„Was soll ich machen?“, fragte Anette. „Soll ich auf Ihr Spiel eingehen?“
––Er sah sanft aus. Hinter der Offenheit seines Gesichts lag der Ernst, mit dem man ein Geheimnis hütet – sein eigenes und das der anderen. Der Wille zu schützen, das Wissen, schutzlos zu sein. Gefährdung und Zerbrechlichkeit strömen eine eigenartige Kraft aus, vielleicht ist es auch nur ein Reiz. Der Sog, der erst lähmt und dann verführt zu handeln. Hinunterspringen, dem Saugen, Ziehen nachgeben, dessen Macht nur dadurch zu brechen ist, dass man sich hinabstürzt. – Das war es. Auf dem Meer. Allen Küsten fern. Im Meer. Wasser, nach allen Seiten hin, von allen Seiten her.
––„Andreas“, sagte sie. „Andreas.“

Sie saßen nebeneinander auf dem Deck und sahen das Meer glitzern, hörten es durch das Motorengeräusch des Schiffes, durch die Musik, durch das Schwatzen und Lachen der Passagiere hindurch. All die Menschen und ihre Vergnügungen waren ferner als das feine, unnachgiebige Schlagen des Wassers gegen die Planken.
––„Ich werde in meiner Kabine übernachten“, sagte sie.
––Der Himmel war sternklar. Die Luft begann kühl zu werden.
––„Warum?“, fragte er.
––Sie seufzte. „Was soll ich morgen anziehen?“
––„Tagsüber ist es egal. Am Abend fände ich das dunkelblaue Kleid mit den weißen Blüten schön. Zum Wochenende putzen sich bestimmt alle noch mehr auf als sonst.“
––„Woher habe ich das Kleid?“
––„Du hast es mir nie erzählt. Du hattest es schon, bevor wir uns kennenlernten.“
––„Kennen wir uns schon lange?“
––„Liebling, komm, hör auf damit!“
––„Warum bist du erst in Lissabon zugestiegen?“
––„Du bist ja auch erst in Lissabon an Bord gegangen. Wir sind von Düsseldorf nach Lissabon geflogen und haben uns ein paar Tage lang die Stadt angesehen.“
––„Zusammen?“
––„Natürlich zusammen.“ Er küsste sie zärtlich auf die Stirn. „Wir machen doch alles zusammen.“
––„Kostet es Sie Überwindung, mich zu küssen?“, fragte sie. „Ich weiß, ich bin hässlich.“
––„Du bist nicht hässlich“, sagte er. „Und der Schmerz macht dich noch schöner.“
––‚Macht Schmerz schön?‘, fragte sie sich. – Beruht darauf seine Schönheit? Er leidet. Durch meine Schuld? – „Sie tun mir leid“, sagte sie. „Vielleicht wäre ich wirklich gern Ihre Frau. Ich weiß es nicht.“

Eine Gruppe kam lachend herausgelaufen. Eine Frau kreischte, weil ein Mann ihr ans Ohr griff. Ein anderer zeigte auf das Meer. Sie hatten Gläser in der Hand. Als sie Anette und Andreas bemerkten, zogen sie sich wieder zurück. Eine der Frauen sah sich noch einmal prüfend nach ihnen um, als wollte sie ergründen, ob sie ein Liebespaar waren oder sich nichts mehr zu sagen hatten.
––Das Schiff schaukelte sacht. Eine Stimme sang übermütig. Zwei Matrosen unterhielten sich in sprudelndem Portugiesisch.
––Andreas stand auf und sah auf Anette herunter. „Du machst es schon ganz gut“, sagte er.
––„Was?“, fragte sie.
––„Es ist wirklich recht gut so. Und sehr begabt. Ehrlich gesagt, ich hätte dir das gar nicht zugetraut.“
––„Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte Anette. Furcht stieg in ihr auf, Furcht vor einer Situation, der sie sich nicht gewachsen fühlte.
––„Er muss sich einfach von dir scheiden lassen, wenn du das bei ihm genauso schaffst.“
––„Was? Meinst du Richard?“ Sie merkte plötzlich, dass sie Andreas duzte.
––„Ja natürlich.“ Er lachte. Es klang siegessicher, unbarmherzig. Aber vielleicht war es nur ‚jungenhaft‘. Die Schadenfreude, wenn ein Streich gelungen ist.
––„Richard liebt mich“, sagte sie. „Er wird sich nicht von mir scheiden lassen.“
––„Anette, du weißt gar nicht, wie gut du bist. Welches Talent du hast! Warum wirst du nicht doch Schauspielerin? Du beherrschst alle Register.“
––Woher wusste er, dass sie Schauspielerin hatte werden wollen? Das Triumphierende in seinem Blick gefiel ihr nicht. Sie hatte ihn anders lieber gemocht.
––„Ich weiß, du hörst die Wahrheit nicht sehr gern“, sagte er. „Aber es ist gefährlich, sich so in seine Ideen zu verstricken? – Man verliert den Faden, man verfängt sich und erstickt.“
––Da war es wieder: Dieses Wissen, dieser Blick, dieses Unvermögen.
––„Andreas“, sagte sie. „Andreas!“
––Er nahm ihre Hand und ging vor ihr in die Knie. „Es wird nicht lange dauern“, flüsterte er. Sein Blick und seine Stimme hatten etwas Bannendes. Die hypnotische Wirkung, die den Menschen bezwingt. Erst lähmt sie ihn, dann zwingt sie ihn zu handeln: Hinunterspringen, dem Saugen, Ziehen nachgeben, dessen Macht nur dadurch zu brechen ist, dass man sich hinabstürzt. – Das war es.

––„Er wird sich von dir scheiden lassen, noch in den Flitterwochen.“
––„Bist du sicher?“, fragte sie.
––„Ganz sicher. Stell dir doch mal vor: Du sagst ihm plötzlich, du kennst ihn nicht, du hast ihn noch nie gesehen. Und das auf der Hochzeitsreise! Am ersten Tag! Er muss doch verrückt werden. Oder dich für verrückt halten.“
––„Aber ich werde schuldig geschieden“, sagte Anette. „Ich sitze da, habe nichts von seinem ganzen Geld und …“
––„Ach wo! Du machst doch auch den Trick mit den Pässen. Er kann nicht beweisen, dass du seine Frau bist. Er wird verrückt. Wenn ihr am ersten Hafen seid, zeigst du deinen Pass vor und sagst, du wüsstest gar nicht, was er will, natürlich seist du seine Frau. Was meinst du, wie schnell der sich scheiden lässt! Der lässt sich schuldig sprechen und zahlt dir einen Haufen Geld, wenn er dich nur loswird. Und dann können wir uns alles leisten, was wir wollen. – Aber wir haben das alles doch schon längst besprochen.“
––„Glaubst du wirklich, dass wir glücklich werden mit dem Geld?“
––„Aber Anette, was ist los mit dir?“ Er sah sie völlig verblüfft an. „Wieso sollten wir glücklich werden? Seit wann kommt es dir darauf an? Wir werden die Möglichkeit haben, so zu leben, dass wir Eindrücke und Erfahrungen sammeln können. Überall. Kein Land und keine Gesellschaftsschicht wird uns verschlossen bleiben. Darauf kommt es an! Keine Schranken, die nur der Geldmangel errichtet und die spielend zu überwinden sind, wenn man Geld hat. Er wird großzügig sein. Richard muss großzügig sein. Wir haben eben beide Talente, die nicht viel Geld einbringen, aber die sehr viel Geld verschlingen, wenn man sie ausreichend fördern will. Und wir wollen sie doch fördern, nicht? Darauf kommt es an, nur darauf. Das weißt du doch!“
––„Ja, ja, ja!“ Sie schrie es, sie weinte es fast. „Mein Gott, ich weiß es doch selbst. Aber muss ich ihn denn heiraten?“
––„Aber Anette!“, seine Stimme war zärtlich und erregt. Er sah sie an, mit einem Blick, der sie abschirmte von allem anderen, dieser Blick, der sie schützte – vor allem, außer vor dem bezwingenden Druck, den er auf sie ausübte. „Das weißt du doch! Wie sollen wir es denn sonst schaffen? Welche Art von Unschuld willst du dir erhalten? Es geht nicht um das, was man sich erhält, sondern um das, was man sich erwirbt.“
––Sie nickte. Sein Gesicht tanzte vor ihren Augen.
––Ein mildes Auf und Ab, das sie verwirrte, ohne ihr näher zu kommen. Schwindlig werden konnte einem davon. Das Meer, dieses unablässige Schaukeln, das Geräusch, der Geschmack in der Luft.
––Sie fröstelte. Es begann, windig zu werden.

„Hat Richard das eingefädelt?“, fragte sie. „Hat Richard von dir verlangt, dass du dieses Spiel mit mir spielst? Will er auf diese Art von seinem Versprechen loskommen, nachdem er mich jahrelang gedrängt hat, erst, als er in Europa war, und dann von Amerika aus. Hat er eine andere gefunden? Es gibt einfachere Mittel! Er könnte mir sagen, dass er zu alt für mich ist, zu unansehnlich, zu beschäftigt. Und ich könnte ihm nur sagen, dass er Geld hat und dass ich mir eingebildet habe, er liebt mich. Wozu also braucht er dich?“
––Andreas stand auf. Sein Haar wehte im Wind. „Das passt doch nicht!“ Seine Stimme klang ein bisschen beleidigt. „Das lässt sich doch nicht anwenden. Treib es nicht zu weit! Du wirst es schwer genug haben, dich auf deine Aufgabe zu konzentrieren.“

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: Roman Samborskyi (Mann), PanicAttack (Frau), nuwatphoto (Geländer), s-ts (Geldscheine) | Mikhail Turov (Kleid), Olaf Simon 8Mar (Margerite)

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “4.2 | An Deck

  1. Ob Schmerz schön macht? Ein seltsamer Gedanke, finde ich. Es kann natürlich vorkommen, dass der Beschützerinstinkt anspringt, aber Schönheit wird dadurch doch nicht beeinflusst.

    1. Vielleicht meint er auch ihre Verletzlichkeit. Andererseits kann es aber auch einfach nur ein weiterer Trick sein, um sie mit seinem Charme zu überzeugen.

      1. Ist das wirklich wahr? Reichtum macht das schön sein bzw. bleiben ohne Frage einfacher. Aber ohne allzu kitschig werden zu wollen … wer innerlich nichts anzubieten hat, wer charakterlich hässlich ist, dem nützt das doch nicht viel.

      2. Ärgerlicherweise macht Reichtum nicht schön, bietet aber mehr Möglichkeiten, sich kosmetisch, kleidungsmäßig zu verbessern (gelingt auch nicht jedem/r). Bettelarme Menschen aber bleiben nur im Märchen hübsch und heiraten den Prinzen.

      3. Ich musst gerade an Harald Glööckler und seinen AUftritt im Dschungelcamp denken. Aber gut, jeder soll natürlich machen was er/sie will.

      4. Ich glaube die Zeit, in der man über das Dschungelcamp mitreden wollte, ist doch schon seit Jahren vorbei. Mittlerweile wiederholt sich das alles nur noch mal mit neuem Personal.

  2. Ach du grüne Neune! Na wer macht denn nun wem etwas vor? Man weiss gar nicht was Wahrheit und was Schein ist! Eine faszinierende Ausgangssituation!

  3. Wäre Anette diejenige, die den anderen etwas vormacht … das wäre ja ein Ding. Aber dafür spielt Andreas etwas zu glatt mit.

  4. Na wie jetzt? Seit wann kommt es darauf an glücklich zu werden? Die Mittel und Wege sind natürlich für jeden etwas anders. Aber welches Ziel sollte es denn sonst geben?

    1. Da gibt es doch viele. Manche(r) möchte zum Beispiel ‚etwas‘ hinterlassen. Zum Beispiel seinen Namen in den Geschichtsbüchern in Job, Politik oder Kunst sehen.

      1. Glück ohne Geld liegt nicht jedem … Anderen wieder ist ‚Glück‘ ein zu banales Wort. Wer schon Zufriedenheit ‚Glück‘ nennen kann, hat Glück gehabt.

      2. Für Glück gibt es ja so viele Definitionen und Ideen wie es Menschen gibt.

  5. Mich würde ja auch mal interessieren was es mit diesem Richard auf sich hat und welche Vorgeschichte dahinter steckt …

  6. Das erinnert mich an diesen alten Michael Caine Krimi „Sleuth“ – da kehrt sich die Situation auch so oft um, dass einem schwindelig wird.

      1. Beim Ukraine-Konflikt glaube ich mittlerweile nicht mehr an eine komplett friedliche Lösung. Russland agiert ja schon seit Jahren aggressiv.

      2. Kann man sich einen Eroberungskrieg in Europa noch vorstellen? Aber die Beschlüsse der Wannseekonferenz (gestern im TV) – das hätte man sich auch nicht vorstellen können. Das Unvorstellbare passiert manchmal. Deshalb unausgesetzt in Sorge zu sein, ist auch nicht lebbar.

      3. Man kann sich nicht ständig Sorgen. Mann muss sich zumindest auch erstmal darauf verlassen, dass die Politiker eine Lösung finden werden. Schließlich ist das ihr Job und Diplomatie ist zu kompliziert, als dass ich mir darüber den Kopf zerbreche.

  7. Was für ein verwirrendes Szenario. Es macht richtig Spaß sich den Kopf darüber zu zerbrechen was hier wahr ist und welche Fährte die richtige ist.

  8. Ich muss fast zustimmen: Das passt doch nicht. Jedenfalls passt es noch nicht zusammen. Ich warte auf MIttwoch…

      1. Wunderbar. So soll es sein. Ich freue mich wirklich immer sehr auf die neuen Kapitel, Herr Rinke!

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

fünf × drei =