid. Schließlich scheint sie trotz ihres komfortablen Lebens dort in Spanien jemanden zu suchen, der sich um sie kümmert.

      1. Es macht am Ende tatsächlich den Anschein als wäre er nicht abgeneigt. Mit 25 Jahren scheint Christoph noch sehr unklar darüber zu sein, was er eigentlich will. Sein Flirten scheint jedenfalls eher ziellos als freigebig.

    1. Ja und so langsam scheint das Alter doch im Mainstream akzeptiert zu werden. Jedenfalls finde ich es toll, dass gerade mit Kyle MacLachlan und Jeff Goldblum zwei Männer über 60 für Prada auf dem Laufsteg standen. Und zwar ziemlich gefeiert.

      1. Ältere Männer sieht man ja schon lange als sexy an. Aber was ist mit älteren Frauen? In der Werbung und in Hollywood sind sie doch immer noch schwer benachteiligt.

      2. Ich finde das sind sowohl bei Frauen wie bei Männern immer noch die Ausnahmen. Auf Instagram wird selbst bei 25-jährigen retuschiert was das Zeug hält. Zeichen des Alters snd unsexy.

      3. Ageism ist das eine. Aber der Jugend ihre Qualitäten absprechen zu wollen eine ganz andere Frage.

      4. Man kann von Insta und TikTok ja auch halten was man will, aber innere Werte lassen sich nunmal schlecht in 60sek. Videos vermitteln. Autoren veröffentlichen ihre Werke ja auch selten auf Twitter.

  2. Oh, da ist der Vogel mit den verklebten Flügeln wieder! Dieses Mal passt das ja wirklich gleich wie die Faust aufs Auge.

    1. Bei Christoph bin ich mir diesmal auch wirklich nicht sicher ob er am Ende der Erzählung am Strand angespült wird oder ob er sich nochmal freischwimmen kann.

      1. Er ist ja noch so jung. Was auch immer ihn beschäftigt … wäre schade, wenn er sich nicht davon befreien könnte.

      2. Vor allem wo er eigentlich nur spielen will. Er ist ja noch gar nicht so richtig im Ernst des Lebens angekommen.

      3. Das habe ich auch gedacht. Er scheint offen für jede Gelegenheit zu sein, die sich im bietet.

      4. So sehr viele Gelegenheiten bieten sich ihm ja gar nicht. Im Ort hat es ja wohl auch nicht so richtig geklappt. Weder mit dem Außenseiter Miguel noch mit den Insidern der Clubs.

      1. Hmmm, bei Gregor und Mark ging es ja um vieles ruhiger zu. Es gab keinen großen Knall. Aber ein happy end gab es da natürlich auch nicht.

      2. Bei G&M gab es immerhin eine Chance. Hier scheint das unhappy ending unausweichlich. Ich glaube das ist der Unterschied.

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